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Filmkritik "The Card Counter"

Schuld und Sühne

Filmkritik "The Card Counter": Schuld und Sühne
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Paul Schrader hat das Drehbuch für "Taxi Driver" geschrieben und dann selber Filme wie "Light Sleeper" gedreht. In seinem neuen Werk "The Card Counter" fügt er seiner Galerie einsamer Helden einen weiteren hinzu: den Kartenspieler William Tell.

Der Mann, der sich William Tell nennt, spielt Poker. Er ist ein Profi, kann sich alle Karten merken, zieht von Casino zu Casino. Aber er ist nicht auf den großen Coup aus, er häuft nur so viele Chips an, dass er kein Misstrauen erweckt. Dann verlässt er den Tisch, löst seinen Gewinn ein, geht raus und setzt eine Sonnenbrille auf. So dass nun alles an ihm dunkel ist: die akkurat nach hinten gekämmten Haare, die schwarze Lederjacke, die Krawatte. Seine kargen Motelzimmer "sterilisiert" er sofort, hängt alle Bilder ab und überzieht die Möbel mit weißem Tuch. So als wolle er sich aus der Welt holen und verschwinden im großen Nichts.

Doch es funktioniert nicht. Im Schlaf wird er von seiner Vergangenheit heimgesucht. Szenen von einem höllischen Ort tauchen auf, von langen Gängen in krankem Gelb, von Gefangenen, die nackt oder in orangefarbenen Overalls am Boden kauern, von Hunden bedroht, von Uniformierten geschlagen. Ein Alptraum, inszeniert in einer langen Kamerafahrt mit verzerrter Perspektive und unterlegt mit einem infernalisch-dissonanten Sound. Der Regisseur Paul Schrader verdichtet in dieser Sequenz all jene Bilder, die 2004 aus dem US-Folter-Gefängnis Abu Ghuraib an die Öffentlichkeit drangen. Die Geschichte von William Tell in "The Card Counter" ist also immer grundiert von der Geschichte seines Landes.

"Im Laufe der Jahre", sagt der 75-jährige Paul Schrader, "habe ich mein eigenes Filmgenre entwickelt, in dem es typischerweise um einen Mann geht, der allein in einem Raum sitzt und eine Maske trägt, und diese Maske ist sein Beruf." Schrader fährt fort: "Er könnte ein Taxifahrer, ein Drogendealer, ein Gigolo oder ein Pfarrer sein, und ich nehme diese Figur und stelle sie in den Kontext eines viel größeren persönlichen oder gesellschaftlichen Problems ...". Die Figuren, auf die Schrader anspielt, sind Robert de Niros verwirrter Vietnamheimkehrer im Film "Taxi Driver" (1976), für den Schrader das Drehbuch schrieb; Willem Dafoes schlafloser Pusher in "Light Sleeper" (1992); Richard Geres arroganter Callboy in "Ein Mann für gewisse Stunden" (1980); Ethan Hawkes geplagter Pfarrer in "First Reformed" (2017). In den drei letztgenannten Filmen führte Schrader auch Regie.

Ein Schuldgeplagter, der die Gefängnisroutine mochte

Nun reiht sich der Schauspieler Oscar Isaac ("Dune") als William Tell in die Reihe dieser einsamen und gequälten Helden ein. Ein Mann des Minimalismus, der aus dunkelbraunen Augen auf die Welt blickt und hinter dessen unbewegt ernster Miene es zu arbeiten scheint. Ein Darsteller, der also wie geschaffen ist für einen schuldgeplagten Mann, der das Leben schwer nimmt und schwer nehmen muss. Achteinhalb Jahre saß William Tell wegen seiner Abu- Ghuraib-Taten im Gefängnis – im Voice-over, einem prägenden Stilmittel des Film noir, kommentiert er rückblendende Szenen von immergleichen Tagen in Grau-in-Grau-Räumen: "Ich mochte die Routine."

Auf William Tells Rücken sind die Sätze "I trust my life to providence, I trust my soul to grace" eintätowiert, also Sätze, in denen das Leben und die Seele der Vorsehung respektive der Gnade anvertraut werden. Einmal sieht man ihn auf seiner Zellenpritsche liegen, er liest Marc Aurel, den letzten der großen Stoiker. Und stoisch lebt er auch sein Leben nach dem Gefängnis weiter. Was andere als Freiheit bezeichnen würden, wird ihm zum selbstgewählten Eingeschlossensein. Eine freiwillige Abkapselung, mehr noch: eine Nichtteilnahme am Leben. Selten hat man im Kino einen so leidenschaftslosen Pokerspieler gesehen. Einmal fragt ihn die schwarze Spielervermittlerin La Linda (Tiffany Haddish), die ihn lange beobachtet hat: "Wenn du nicht wegen des Geldes spielst, warum dann?" Und er antwortet: "Da vergeht die Zeit."

Tatsächlich wirkt es so, als warte William Tell auf etwas, unbewusst, also auch ohne zu wissen worauf. Es passiert dann tatsächlich etwas, was ihn aus seiner Routine weckt. Zum einen die Sache mit La Linda, die ihm ein Geschäftsangebot macht, aber auch persönlich von ihm fasziniert ist und hinter seine Fassade schauen will. Und dann die Sache mit seinem sadistischen Ex-Vorgesetzten Gordo (Willem Dafoe) in Abu Ghuraib, der damals ungeschoren davonkam, Karriere machte bei einer Sicherheitsfirma und nun für Überwachungs-Software wirbt. Bei einem Vortrag ist William Tell unter den Zuhörern – und auch der junge Cirk (Tye Sheridan). Sein Vater sei auch in Abu Ghuraib gewesen, sagt Cirk, sei als familienzerstörendes Wrack zurückgekehrt und habe schließlich Suizid begangen. Gordo sei Schuld.

Minimalismus, Kitsch und ein Rumoren

"Ich will ihn fangen, foltern, töten!", sagt Cirk und bittet William Tell um Mithilfe. Der aber sagt: "Hör damit auf. Ich hatte dieselben Gedanken. Sie fressen dich auf!" Wenn er sich nun um den jungen Mann kümmert, den er Kid nennt, auf seine Pokertouren mitnimmt und retten will, dann ist das auch der Versuch, seine eigene Schuld abzutragen und zu sühnen. Eine Lösung in Paul Schraders Kosmos der traumatisierten Helden, wenn es denn eine gäbe, wäre immer auch eine Erlösung. William Tell jedenfalls wird durch seine neue Aufgabe zugänglicher, ja, er hat sogar ein Date mit La Linda. Händchenhaltend schlendern die beiden durch ein nächtliches Märchenland, und alles ist in diesem Gegenbild zur weißumhüllten Einsamkeit der Motelzimmer so atemberaubend glitzerbunt, dass der Kitsch schon beinahe umkippt in Transzendenz.

Das Milieu der Hotelfoyers, Bars und Casinos dagegen mag teuer aussehen, aber in Schraders Betrachtung entwickelt es keinen Glanz. Es sind gesichtslos-sterile und austauschbare Nicht-Orte, an denen dann auch keine glamourösen Pokerpartien steigen. Auch wenn William Tell hie und da aus dem Off erklärt, wie er spielt und was gerade abläuft, geht es hier nie ums Ganze wie in James-Bond-Abenteuern oder in Spielerfilmen wie "Cincinnati Kid" (1965) und "Der Clou" (1973). Schraders Film spielt manchmal an auf denkwürdige Pokerpartien, aber er spielt nicht mit! Und als es doch mal so aussieht, als strebe eine Partie einem Höhepunkt zu, unterläuft Paul Schrader mutwillig und kühl die Erwartungen und steigt einfach aus.

Und noch ein Genre wird in "The Card Counter" quasi entmythologisiert: das Road Movie. William Tell fährt zwar durch die USA, aber das Versprechen des Genres, dass es hinterm Horizont immer Neues zu entdecken gibt, erfüllt sich nicht. Hier geht es hinterm Horizont einfach weiter wie vorher. Ob ihm dieses Leben denn gefalle, fragt William Tell seinen Schützling Cirk. Es sei immer das Gleiche, es sei langweilig, sagt der. Der Film selber aber ist dies nicht. Mit seinem getragenen Tempo, seinen eleganten Kamerabewegungen und seinen intensiven Bildern wirkt er fast hypnotisch, zumal in ihm auch stets die Gefahr eines gewalttätigen Ausbruchs rumort. Der Regisseur sagt: "Mein Ziel ist es, einen Riss im Schädel der Zuschauer zu erzeugen, der eine Kluft aufreißt zwischen dem, was sie sich von meinen Figuren wünschen und erwarten, und dem, was sie fühlen, nachdem sie Zeit mit ihnen verbracht haben." Nein, einen Blockbuster-Film kriegt man mit solchen Absichten nicht hin. Aber einen Paul-Schrader-Film. Und das ist gut so.


Paul Schraders "The Card Counter" kommt am Donnerstag, 3. März in die deutschen Kinos. Ob und wo in Ihrer Nähe der Film zu sehen ist, sehen Sie hier.
 


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