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"Silver Skates"

Im Winterwunderland

"Silver Skates": Im Winterwunderland
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Auf Netflix ist der opulente Liebesfilm "Silver Skates" zu sehen, der um 1900 in St. Petersburg spielt. Bevor wir mehr über dieses Märchen erzählen: ein paar Worte zum deutsch-russischen Verhältnis.

In Russland wurde gerade gewählt. Das weiß man. Aber in Russland ist auch gerade Deutschlandjahr! Wie? Sie haben noch gar nichts davon gehört? Ob das daran liegt, dass in unseren Medien über dieses Deutschlandjahr, das die "Vielfalt der deutsch-russischen Beziehungen erlebbar machen will", so wenig berichtet wird? Nun, ein bisschen doch, zum Beispiel in öffentlich-rechtlichen Kulturmagazinen, die sich dabei aber eher als Kulturverhinderer gerieren und einen Austausch mit Russland in Frage stellen. Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer ("Wir wollen nicht zurück in die Zeiten des Kalten Krieges"), der zur Eröffnung einer "Romantik"-Ausstellung in die Moskauer Tretjakov-Galerie gekommen war, wird von der 3-Sat-"Kulturzeit"-Moderatorin unterstellt: "Mit Besuchen in Russland gewinnt man im heimischen Sachsen immer Sympathie." Das Deutschlandjahr-Logo – zwei abstrahierte und sich an den Händen haltende Figuren – wird von der "Kulturzeit"-Kamera übrigens so aufgenommen, als sei es ein Absperrband.

Schon ein Jahr zuvor hatte das ZDF-Magazin "Aspekte" der Stiftung Preußischer Kulturbesitz nahegelegt, diese solle eine geplante Ausstellung in St. Petersburg platzen lassen: "Kann dieser Museumsdialog angesichts der Repression jetzt einfach so weitergehen?" Ja, meinte allerdings Michail Piotrowski, Direktor der Eremitage: "Gerade in solchen Situationen sind Museen eine Art Brücke zwischen den Menschen." Aber dies sind leider Zeiten, in denen nicht die Brückenbauer, sondern die Brückeneinreißer den Ton angeben. In diesen Zeiten wird man schon als naiver Putin-Versteher oder böse Russenfreundin denunziert, wenn man an die Entspannungspolitik eines Willy Brandt erinnert.

Global umschauen lohnt sich

Ja, in diesen Zeiten wird tatsächlich verlangt, als "echter" Demokrat vor der Nato, diesem politisch, militärisch und auch ökologisch desaströsen Bündnis, quasi verbal strammzustehen. Was übrigens die Führungsmacht der Nato angeht, also den Guantanamo-Betreiber und Drohnenmörder USA, sollte man doch mal die extrem eingeengte Wir-sind-die-Guten-Sicht ablegen und sich global umschauen. Der "Guardian" hat zum Beispiel eine Umfrage der Latana Polling Company in 53 Ländern zitiert, derzufolge 44 Prozent glauben, dass in ihrem Land die Demokratie von den USA bedroht wird – und nur 28 Prozent an eine russische Bedrohung glauben. Als größte Bedrohung der Demokratie haben 64 Prozent übrigens die ökonomische Ungleichheit genannt.

In diesen Zeiten, in diesem Jahr, gab es im deutsch-russischen Verhältnis auch ein Jubiläum. Kein zu feierndes, nein, aber eines, das zum Gedenken hätte Anlass geben müssen. Am 22. Juni 1941, also vor achtzig Jahren, überfielen deutsche Truppen die Sowjetunion und entfesselten einen Krieg, dem 27 Millionen SowjetbürgerInnen zum Opfer fielen. Für die Bundesregierung und den Bundestag aber ist das kein Grund für eine Gedenkveranstaltung, man dürfe sich wegen solcherart Historie auch keine Hemmungen in Sachen aktueller Russlandkritik auferlegen, so hieß es im Bundestag, dessen Präsident Wolfgang Schäuble sowieso die "ungeteilte Erinnerung an den gesamten Verlauf des Zweiten Weltkriegs" bevorzugt. Auch Außenminister Heiko Maas will hier nicht von SowjetbürgerInnen oder RussInnen sprechen, sondern lieber von Opfern aus "Mittel- und Osteuropa". Nur Bundespräsident Walter Steinmaier nimmt an Gedenkveranstaltungen teil, spricht davon, dass sich die Bundesrepublik der Erinnerung lange verweigert habe: "Es ist an der Zeit, das nachzuholen."

Am 21. Juni 2021 erinnert die "Stuttgarter Zeitung" in einem sachlich-historischen Artikel an den Überfall von Hitlers Truppen vor achtzig Jahren. Am 22. Juni, also am Gedenktag selber, erscheint ein Leitartikel zur Eröffnung des Berliner Museums zu Flucht und Vertreibung (!), in dem von den Traumata der aus dem Osten geflohenen Deutschen erzählt wird. Die Worte "Russland" oder "Sowjetunion" kommen darin nicht vor. Auch in einem zwei Tage vorher erschienen langen Museumseröffnungs-Text derselben Autorin finden sich keine RussInnen als Opfer, wohl aber als Täter: "Und da sind die Bilder toter Frauen, die von Soldaten der russischen Armee 1945 zu Tode vergewaltigt wurden." Mag sein, dass das Vertriebenenmuseum, das laut deren Direktorin Gundula Bavendamm eine "Lücke in der deutschen Erinnerungskultur" schließe, nicht revanchistisch ist, auch wenn ein so belastetes Eröffnungsdatum Fragen aufwirft. Die alle russischen Opfer ignorierenden Texte der "Stuttgarter Zeitung" – für die Russland auch nicht zu Europa gehört – zu diesem Vertriebenenmuseum will man von diesem Vorwurf nicht freisprechen.

Robin Hood auf Schlittschuhen

Wie sich Russland an diesen Krieg erinnert, zeigen zum Beispiel die Filme "Iwans Kindheit" (1962) und "Komm und sieh" (1985) von Andrej Tarkowski und Elem Klimov. Beide erzählen von durch die grausam wütende Nazi-Vernichtungsmaschinerie traumatisierten Kindern, erzählen also von den Ursachen und sozusagen der Vorgeschichte zu Flucht und Vertreibung der Deutschen. Und wer will, kann sich jetzt auf Netflix auch "The Last Frontier – Die Schlacht um Moskau" (2020) ansehen, in dem ein letztes russisches Aufgebot die Hauptstadt gegen deutsche Aggressoren verteidigen will. Wer aber genug hat von Nazis und Krieg und deutschen Erinnerungsverweigerern, der findet bei Netflix auch eine visuell opulente und hochromantische Geschichte, die zum Jahreswechsel 1899/1900 in St. Petersburg spielt und in der sich der arme junge Matvey (Fedor Fedotov) in die adlige junge Alice (Sonya Priss) verliebt.

"Silver Skates", so heißt diese von Michael Lockshin inszenierte russische Produktion, die auf einer holländischen Vorlage basiert, auch ein bisschen an Geschichten von Charles Dickens erinnert und, Balkonszene inklusive, an Romeo und Julia. Und außerdem, weil diese Love Story ja Klassengegensätze überwinden muss, an das Liebespaar in "Titanic". Bloß dass hier kein Eisberg wartet, sondern das Eis schon da ist. Die vereisten Kanäle von St. Petersburg als Winterwunderland! Der rotbäckige Lockenkopf Matvey ist zunächst als kufenflitzender Torten-Zusteller zu sehen, der bei einer Lieferung von einer wappenverzierten Kutsche blockiert und dann von seinem Arbeitgeber gefeuert wird. Er schließt sich einer diebischen Schlittschuhbande an, deren charismatischer Anführer Alex (Yuriy Borisov) allerdings das Wort Diebstahl zurückweist. Man nehme nur etwas von den Reichen, denen ihr Reichtum sowieso nicht gehöre.

Die Kanäle, Brücken, Paläste und Säle der Weltkulturerbestadt St. Petersburg bilden die prächtige Kulisse für eine mit Witz und Schwung (und Musik unter anderem von Debussy) erzählte Geschichte, die zwar nicht in Richtung Revolution drängt, aber doch auf Reform aus ist. Alice will Chemie studieren und muss sich deshalb gegen ein frauenfeindliches System durchsetzen, repräsentiert unter anderem von ihrem Vater, der erklärt: "All unsere Probleme: weil wir aufgehört haben, unsere Kinder zu schlagen!" Matveys Nebenbuhler Arkadiy (Kirill Zaytsev), als Polizistenführer gleichzeitig dessen Verfolger, gesteht der verehrten Alice, er "fühle so eine Leere", und sie rät ihm schnippisch: "Das sollten Sie mit einem Arzt besprechen." Zu Matvey sagt sie: "Du hast dich nicht zufällig in ein Mitglied der feindlichen Klasse verliebt?"

Dies ist eine Geschichte im Geist der aufgeklärt-frechen Operette, die Klassen und Geschlechter versöhnen will. Aber natürlich auch, weil das so einfach zu dieser Zeit ja nicht geht, ein Märchen, in das man hineinsinken kann wie in ein warmes Wellness-Bad. Ein Märchen, das jedoch über sich Bescheid weiß und ganz bewusst nicht das bietet, was möglich war, sondern das, was man sich wünscht. Gut vierzig Jahre nach der Handlungszeit von "Silver Skates", genauer: vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, wurde das damals Leningrad genannte St. Petersburg von der deutschen Wehrmacht belagert und ausgehungert. Eine Million tote Zivilisten. Einer von ihnen war ein älterer Bruder von Wladimir Putin.


Michael Lockshins "Silver Skates" ist jetzt bei Netflix zu sehen.


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