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Kunst am Bonatzbau

Der Bahnhof als Attrappe

Kunst am Bonatzbau: Der Bahnhof als Attrappe
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Just im Hegel-Jahr ist das Hegel-Zitat vom Stuttgarter Hauptbahnhof verschwunden. Gleich daneben klafft dafür jetzt ein Loch. Und über der Kleinen Schalterhalle prangt in roter Leuchtschrift der Schriftzug "Brasilien". Zumindest Letzteres hat mit Kunst zu tun.

In Berlin brauchte es 2007 einen Orkan, damit sich ein Stahlträger aus der Fassade des neu erbauten Hauptbahnhofs löste. In Stuttgart steht der Bahnhof seit rund 100 Jahren, die Mauern haben trotz Bombentreffern den Krieg überstanden. Doch nun brechen plötzlich über Nacht ein paar Steine aus der Fassade (mehr dazu hier). Doch wo ist das Hegel-Zitat hingekommen? "… dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist." Es befand sich gleich links neben der Bruchstelle und ist 2020 – just zu Beginn des Hegel-Jahrs, 250 Jahre nach der Geburt des Philosophen in Stuttgart – wieder in der Versenkung verschwunden. So gedenkt Stuttgart seiner großen Geister.

Im Zuge der Proteste gegen den Bahnhofsumbau hatten Befürworter den Gegnern das Zitat aus der "Phänomenologie des Geistes" unter die Nase gerieben: Da seht ihr mal, eure Furcht vor dem Großprojekt ist schon der Irrtum selbst. Heute fürchten sich wohl nur die Projektpartner davor, ihren Irrtum eingestehen zu müssen und damit für das Debakel auch finanziell verantwortlich gemacht zu werden. Deshalb distanziert sich Bahnchef Richard Lutz nur im Konjunktiv und die Stadt Stuttgart und der Regionalverband machen erhebliche Verrenkungen, um nicht eingestehen zu müssen, dass der U-Bahnhof zu klein ist.

Konzeptkünstler Kosuth: Seitenhieb auf die Kunstaka

Hegel selbst ging es um das Wagnis einer neuen Philosophie. Der Künstler, von dem die Inschrift am Bahnhof stammte, wollte dagegen gerade keine eindeutige Aussage machen, sondern zum Denken anregen. Joseph Kosuth, (Mit-)Erfinder der Konzeptkunst, war in den 1980er-Jahren häufig in Stuttgart – zu Gast beim Künstler und Galeristen Achim Kubinski. Auf eine Retrospektive in der Staatsgalerie 1981 folgte 1993 eine in der Städtischen Galerie Villa Merkel in Esslingen. Von 1991 bis 1997 war er Professor an der Stuttgarter Kunstakademie.

Dort wollte Kosuth die Lehre reformieren, fand aber im Kollegium und beim Land keinen Rückhalt. Als ihn Renate Wiehager, die damalige Leiterin der Villa Merkel, im Jahr nach der Ausstellung in Esslingen fragte, ob er zu einem Gemeinschaftsprojekt über die Eisenbahn in der zeitgenössischen Kunst, an dem auch das Märklin-Museum und die Kunsthalle Göppingen beteiligt waren, ein Werk als Hinweis am Bahnhof anbringen wolle, wählte er das Hegel-Zitat: nicht zuletzt auch aus Ärger über die zögerliche Haltung der Akademie.

Was soll das?

Und jetzt steht "Brasilien" in roter Leuchtschrift auf dem Dach der Kleinen Schalterhalle. Was soll das nun schon wieder? Es ist keine Tourismus-Werbung, das liegt auf der Hand, schließlich kann die Bahn nicht den Ozean überqueren. Da sich die Bedeutung nicht auf den ersten Blick erschließt, scheint es sich wiederum um ein Kunstwerk zu handeln. Und tatsächlich, es stammt von der Künstlergruppe SOUP, dem "Stuttgarter Observatorium urbaner Phänomene", gegründet im Zuge der Bahnhofsproteste, um die Entwicklungen im Auge zu behalten.

Wie schon das Hegel-Zitat dient auch diese Leuchtschrift als Hinweis auf eine Ausstellung. Nur dass es diesmal nicht darum geht, mit dem Zug nach Esslingen und Göppingen zu fahren. Die Ausstellung findet vor Ort, im Stuttgarter Talkessel statt. Und zwar nicht in einer Galerie, einer Kunsthalle oder einem Museum, sondern im öffentlichen Raum.

"Current", so der Titel, ist eigentlich mehr als eine Ausstellung: ein Festival, zu dem auch ein Symposium, ein Blog und andere Aktivitäten, unter anderem von Instituten der Universität Stuttgart und der Kunstakademie gehören. Zu den Orten, an denen sie stattfindet, gehören das Areal um die Wagenhalle, das Leonhardsviertel und die B14. Drei Wochen vorher stehen indes noch nicht alle Orte fest, und manche Ankündigungen klingen etwas mysteriös. Da geht es um Windturbulenzen oder den Zusammenhang von Sicherheit und künstlichem Licht. Eine "Glitch Klitsche" dient als Interimskino mit anspruchsvollem Programm. Das indonesische Kollektiv HONF (House of Natural Fiber/ Haus aus Naturfasern) will eine "Ungovernable Structure", eine unregierbare Konstruktion aufbauen.

Kunst nicht mehr nur am Bau

Konzipiert hat das Festival Laura Bernhardt, in Berlin lebende Designerin und Kuratorin, die schon 2014 die Calwer Passage bespielt hat, bevor diese zur Fluxus Concept Mall wurde. Sie hat in Paris, Karlsruhe und am Massachusetts Institute of Technology studiert und war vor drei Jahren an "Make City" beteiligt, dem wegweisenden Berliner "Festival für Architektur und Andersmachen". Sie war selbst etwas überrascht, dass ihr Antrag im Doppelhaushalt im Dezember 2019 bei einem Etat von 350.000 Euro glatt durchging.

Aber zum einen wollte der Gemeinderat sich angesichts der Opernmilliarde wohl nicht knickrig zeigen. Zum anderen ist das Geld möglicherweise gut angelegt und die Summe gar nicht so hoch, wie es klingt. Früher waren in Stuttgart, ebenso wie auf Landes- und Bundesebene, bei öffentlichen Bauten ein bis zwei Prozent der Bausumme für "Kunst am Bau" vorgesehen. Wenn es danach ginge, hätte jeder einzelne Bau über 35 Millionen – und davon gab es einige in den letzten Jahren in Stuttgart – höhere Ausgaben nach sich gezogen. Auf Bundes- und Landesebene gibt es das Programm noch – trotz wiederholter Kritik im Detail seitens der Rechnungshöfe. Doch die Stadt Stuttgart hat es vor dreißig Jahren einschlafen lassen. Eine große Menge von Werken hatte sich bis dahin angesammelt. 436 Arbeiten in Stuttgart, von 228 KünstlerInnen, stellt ein kürzlich erschienenes Buch vor.

Ulrich Bernhardt, Lauras Vater, der Gründer des Stuttgarter Künstlerhauses, hat mit Aufträgen für "Kunst am Bau" wie dem Foto-Fries "Kulturströme" in der U-Bahn-Station Killesberg einen Großteil seines Lebensunterhalts bestritten. Die Tochter will allerdings nicht zurück zu früheren Zeiten. Dauerhafte, unbewegliche Werke, im Prinzip für die Ewigkeit: Das entspricht nicht mehr den Herangehensweisen der heutigen Kunst, die aber trotzdem etwas zur Stadtentwicklung und zur Gestaltung des öffentlichen Raums beizutragen hat. Hier setzt das Current-Festival an, das den urbanen Raum – Laura Bernhardt vermeidet bewusst eingefleischte Begriffe – von einem reinen Verkehrs- und Kommerz-Raum wieder in einen wirklich öffentlichen Raum zurückverwandeln will, wo man sich begegnen und betätigen kann.

Codewort für eine Scheinanlage aus dem Weltkrieg

Was aber hat das mit Brasilien zu tun? Der Ländername ist nur ein Codewort. Freilich keines, das die Gruppe SOUP für das Festival erfunden hat. Brasilien war im Zweiten Weltkrieg der Name einer sogenannten Scheinanlage bei Lauffen am Neckar, die aus Attrappen des Stuttgarter Hauptbahnhofs, des Gaskessels, Lichterketten und Flakstellungen bestand und die feindlichen Jagdbomber in die Irre führen sollte. Hunderte solcher Anlagen wurden gebaut, einige sollten ganze Städte simulieren. Sie erhielten die Namen südamerikanischer Länder. Ein bei Karlsruhe in den Hardtwald gefräster Straßenfächer etwa hieß Venezuela.

Mit der Scheinanlage Brasilien beschäftigt sich SOUP seit zehn Jahren. Harry Walter, Sohn eines Bomberpiloten im Zweiten Weltkrieg, war auf das Thema aufmerksam geworden. In Lauffen war die Anlage noch in Erinnerung. Die Stadt stimmte einer Ausstellung zu. Zeitzeugen wurden gehört, aber etwas Gespenstisches bleibt. Auf der einzigen Luftaufnahme der Anlage, die sich Walter aus Edinburgh kommen ließ, ist kaum etwas zu erkennen. Nach Aussage eines Zeitzeugen war der Bahnhof neun Meter breit, ein anderer behauptete, fünfzig Meter seien es gewesen.

Bekanntlich ist es nicht gelungen, die Bombengeschwader von Stuttgart abzulenken. Die Alliierten hatten den Spuk schnell durchschaut und warfen zum Spott Holzbomben ab. Ein holländischer Sammler, so Walter, interessiere sich dafür. Die Scheinanlage wurde abgebaut, und die Zeitgenossen hatten Wichtigeres zu tun, als die Daten zu archivieren. Dokumentiert ist, dass der Stuttgarter Oberbürgermeister Arnulf Klett am 3. April 1958 dem Lauffener Bürgermeister Hans Roller zum Dank für das Leiden, das die Stadt auf sich genommen habe, ein Ölbild geschenkt hat – das heute freilich nicht mehr auffindbar ist.

Die Unwirklichkeit des Bahnhofs

Inzwischen ist der Stuttgarter Hauptbahnhof selbst zur Attrappe geworden. Das versinnbildlicht der Schriftzug "Brasilien". Die Schienen sind 100 Meter weit weg. Der Fahrkartenschalter befindet sich in der Landesbank. Hinter der Fassade des "neuen Bonatzbaus" ist Baustelle. Die Kette Me and all Hotels, an der Billigfleischbaron Clemens Tönnies Anteile hat, ist dabei, das Empfangsgebäude in ein Hotel zu verwandeln.

Hier schließt sich der Kreis. Schon Joseph Kosuth hat den Rückbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs kritisiert. "Das ist ein rückschrittliches Architekturverständnis", so der amerikanische Künstler. "Architektur hat die Psychologie eines Ortes zu konservieren, dadurch ist es uns Menschen möglich, eine Verbindung herzustellen zu den Menschen, die vor uns dagewesen sind. Durchbricht man diese Logik, indem man nur die Fassade stehen lässt, verändert man die Städte, in denen wir leben, in eine Art Euro-Disneyland."

Von der "Unwirklichkeit der Städte" sprach ein Buch, das der Berliner Germanist Klaus R. Scherpe 1980 herausgegeben hat. Offenbar eine Replik auf das berühmte, inzwischen in 29 Auflagen erschienene Werk Alexander Mitscherlichs, der 1965 in "Die Unwirtlichkeit unserer Städte" die Zerstörungen der Nachkriegszeit kritisiert hat. Wo ausschließlich Kapitalinteressen regieren, werden unsere Städte immer unwirklicher. Nur reale Begegnungen und künstlerische Aktivitäten können dem entgegenwirken. Wie das Festival Current.


Infos zum Current-Festival hier.


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