KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Lob der Farbenblindheit

Die Queen ist schwarz

Lob der Farbenblindheit: Die Queen ist schwarz
|

Datum:

Im Kino und in TV-Serien sind mehr und mehr schwarze DarstellerInnen zu sehen. Das hat auch zu tun mit einer neuen Besetzungspraxis. Führt sie zum Überwinden des Schwarz-Weiß-Denkens?

Was ist denn da passiert? Ist es in den USA jetzt vorbei mit der Diskriminierung schwarzer SchauspielerInnen? Mit Drehbüchern, in denen sie gar nicht vorkommen? Mit Geschichten, die für sie nur Nebenrollen zu bieten haben? Oder mit sich aufgeklärt gebenden Filmen, in denen ihnen trotzdem und quasi zur Absicherung weiße Helden an die Seite gestellt werden? Gerade mal fünf Jahre ist es her, dass der weltweit verbreitete Hashtag #OscarsSoWhite die "weißen" Nominierungen für Hollywoods Academy Awards kritisierte. Doch nun trauen manche ihren Augen nicht: Die Verfilmung des Musicals "Hamilton", in dem der Autor und Komponist Lin-Manuel Miranda von den US-Gründervätern erzählt, hat dessen Broadway-Besetzungscoup beibehalten, so dass also nicht nur der Titelheld, sondern auch fast alle anderen, inklusive George Washington, von schwarzen respektive nicht-weißen Darstellern gespielt werden.

Im vergangenen Jahr schaffte im Kino auch ein dunkelhäutiger "David Copperfield" den menschlichen und sozialen Aufstieg, und wer in die eben angelaufene und immens erfolgreiche Netflix-Produktion "Bridgerton" reinschaut, eine in Englands Regency-Zeit spielende Society-Soap-Serie, der darf nicht nur den schwarzen Herzog Hastings beim Sich-Verlieben beobachten, der begegnet auch gleich in der ersten Folge einer schwarzen Queen. In all den genannten Fällen war eine Besetzungspolitik am Werk, die sich selbst als "colorblind casting" bezeichnet. Einwände historisch orientierter Zuschauer, die darauf beharren, dass Hamilton, Washington, Copperfield oder die Queen weiß waren, werden als rassistisch abgekanzelt.

Rassismus und Sklaverei sind nicht farbenblind

Auf den ersten Blick hat diese "Farbenblindheit" etwas Bestechendes. Der "Rolling Stone" schrieb über "Hamilton" euphorisch, dass hier die amerikanische Historie zurückgefordert würde "von jenen Menschen, die nur am Rande der Erzählung" vorkamen. Das 3Sat-Magazin "Kulturzeit" vom 20. Januar aber fragte: "Geschichtsklitterung oder Selbstermächtigung?" Und stellte die Frage ins Wohnzimmer, ob auch ein nicht-weißer Wilhelm Tell denkbar wäre. Aber es gibt auch Kritik von schwarzen AutorInnen: "Hamilton" bleibe trotz "colorblind casting" letztlich eine weiße Geschichte. Dass darin etwa die Sklaverei kaum eine Rolle spielt, obwohl Washington oder Jefferson selber Sklavenhalter waren, hat auch Miranda zugegeben, er verweist allerdings darauf, dass er zuviel Stoff hatte und nicht alles berücksichtigen konnte. Könnte es sein, dass es gar nicht um ein Stoffmengen- , sondern um ein strukturelles Problem geht? Dass nämlich Themen wie Rassismus und Sklaverei in einer farbenblind besetzten Geschichte keinen Sinn mehr ergeben?

In "Bridgerton" ist ja nur der Zuschauer überrascht (und dies nicht allzu lange), wenn er eine schwarze Queen sieht, die Protagonisten selber (be)merken dies gar nicht, sie sind in dieser Hinsicht tatsächlich blind. Wenn diese Serie Machtverhältnisse und Diskriminierung verhandelt, dann geht es nie um das Thema Schwarz und Weiß – kann es gar nicht darum gehen! – , sondern um das Thema Mann und Frau. Und alle, alle gehören sie zur Oberschicht und sprechen Upperclass-English. So ist "colorblind casting" eine zumindest zweischneidige Methode, sie kann die schlechte reale Vergangenheit durch eine fiktive Utopie überschreiben, sozusagen durch ein retrospektives Empowerment. Sie stößt jedoch an Grenzen und engt sich, indem sie das Thema Hautfarbe (zumindest vor der Kamera) komplett übersehen will, selber ein.

Nicht farbenblind, sondern farbbewusst (color-conscious) besetzen, banal gesagt: inhaltliche Gründe anführen, warum eine Rolle mit einem weißen, einem schwarzen oder einem anderen Schauspieler besetzt wird, das ist für manche der bessere Weg. Wobei der Schauspieler Patrick Stewart ("Raumschiff Enterprise") schon 1997 für die Bühne eine weitere Möglichkeit vorführte, nämlich das so genannte "race-reversed casting", bei dem Schwarze in traditionell weißen Rollen zu sehen sind und umgekehrt. So konnte der Shakespeare-Freund Stewart, nachdem das noch von Laurence Olivier praktizierte "blackfacing" als rassistisch gebrandmarkt war, trotzdem eine seiner Wunschrollen spielen, nämlich den Othello.

Auch neue Filme wie "Ma Rainey's Black Bottom" von George C. Wolfe oder Regina Kings "One Night in Miami", beide Adaptionen von Theaterstücken, erzählen schwarze Geschichte und schwarze Geschichten. Der erste Film ist ein Biopic über die Jazzsängerin Gertrude Rainey, die in den zwanziger Jahren zum Star wurde, der zweite malt ein tatsächliches Ereignis aus, nämlich die Stunden nach dem siegreichen WM-Kampf des damals noch Cassius Clay heißenden Muhammad Ali, der sich mit dem Footballstar Jim Brown, dem Aktivisten Malcolm X und dem Sänger Sam Cooke traf. Beide Filme sind auf traditionelle Weise besetzt: Schwarze spielen Schwarze, Weiße spielen Weiße. Bloß dass Weiße eben kaum vorkommen. In "One Night in Miami" zum Beispiel nur am rassistischen Rand, etwa wenn Jim Brown in seinem Heimatstaat als "Nigger" der Zugang zu einem "weißen" Herrenhaus verwehrt wird.

Schwarze KünstlerInnen erobern weiße Territorien

Malcolm X wirft in diesem Film Sam Cooke vor, dass dieser sich bei den Weißen anbiedere, dass er sozusagen "weiß" singe. Auch in Eugene Ashs bittersüßer Romanze "Sylvie’s Love" sind Sam-Cooke-Songs zu hören, diesmal aber in "schwarzer" Umgebung. Der Regisseur schreibt sein Liebespaar hinein in die frühen sechziger Jahre in New York - und hinein in ein Genre, das vorher weißen Helden vorbehalten war. Das Politische an diesem von Vincente Minnelli, Douglas Sirk oder Martin Scorseses "New York, New York" inspirierten Film ist vielleicht, dass er Politik gar nicht direkt thematisiert, dass nur in wenigen Szenen weißer Rassismus aufblitzt, dass sein schwarzes Paar dafür ganz selbstverständlich in glamourös-nostalgische Bilder gestellt wird. Und umspült ist von einem ungemein süffigen Soundtrack, von jazzigen All-American-Songs, in denen Trennendes sich musikalisch aufhebt. Hier singen nämlich nicht nur schwarze Künstler wie Sam Cooke, Nancy Wilson ("All my Tomorrows") oder Sarah Vaughn ("One Mint Julip"), hier darf sich auch Doris Day was wünschen: "Fly me to the Moon".

Die Eroberung weißer Territorien durch schwarze Künstler haben vor Kurzem auch Beyoncé und Jay-Z in einem fulminanten Musik-Video vorgeführt, in dem sie durch den Louvre streifen und selbstbewusst vor Mona Lisa und Co. posieren. Den Louvre erobert nun auch der schwarze Schauspieler Omar Sy ("Ziemlich beste Freunde"): Schon in der ersten Folge der französischen Serie "Lupin" ist er als Museums-Putzmann zu sehen. Er hat sich freilich nur als solcher eingeschlichen und klaut nun in einem raffinierten Coup ein Collier, das mal Marie Antoinette gehörte. Aber war der von Maurice Leblanc zu Beginn des 20. Jahrhunderts erdachte Gentleman-Dieb Arsene Lupin nicht weiß? Wurde hier also wieder mal "colorblind" besetzt? Nein, der ebenso charmant wie unverschämt grinsende Omar Sy spielt nämlich Assane Diop, dessen aus dem Senegal stammender Vater Opfer eines rassistischen Reichen geworden ist. Um ihn zu rächen, tritt Diop in die Fußstapfen des trickreichen Helden Lupin, der ihm Vorbild ist. Aber farbenblind sein, das kann der neue und schwarze Lupin sich natürlich nicht leisten.


"Hamilton" ist beim Streamingdienst Disney+ zu sehen, "Bridgerton", "Ma Rainey's Black Bottom" und "Lupin" bei Netflix. "One Night in Miami" und "Sylvie's Love" gibt's bei Amazon Prime. "David Copperfield" ist als DVD und Bluray erhältlich.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


1 Kommentar verfügbar

  • Gerald Wissler
    am 02.02.2021
    Antworten
    Ich möchte nicht wissen, was los wäre, wenn der Produzent von One Night in Miami auf die Idee gekommen wäre, Malcolm X mit einem Weißen und Ali mit einem Chinesen zu besetzen.
    Bei historischen Stoffen, wenn sie nicht ins Fantasy-Genre abgleiten sollen, ist eine "farbenblinde" Besetzung einfach nur…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!