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"Wagner und Fritz"

Amok-Theater

"Wagner und Fritz": Amok-Theater
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Der Massenmörder Ernst Wagner ging 1913 in die württembergische Justizgeschichte ein, weil erstmals ein Mordprozess wegen Schuldunfähigkeit eingestellt wurde. Er entging dem Todesurteil, landete in einer Heilanstalt. Jörg Ehni hat jetzt ein Theaterstück geschrieben über den Amokläufer.

Jörg Ehni, 1934 in Stuttgart geboren, ließ sich nach dem Abitur am Pädagogischen Institut in Stuttgart zum Lehrer ausbilden. Danach studierte er Empirische Kulturwissenschaft, Germanistik, Anglistik und Geographie in Tübingen und Dublin. Zwischendurch arbeitete er als Lehrer in der schwäbischen Provinz, um sich das Studium zu finanzieren. Er promovierte zum Thema Lesebücher, lehrte als Professor für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an den Pädagogischen Hochschulen in Karlsruhe, Esslingen und Weingarten. Nach seiner Pensionierung widmete er sich ganz dem Theater, was er auch schon vorher ausgiebig getan hatte – sowohl als Autor, Dramaturg und als Regisseur.

Ehnis Herz schlägt für das kritische Volkstheater, für die schwäbische Mundart und die Verbindung von Theater und Musik. Zahlreiche Kinderlieder und Musicals für Kinder und Jugendliche sind in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Uli Führe, zuletzt auch mit Wolfgang Gentner entstanden. Jüngste Erfolge waren die Esslinger Uraufführungen seiner schwäbischen Bearbeitungen von Shakespeares "Hamlet" (2016) und von Labiches "L'Affaire de la rue de Lourcine" ("Mord auf dem Schillerplatz", 2017). Zum Jubiläumsjahr 2017 wurde sein Stück "Luther" an der Württembergischen Landesbühne Esslingen uraufgeführt.  (vg)

Herr Ehni, was macht Ernst Wagner, der am 4.9.1913 in einem von langer Hand geplanten Amoklauf 14 Menschen tötete, interessant für das Theater?

Ernst Wagner ist eine theatralische Figur, nicht nur durch die Dramatik seiner Tat: der Ermordung seiner eigenen Familie, der versuchten Auslöschung eines ganzes Dorfes und dem Plan, das Ludwigsburger Schloss und sich selbst und die Herzogin in deren Bett anzuzünden. Was für eine orgiastische Vorstellung! Und dann am Ende dieses Pathos: "Ich bereue nichts. Ich bin ein Atheist. Ich habe versagt, ich hätte viel mehr Menschen töten müssen." Ich glaube ihm das nicht. Alles Wagner-Theater. Aber auch in seiner Biografie steckt viel theatralisches Potenzial. Er hat sich selbst als Künstler verstanden, als größter deutscher Dichter neben Schiller und Goethe. Er war ein Genie, das sich nicht entfalten konnte. Er hat geschrieben wie verrückt, aber niemand hat sich dafür interessiert. Er war unglaublich belesen, hochgebildet. Hatte sich aus der alleruntersten Schicht zum Lehrer hochgearbeitet. Einerseits wurde er getragen durch die Autorität seines Berufs. Er war eine Respektsperson. Nach dem Pfarrer kam in den Dörfern gleich der Schulmeister. Aber andererseits war Wagner die Schule lästig. Er wollte hoch hinaus. Aber er kam nicht weg aus dem dörflichen Umfeld, wo er natürlich aufgefallen ist. Er hat ja konsequent Hochdeutsch gesprochen, hat sich auffällig gekleidet, war arrogant. Aber man hat ihm seine gelben Schuhe und seine merkwürdigen Westen nachgesehen. Mit den Kindern ging er ja gut um. Es gab keine Beschwerden. Aber Wagners Sehnsucht blieb immer Stuttgart, dort wollte er arbeiten.

Zwei psychiatrische Gutachter haben Wagner damals als unzurechnungsfähig eingestuft wegen "krankhafter Störung der Geistestätigkeit". Wie krank war Wagner denn?

Er war paranoid, litt also unter Verfolgungswahn, hörte Stimmen, sah Fratzen. War einerseits voller Selbstzweifel, andererseits von Größenwahn besessen. Neuere Untersuchungen seines Gehirns, das ihm nach dem Tod entnommen wurde und bis heute aufbewahrt wird, haben einen krankhaften Befund festgestellt. Aber es hätte wohl nicht zum Ausbruch kommen müssen. Es war dafür eine enorme Stresssituation notwendig.

Was passierte?

Das war in Mühlhausen, wo Wagner 1901/02 seine erste Stelle als Hauptlehrer angetreten hatte. Nach einer "sodomitischen Handlung" an einer Kuh im Stall des Dorfwirtes, so beschrieb es Wagner selbst, habe er sich von den Dorfbewohnern verspottet gefühlt. Er war der Meinung, seine Umwelt wisse von seinem Fehltritt, verhöhne und beobachte ihn ständig. Tragisch, denn niemand hatte den Vorfall mitbekommen. Die Furcht vor der "Schande" wurde aber in Wagner so monströs, dass er am Ende völlig durchgedreht hat.

Warum diese krasse Reaktion?

Die Tragik und die Katastrophe seines Lebens liegt in seinem pietistischen Umfeld in Mühlhausen begründet, in der Mentalität der Menschen dort. Kennen Sie dieses pietistische Andachtsbild "Der breite und der schmale Weg"? Das hing auch bei meinen Großeltern im Schlafzimmer. Links der breite, angenehme Weg, bepflastert mit lauter Sünden: An erster Stelle steht das Theater, dann kommen Wirtshaus, Spielhölle, Tanzsaal. Führt natürlich alles ins Höllenfeuer. Und rechts der schmale, unsinnliche Weg, mühsam zu erklimmen, am Gekreuzigten und an der Kirche vorbei. Am Ende empfangen einen die Engel an der Pforte zum Himmelsreich. Wagner bildete sich ein, mit seinem sodomitischen Akt etwas gemacht zu haben, das das Höllenfeuer zur Folge hatte. Alles stand für ihn auf dem Spiel, wenn es herauskommen würde. Er hatte sich aus der alleruntersten Schicht heraufgearbeitet, und jetzt drohte alles zusammenzubrechen. Dass er dann nach Radelstetten strafversetzt wurde, hatte aber einen ganz anderen Grund. Er hatte die Tochter des Dorfwirts geschwängert. Er hat sie später dann geheiratet. Es war ein Muss, keine Liebe.

Der Unzurechnungsfähige

Am Morgen des 4. September 1913 begann der 38-jährige Lehrer Ernst Wagner seinen Amoklauf, den er mehrere Jahre lang minutiös geplant hatte. Zunächst tötete er zuhause in Degerloch seine Frau und seine vier Kinder. Dann fuhr er per Fahrrad und Bahn nach Mühlhausen/Enz, seinem ehemaligen Arbeitsort, wo er Häuser in Brand steckte und neun der flüchtenden Menschen erschoss. Sein Motiv: Rache. Wagner wurde von der Polizei überwältigt. Im Gerichtsverfahren wurde er von zwei psychiatrischen Gutachtern für schuldunfähig befunden. Im Deutschen Reich war dies seit 1871 möglich. In Württemberg geschah es zum ersten Mal. Wagner wurde nicht zum Tode verurteilt, sondern lebenslang in der Heilanstalt Winnental weggesperrt. Dort starb er 1938 an Tuberkulose.  (vg)

Es klingt, als hätten Sie Mitleid mit dem Mann?

Ja, ich habe Mitleid mit ihm. Er war ein kranker Geist. Und ich kenne diese dörflichen Strukturen recht genau. Ich bin selbst dort aufgewachsen. Meine Familie wurde im Krieg ausgebombt und musste Stuttgart verlassen. Wir sind in Schwaigern bei Heilbronn gelandet, ich bin dort zur Schule gegangen. In Schwaigern herrschte nach Kriegsende noch die alte Welt. Ich beobachtete da einmal eine schreckliche Szene: Eine Frau war beim Stehlen erwischt worden. Man hängte ihr ein Schild um den Hals: "Ich bin eine Lügnerin und Diebin". Man trieb sie durch die Straßen. Es war eine sehr arme Frau. Sie hatte viele Kinder von unterschiedlichen Männern im Dorf. Sie hat sich prostituiert, um ihre Kinder zu ernähren. Es waren also auch einige Väter unter denen, die da rumstanden, gafften und sie anspuckten. Ich kannte ihre Kinder, ein paar gingen in meine Schule. Die Frau hätte auch Wagners Mutter sein können. So ist er aufgewachsen, mit neun Geschwistern. Es waren arme Leut', der versoffene Vater war früh gestorben, hatte der Frau immense Trinkschulden hinterlassen.

Wie gingen Sie beim Schreiben des Stücks vor?

Ich verwende zwar viele Originalzitate Wagners, aber im Grunde genommen kann ich mich ihm nur intuitiv nähern, durch meine Fantasie. Ich habe viel gelesen über ihn. Und viel von ihm. Aber den Aussagen eines paranoiden, größenwahnsinnigen Hirns kann ich nur misstrauen. Vorgabe der Württembergischen Landesbühne Esslingen war es, ein Kammerspiel zu schreiben. Ich lasse es in der Heilanstalt in Winnental spielen. Ein Monolog kam für mich nicht in Frage. Wagner im Hamsterrad: Das wäre langweilig. Wagner braucht einen Gegenspieler. Aber wen?

Im Halbschlaf ist er mir dann plötzlich eingefallen: der Fritz, ein Autist, ein ganz naiver Mensch, fromm, eine kindliche Seele. Ein krasser Kontrast zum schillernden, atheistischen Individuum Wagner. Gemeinsam ist ihnen allerdings die Liebe zur Literatur, die Fritz intuitiv speichern kann. Was er liest oder auch hört, behält er. Da ihm Wagner seine Lebensgeschichte immer wieder zwanghaft erzählen muss, wird Fritz zum Erzähl- und Spielpartner. Er gewinnt dadurch Macht über Wagner. Wagner versucht, Fritz immer wieder hereinzulegen. Aber das schafft er nicht. Im Gegenteil: Fritz plagt ihn mit seinen Fragen. Er dringt in Wagner ein, kommt ihm dadurch auch näher. Er will wissen: Warum hast du deine Kinder getötet? Wie hast du es gemacht? Was hast du dabei gefühlt und gedacht? Es ist für Fritz absolut unvorstellbar, dass jemand seine eigenen Kinder tötet. So geht es mir auch. Ich glaube nicht, dass er seine Kinder umgebracht hat, ohne sich nachher mit dieser fürchterlichen Tat auseinanderzusetzen. In diesen Fragen bin ich ganz der Fritz.

Kann man von Wagner auf andere Amokläufer schließen? Wagner ist 1938 in der Heilanstalt Winnental gestorben. Das liegt in der Nähe von Winnenden. Da kommt einem ein anderer Amoklauf in den Sinn, bei dem 2009 fünfzehn Menschen getötet wurden.

Vergleiche sind da schwierig, denke ich. Jeder Amoklauf ist eine Singularität. Wagner war krank. Andererseits war er auch ein ganz normal empfindender Mensch. Wir können uns diese Krankheiten im Kopf einfach nicht wirklich vorstellen. Was fühlt so jemand, was denkt er, was plant er, was bringt ihn dazu? So eine Psyche begreifen zu wollen, ist eine unglaubliche Herausforderung. Wir sind doch alle irgendwo ein bisschen paranoid, ein bisschen größenwahnsinnig. Das gehört zu einer normalen Psyche fast mit dazu. Wie schnell missdeutet man das Verhalten anderer Menschen? Das passiert mir auch gelegentlich. Wenn man ein schlechtes Gewissen hat, kann es schnell geschehen, dass man sich beobachtet und bewertet fühlt. Wagner hat das eben permanent so empfunden. Die Krankheit hat die Stimmen der Menschen um ihn herum vergrößert. Er musste sie auf sich beziehen und als Hohn und Spott interpretieren. Lachen wurde für ihn ein demütigendes Auslachen. Die Morde in Mühlhausen waren für ihn eine Rache, aber auch der Versuch, sich von den Stimmen, die ihn verfolgten, zu befreien. Aber wo beginnt der Wahnsinn? Wo endet die Normalität? Wo ist die Grenze? Der Wagner ist mir ein Rätsel, das ich nicht lösen kann.


Jörg Ehnis "Wagner und Fritz" sollte am kommenden Sonntag, dem 27. September an der Württembergischen Landesbühne Esslingen uraufgeführt werden, wurde aber nun kurzfristig auf Frühjahr 2021 verschoben, mit der Begründung: "Ehnis Stück bedarf einer großen emotionalen Kraft, die das Ensemble unter den aktuellen Hygienevorgaben nicht aufbringen darf, da es sonst sich selbst und das Publikum gefährden würde."


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