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"Drei Tage und ein Leben"

Tod in den Ardennen

"Drei Tage und ein Leben": Tod in den Ardennen
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Eine Geschichte von Schuld und Sühne: Nicolas Boukhriefs exzellente Romanverfilmung erzählt von einer schrecklichen Tat, die eine Existenz vernichtet und eine andere für immer prägt. Mit wunderbaren Schauspielern und der großen Sandrine Bonnaire.

Eine Landschaft im Nebel, der sich zögernd lichtet. Viel Wald, ein paar Wiesen, ein Flüsschen, eine Brücke, ein Dorf. Schüchterne Weihnachtsbeleuchtung, die nicht ankommt gegen schiefergraue Tristesse. Vor der Kirche ein Menschenauflauf, lauter ernste Gesichter, und ein Polizist, der erklärt, es deute nichts auf eine Entführung hin, man werde bald mit Freiwilligen "den Wald durchkämmen." Es ist der 25. Dezember 1999, der sechsjährige Rémi (Léo Lévy) ist verschwunden, der kleine Ort Beauval in den französischen Ardennen ist aufgewühlt.

Drei Tage vorher: Der zwölfjährige Antoine (Jeremy Senez) kommt runter zum Frühstück, wird von seiner Mutter (Sandrine Bonnaire) herzlich begrüßt, die gleich zur Arbeit muss, sich aber noch schnell über ihren Chef Kowalski (Arben Bajraktaraj) beklagt, den polnischstämmigen Besitzer eines Fleischerladens. Sie solle sich nach einer anderen Stelle umschauen, rät Antoine. "Arbeit findet man nicht so leicht", antwortet die Mutter. Dann geht auch Antoine aus dem Haus, trifft die blonde Nachbarstochter Emilie (Pauline Sakellaridis), von der er den Blick nicht wenden kann, wird begleitet von deren Bruder, dem anhänglichen kleinen Rémi, und bringt dem Dorfarzt (Philippe Torreton), der ihm väterlich über den Kopf streicht, ein geliehenes Anatomie-Buch zurück.

Ganz unaufgeregt und wie nebenbei öffnet sich schon in diesen Szenen der Mikrokosmos eines Dorfes, werden die familiären, psychologischen und sozialen Verhältnisse sichtbar. Und auch gleich die Probleme und Verwerfungen. Die Fabrik, größter Arbeitgeber im Dorf, ist in der Bredouille, der hitzige Michel (Charles Berling) schreit dem Boss seinen Zorn ins Gesicht. Antoine spürt Emilie nach und sieht, wie sie einen älteren Jungen küsst. Und sieht dann, wie Michels Hund, mit dem er so gern spielt, seinem Ball hinterherhetzt und vom Auto des Bürgermeisters angefahren wird. Das Tier lebt noch. Michel kommt hinzu, wortlos holt er seine doppelläufige Flinte, erschießt seinen Hund, stopft den Kadaver in einen schwarzen Sack und stellt ihn ans Mäuerchen zur Straße, zum anderen Abfall.

Geschichte einer Tat und wie man mit ihr lebt

So beginnt Nicolas Boukhriefs "Drei Tage und ein Leben", eine exzellente Adaption des gleichnamigen Romans von Pierre Lemaitre. Der Autor, der mit Perrine Margaine auch das Drehbuch geschrieben hat, wurde bei uns bekannt mit seinem fulminanten und ebenfalls verfilmten Werk "Wir sehen uns dort oben", einer groß angelegten Geschichte über die Versehrungen des Ersten Weltkriegs und das Geschäft mit den Toten, für die er 2013 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. In Frankreich hatte Lemaitre schon vorher als Thriller- und Krimiautor einen großen Namen, und auch nach seinem Erfolg im Bereich der Hochliteratur betrachtet er Genre-Geschichten nicht als minderwertig. Das zeigt sich unter anderem daran, dass er – wieder mit Perrine Margaine – das auf seinem Roman "Cadres noirs" (2010) basierende Drehbuch zur aktuellen Netflix-Thriller-Serie "Aus der Spur – Derapages" geschrieben hat, in welcher der Ex-Fußballstar Eric Cantona in der Rolle eines Geiselnehmers mit einer physischen Präsenz agiert, die an Lino Ventura erinnert.

Aber zurück zum Roman "Drei Tage und ein Leben", der 2016 veröffentlicht wurde. Auch dies ist also ein Buch, das Lemaitre nach dem Gewinn des Prix Goncourt geschrieben hat. Ist das nun wieder Genreliteratur, also ein Thriller oder ein Who-dunnit-Krimi? Für Lemaitre mag diese Frage, wie gesagt, gar nicht so wichtig sein. Für diese Filmkritik ist sie es schon, weil sie eine andere Frage aufwirft: Wieviel darf man nacherzählen? Genauer: Darf man verraten, was im Buch auf Seite 23 und im Film nach 19 Minuten und 34 Sekunden passiert? Ja, man darf wohl verraten, dass der frustrierte Antoine zum Totschläger wird und die Leiche des kleinen Rémi im Wald versteckt. Denn dies ist, so wie etwa viele der Nicht-Maigret-Romane von Georges Simenon, nicht nur die Geschichte einer Tat, sondern eine Geschichte, wie jemand zu einer Tat getrieben wird und danach mit ihr leben muss.

Es geht Lemaitre und dem Regisseur Nicolas Boukhrief nie um moralische Be- oder gar Verurteilung, sondern um genaues Beobachten und Schildern, um menschliches Mitempfinden. Und wie bei Simenon entsteht dabei große Spannung. Dieser überforderte Zwölfjährige, der im Affekt etwas Schreckliches getan hat, die Ereignisse um ihn rum nun mit großen, dunklen Augen verfolgt und gleichzeitig unter Schockstarre steht! Antoine kann sich nicht öffnen, niemandem gegenüber. Wohl auch deshalb nicht, weil er seiner Mutter die Schande ersparen muss. "Allen geht es wie dir. Wir sind alle traurig deswegen", sagt der Doktor. Antoine hat nämlich Tabletten geschluckt, der Doktor ahnt vielleicht den Grund, jedenfalls würde er gern mit Antoine unter vier Augen sprechen. Es könnte ein Gespräch über Schuld werden und vielleicht auch darüber, wie man mit ihr umgeht.

Zeugnisse verbotener Leidenschaften

Aber nun wird alles, was sich in diesem Dorf emotional aufgestaut hat, hinweggefegt und verdrängt von einem größeren Ereignis. Jener Orkan, der bei uns den Namen "Lothar" erhielt, verwüstet weite Teile von Nordfrankreich und auch jenen Teil des Ardennerwalds, in dem Rémi begraben ist. Eine Schwarzblende. Und ein Zeitsprung von fünfzehn Jahren. Antoine (jetzt: Pablo Pauly) kehrt zurück als junger Mann, er ist Arzt geworden und will ins Ausland, es soll nur ein Abschiedsbesuch in Beauval werden. Die Infrastruktur hat dort weitere Verluste erlitten, die Bahn etwa fährt den Ort nicht mehr an (man sieht es in einem einzigen Bild an per Holzlatten gesperrten Gleisen), das Polizeirevier wird bald geschlossen, der Dorfdoktor wird von der Gemeinde verabschiedet und hat keinen Nachfolger gefunden. Und doch hat sich nicht viel geändert. Dieser arme Norden war und ist jene Region, in der die französische Literatur Klassen- und Milieubewusstsein zeigt, in Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" (2009) zum Beispiel, in Nicolas Mathieus "Wie später ihre Kinder" (2018), und eben in Lemaitres "Drei Tage und ein Leben".

Ohne je herablassend zu werden, erzählt der Film von Menschen, die aus den Beschränkungen ihrer kleinen Welt, in der sich das Tragische als Normalität verkleidet, nicht herausfinden. Menschen, die keine Ansprüche mehr stellen, die sich abgefunden haben. Er zeigt auch das Wetter, dem sie ausgesetzt sind. Ihre Behausungen, denen jeder Glamour fehlt (die Ausstattung ist von extremer Sorgfalt!), ihren manchmal missgünstigen Klatsch und Tratsch. Liebe? "Bringen wir's hinter uns", sagt Emilie (jetzt: Margot Bancilhon) ebenso spöttisch wie resigniert zu Antoine, so als gäbe es fünfzehn Jahre später eine Nachholpflicht. Aber der Film zeigt dann eben auch, dass nicht alles abgestorben ist, dass in Schubladen Zeugnisse verbotener Leidenschaften schlummern, dass die einen manchmal mehr von den anderen wissen, als diese ahnen – und doch still bleiben. Der Regisseur Boukhrief ist ja auch selber kein Freund von Geschwätzigkeit, er muss nicht alles dialogisieren, er kann mit Bildern erzählen, mit Andeutungen und Blicken. Und er hat ein wunderbares Schauspiel-Ensemble zusammengestellt, in das sich die große Sandrine Bonnaire ganz selbstverständlich einfügt.

Der Fall Rémi ist übrigens noch nicht ausgestanden, der Wald wird jetzt wieder bewirtschaftet. Und inzwischen gäbe es ja auch das Mittel der DNA-Analyse. Es droht also noch immer die Aufdeckung der Tat! Aber nun soll es mal gut sein mit der Nacherzählung. Nur noch dies: In den letzten Szenen sitzt eine Familie beim Weihnachtsessen, die Kamera aber macht diesmal das Gegenteil von dem, was sie an Weihnachten 1999 gemacht hat. Sie rückt nicht näher, sie entfernt sich vielmehr, ist nun draußen auf der nächtlichen Straße, wo es schneit, zieht immer weiter nach oben, entlässt die Menschen also aus ihrem Blick und aus dieser Geschichte. Einer Geschichte, die den Zuschauer manchmal frösteln macht, aber nie kalt lässt.


Nicolas Boukhriefs "Drei Tage und ein Leben" kommt am Donnerstag, 3. September in die deutschen Kinos. Welche Spielstätte den Film in Ihrer Nähe zeigt, sehen Sie hier.


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