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Lesefrüchte

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Was liest man in diesen Tagen nicht alles in sich hinein! Kreuz und quer und hoch und tief bewegt sich die Lektüre, und manchmal stutzt man dabei, staunt, lacht oder empört sich. Unser Autor lässt uns teilhaben an der Stutz-, Staun-, Lach- und Empörerei.

Im "Zeit-Magazin" vom 23. April heißt es bei den "Kennenlernen"-Anzeigen: "Abenteuerlustige wilde Schwedenliebhaberin (30, Zwilling) sucht ihn. Vorzugsweise lange Haare und Bart, Birkenstock ausdrücklich erlaubt." Der Satz geht allerdings noch weiter: "... aber bitte ohne Socken."

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In Robert Musils 1930 erschienenem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" – Halt, nicht gleich aufgeben, der ist interessant! – findet sich eine immer noch gültige Analyse dessen, was als Wald bezeichnet wird. Zitat: "So war es einmal bei einer Ausfahrt über Land vorgekommen, dass der Wagen an entzückenden Tälern vorbeirollte, zwischen denen von dunklen Fichtenwäldern bedeckte Berghänge nahe an die Straße herantraten, und Diotima mit den Versen 'Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben ...?' darauf hindeutete ... Ulrich erwiderte: 'Die Niederösterreichische Bodenbank. Das wissen Sie nicht, Kusine, dass alle Wälder hier der Bodenbank gehören? Und der Meister, den Sie loben wollen, ist ein bei ihr angestellter Forstmeister. Die Natur hier ist ein planmäßiges Produkt der Forstindustrie, ein reihenweise gesetzter Speicher der Zellulosefabrikation, was man ihr auch ohne weiteres ansehen kann.'"

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Musil war nach dem Ersten Weltkrieg übrigens Sympathisant eines "Politischen Rates geistiger Arbeiter", der – auch dies höchst aktuell! – die "Vergesellschaftung von Grund und Boden, die Vermögenskonfiskation jenseits einer Obergrenze und die Umwandlung kapitalistischer Unternehmen in Arbeiterproduktionsgenossenschaften" forderte (zitiert nach Wikipedia). In den Jahren 1902 und 1903 hat Musil in Stuttgart gewohnt, in der Urbanstraße 46. Womit sich die Stadt allerdings nicht brüsten sollte, denn dreißig Jahre später erinnerte er sich an diese Zeit so: "Ich war 22 Jahre alt, trotz meiner Jugend schon Ingenieur und fühlte mich in meinem Beruf unzufrieden. Jeden Abend um ½ 9 Uhr besuchte mich eine Freundin, aus dem Büro kam ich aber schon um 6 Uhr nach Hause, Stuttgart, wo sich das abspielte, war mir fremd und unfreundlich ..."

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Das sind aber noch milde Töne, verglichen mit den Stadtbeschimpfungen von Musils Landsmann Thomas Bernhard, einem Großnörgler, der sich seitenlang auslassen konnte über ... Na, das Pöbeln gegen Städte geht auch ganz kurz. Der norddeutsche Autor Heinz Strunk ("Fleisch ist mein Gemüse") etwa führt in seiner "Titanic"-Kolumne "Intimschatulle" unter anderem In & Out-Listen. In der März-Ausgabe steht unter Out zum Beispiel: "in den Alpen Hitler-Feelings bekommen", "Rindenmulch" und: "Stuttgart (Arschlochstadt)".

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Nein, nicht die Corona-Krise, sondern dass wegen derselben die Sanierung der Stuttgarter Oper verschoben wurde, hat die "Stuttgarter Zeitung" in einem Kommentar als "Tragödie" bezeichnet.

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In ihrem Corona-Tagebuch hat die französische Bestsellerautorin Leïla Slimani ("Dann schlaf auch du") notiert: "Ausgangssperre? Für den Schriftsteller ein Glücksfall!" Slimani hat sich in ihr Landhaus geflüchtet und bietet nun, so der "Freitag" (2. April), "romantisierende Innenansichten aus dem selbstgewählten Exil". Ihr Kollege Nicolas Mathieu hat über Slimanis Ergüsse geschrieben: "Diese Art von Tagebuch war schon immer typisch für bürgerliche Literatur. Was jetzt an einigen Texten schockiert, ist der Exhibitionismus des privilegierten Lebensstils, die Manifestation der Brutalität von sozialen Unterschieden." Mathieus Roman "Wie später ihre Kinder", eine packende Milieuschilderung aus dem Reich der nicht so Privilegierten, sei hier wärmstens empfohlen.

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Auch in die schon erwähnten "Kennenlernen"-Anzeigen der "Zeit" hat sich die Krise eingeschmuggelt. Da sucht eine "ewige Optimistin" einen Mann mit "Tiefgang und Humor" und spielt für ein Treffen, was den Zeitpunkt betrifft, auf den Soldaten Schwejk und dessen Verabredung "Nach dem Krieg um halb sechs im Kelch" an. Ihre moderne Fassung fragt aber nun: "Nach Corona um sechs in Düsseldorf?"

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US-Präsident Trump, der seinen verhassten venezolanischen Kollegen Nicolas Madura unbedingt stürzen will, hat diesen des Drogenschmuggels bezichtigt, auf ihn ein Kopfgeld von 15 Millionen Dollar ausgesetzt und zusätzliche Kriegsschiffe in die Region geschickt. Also in Richtung Venezuela, nicht etwa vor die Küste des befreundeten Drogenstaates Kolumbien. Die "Stuttgarter Zeitung" (4. April) übernimmt in der Überschrift zu ihrer AFP-Meldung freudig ungeniert die Trump'sche Sprachregelung: "Drogenbosse im Visier".

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Apropos USA und Karibik: In dem 1966 erschienenen Buch "El Cimarrón" hat Miguel Barnet die Lebensgeschichte des hundertdreijährigen Esteban Montejo aufgezeichnet. Montejo, der als Sklave auf einer Zuckerrohrplantage schuften musste, in die Berge floh und später auf den Kampf um die kubanische Unabhängigkeit zurückblickt, hat über die Kolonialmächte geschrieben: "Um die Wahrheit zu sagen, mir ist der Spanier lieber als der Amerikaner; aber der Spanier in seinem eigenen Land. Jeder in seinem eigenen Land. Allerdings, den Amerikaner mag ich nicht mal zu Hause."

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Auf die Märkte ist kein Verlass, gerade in Krisenzeiten versagen sie, schreibt der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz im "Time Magazine" (20. April). Er verweist nicht nur auf die Finanzkrise 2008, sondern auch auf unsere Corona-Zeiten: "Die Gesellschaft hätte gern einen großen Vorrat an Masken und Beatmungsgeräten für den Fall einer Krise wie der jetzigen. Eine gut funktionierende Regierung hätte sie auf Vorrat, weil sie das Risiko erkennt, sie nicht zu haben ... Eine private Firma, die sie nur für den Fall produziert, dass sie gebraucht werden, könnte bankrott gehen. Sie müsste die Produktionskosten jetzt bezahlen und darauf hoffen, dass sie sich in der Zukunft amortisieren." Und wieso steigen Privatfirmen jetzt nicht in die Produktion ein, wo doch Riesenprofite winken? Auch das weiß Stiglitz: Die Firmen wüssten, dass sie, "wenn sie viel mehr verlangen als den normalen Preis", des Wuchers bezichtigt würden. Außerdem "nehmen sie an (und hoffen), dass dies ein einmaliges Ereignis ist". Und weil die Kosten für den schnellen Ausbau der Kapazitäten vielleicht nicht mehr hereinzuholen wären, winkten viele ab.

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Ein letzter Blick in die "Kennenlernen"-Anzeigen der "Zeit", die auch überraschend unverbrämt zur Sache kommen können. Etwa bei einer Künstlerin ("studiert, authentisch"), die keine speziellen Wünsche hat, was Alter, Größe oder Interessen des gesuchten Mannes angeht, sondern nur dies will: einen "vermögenden Lebenspartner". Oder diese Anzeige eines sich Clyde nennenden Mannes, der "immer noch seine Bonnie" sucht: "damit wir uns endlich gegenseitig die Kleider vom Leib reißen können ..."


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