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Die Russen sind die Schuldigsten

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Die Verfilmung des Siegfried-Lenz-Romans "Der Überläufer" blickt nicht nur zurück auf Kriegszeiten, sie führt die Handlung der Geschichte fort bis ins Jahr 1956. Und wird dabei zum Schmiermittel für einen neuen Kalten Krieg.

Ist das nicht wunderbar? Das deutsche Fernsehen hat die deutsche Vergangenheit schon wieder sauber bewältigt! Die Siegfried-Lenz-Adaption "Der Überläufer" kann sich vor Lob kaum retten. Der Roman sei "grandios verfilmt", so Joachim Käppner in der "Süddeutschen Zeitung", sogar "ein Serum" sei dieser TV-Zweiteiler, urteilt Elmar Krekeler in der "Welt" (allerdings schreibt er nicht, gegen was), und in der "Zeit" resümiert Christoph Schröder: "Der Überläufer ist eine erstaunlich texttreue Umsetzung des Stoffs und vielleicht auch deshalb so sehenswert und in weiten Teilen klischeefrei, weil er sich einer moralischen Bewertung enthält." Pardon? Oder besser: Himmelherrgottsakrament! Diese seltsame Einstimmigkeit im deutschen Feuilleton muss aufgebrochen werden! Denn diese Verfilmung ist eben nicht, um erst mal das Schrödersche Urteil zu korrigieren, texttreu, ist nicht klischeefrei und schon gar nicht enthält sie sich einer moralischen Bewertung. Was diese Verfilmung tatsächlich ist: eine Geschichte, die Kalte-Kriegs-Muster des Fünfziger-Jahre-Kinos aufgreift, die deutsche Schuld relativiert, und all dies auch noch hinter einer kitschigen Love Story versteckt. 

Die ARD behandelt Florian Gallenbergers Adaption als Eins-A-Ereignis. Sie hat den Film vor der Ausstrahlung extensiv angekündigt und beworben, ihm die beste Sendezeit (vergangenen Mittwoch und Karfreitag jeweils um 20.15 Uhr) eingeräumt und auch in die Mediathek gestellt, wo er nun weiter zu sehen ist, ebenso wie viele Interviews der Filmcrew und Making-Of-Material zu Kamera oder Kostümen. Aber zunächst eine Rückblende. Wie alles begann: Im Jahr 1951 legt Siegfried Lenz (1926 – 2014), nach seinem Debüt "Es waren Habichte in der Luft", dem Verlag Hoffmann und Campe seinen zweiten Roman vor. Es ist die Geschichte des Soldaten Walter Proska, der gegen Kriegsende desertiert und sich der Roten Armee anschließt. Der Lektor Otto Görner, ein Germanist und Volkskundler, zeigt sich angeblich begeistert, rät jedoch zur Überarbeitung. "Es geht mir nur um das Technische, das Handwerkliche", schreibt er dem jungen Schriftsteller, der daraufhin eine zweite Fassung mit dem Titel "Der Überläufer" erstellt. 

Diese neue Version passt Görner auch nicht: "Ein solcher Roman hätte 1946 erscheinen können. Heute will es bekanntlich keiner mehr gewesen sein…", schreibt er an Lenz und droht dann: "Sie können sich maßlos schaden, da helfen Ihnen auch Ihre guten Beziehungen zu Presse und Funk nicht." Lenz selber desertierte übrigens kurz vor Kriegsende in Dänemark und geriet in britische Gefangenschaft. Görner wiederum, so stellt sich viel später heraus, verschwieg nach dem Krieg seine SS-Mitgliedschaft und konnte so das Manuskript eines Mannes begutachten, den er früher wohl erschossen hätte. Siegfried Lenz resigniert damals, er weiß wohl, dass in der restaurativen Adenauer-Zeit Deserteure immer noch Verräter sind. Sein Manuskript verschwindet in der Schublade und taucht erst nach seinem Tod und bei der Sichtung des Nachlasses im Literaturarchiv Marbach wieder auf.

2016 erscheint der Roman – handwerklich angepasst

Im Jahr 2016 erscheint "Der Überläufer", in der zweiten und angepassten Version, dann beim Verlag Hoffmann und Campe, dem Lenz trotz allem treu geblieben ist, und wird ein großer Erfolg. Der Kritiker Volker Weidermann schreibt im "Spiegel" eine Hymne: "Das Verrückte an dem Buch, wenn man es heute liest, ist diese Unmittelbarkeit. Es hat eine Wucht und eine frische Sprache, unverbrauchte Bilder, kraftvoll, suchend, schließlich entschlossen." Frische Sprache, unverbrauchte Bilder? Wenn Walter die polnische Partisanin Wanda (Małgorzata Mikołajczak) kennen- und liebenlernt – sowieso schon ein grober Griff in die  Kolportage-Kiste! –, nennt er sie, als wäre er der Held einer Ufa-Romanze: "Eichhörnchen". Er erklärt ihr das so: "Du spielst in den Bäumen und hast Freundschaft geschlossen mit einem alten mürrischen Haselstrauch. Und du neckst die jungen Äste und forderst sie heraus und lässt dich von ihnen in die Luft schnellen." 

Trotz solch abgestanden-sentimentaler Lyrismen spürt man beim Lesen – und da hat Weidermann wieder recht –, dass Lenz diese Geschichte aus dem Dickicht eigener Emotionen heraus geschrieben hat. Was auch ihre bis zum Schluss seltsam unentschlossene Haltung erklärt: So wie Walter hadert nämlich auch Lenz mit einer bösen Welt, zögert vor dem Überlaufen, weiß nicht, was tun, es ist eben Krieg, es ist irgendwie Schicksal, es ist manchmal auch Gott und es ist vor allem und sehr eingeengt: die als "Klicke" bezeichnete Hitler-Regierung. Aber jetzt, so viele Jahrzehnte später, müsste ein Regisseur wie Florian Gallenberger ("John Rabe"), der auch am Drehbuch mitgeschrieben hat, doch einen anderen und für Reflektion und Analyse fruchtbaren Abstand zum Krieg haben. Und Gallenberger sieht diesen "Überläufer" auch als Geschichtslehre: Weil revisionistische und rechtsnationale Tendenzen salonfähig geworden seien, so der Regisseur im "Deutschlandfunk", sei dieser Film "ganz wichtig, um die Leute daran zu erinnern, was tatsächlich passiert ist und was das für heute bedeutet."

Gallenberger verschiebt die Akzente des Romans, verändert radikal den Plot und verlängert das Geschehen bis in die frühen Jahre der DDR und bis ins westdeutsche Wirtschaftswunder des Jahres 1956. Walter (Jannis Niewöhner) bleibt dabei immer der grüblerische Außenseiter, und die Welt um ihn herum bleibt schlecht. Die im Film zur Sängerin mutierte Wanda, deren Partisanentrupp von den Russen aufgerieben wurde, vor denen sie nun auftritt (oder auftreten muss), erklärt Walter den Krieg: "Es gibt keine richtige Seite!" (Zur neuen TV-Serie "Das Boot" von 2019 titelte die "Zeit" übrigens so böse und treffend: "Auch Deutsche unter den Tätern") So haben also alle Dreck am Stecken, sind alle irgendwie schuldig. Und die Russen vielleicht sogar noch ein bisschen mehr. Das Ungeheuerliche an dieser "Überläufer"-Verfilmung ist, dass sie nicht nur deutsche Schuld relativiert, sondern sich auch noch einreiht in revanchistische Nachkriegserzählungen wie "Soweit die Füße tragen" oder "Der Arzt von Stalingrad", in denen Ex-Nazis wie Josef Martin Bauer oder Heinz G. Konsalik am Russenbild für den Kalten Krieg herumschmierten. 

Eine erstaunlich textfremde Umsetzung

Der Verlag Hoffmann und Campe hat die von Lenz auf Druck des Lektors Görner überarbeitete zweite Fassung veröffentlicht, obwohl im Marbacher Literaturarchiv auch die erste vorliegt. Aus dieser gehe hervor, so schreibt das "Neue Deutschland", "dass die Hauptfigur des Romans sich völlig freiwillig und aus eigener Überzeugung und Initiative zum Kampf gegen Hitler und seine früheren Kameraden… entscheidet und nicht, wie in der zweiten Fassung, einzig und allein aufgrund von Zwang inform einer Exekutionsdrohung durch die Sowjets." Ein eher negatives Russenbild findet sich also schon in der zweiten Romanfassung. Aber nicht, so wie im Film, in diesem perfiden Ausmaß und in dieser denunziatorischen Konsequenz.

Die Zeit in der sowjetischen Besatzungszone, in der Walter es nicht mehr aushält, macht im Buch nur wenige Kapitel aus, in Gallenbergers eigenständiger respektive selbstherrlicher Fortschreibung dagegen fast die Hälfte. Da passiert unter anderem dies: Der im Buch sehr positiv gezeichnete Soldat Wolfgang (Sebastian Urzendowsky), anders als Walter ein sehr entschlussfreudiger Deserteur, wandelt sich in der DDR zum stalinistischen Prinzipienreiter (in der Buchvorlage hingegen überlebt er gar nicht bis zum Ende des Krieges). Und plötzlich sitzt da auch der zu Filmbeginn als Sadist und Mörder herumschurkende Unteroffizier Stehauf (Rainer Bock) vor Walter, der im Roman später nicht mehr auftaucht. Im Film ist Walter nun für das Ausstellen von Passierscheinen zuständig, es wäre also Zeit, einen Kriegsverbrecher auffliegen zu lassen. Aber Walter zögert, will Stehauf laufen lassen, und als dieser von Sowjetsoldaten erschossen wird, wirkt dies nicht nur für Walter, sondern auch für den Film selbst wie die Tat von Unmenschen. In solchen Szenen wird nicht nur Walter als unpolitischer "Jeder-ist-schuld"-Moralist gefeiert, hier wird ein neues Feindbild aufgebaut.

Ein auch gut in heutige Zeiten passendes Feindbild, in denen der Kalte Krieg seine Renaissance erlebt und dem "Spiegel" schon mal die Aussage rausrutscht, die Amis hätten Auschwitz befreit. Wie sich Westdeutschland von Nazischuld befreien und mit den Alliierten verbünden kann, haben "Historien"-TV-Filme wie "Dresden" (2006) oder "Die Luftbrücke" (2005) vorgemacht: durch das dramaturgische Herunterbrechen aufs scheinbar Private. Mal ist es die Liebe einer Deutschen zu einem britischen Piloten, mal zu einem US-General. Auch in Gallenbergers "Überläufer" wird die Liebe zu einer deutsche Schuld überlagernden und verdeckenden Instanz. Der Soldat Walter und die Partisanin Wanda schauen sich in die Augen und machen sich – geht's noch ein bisschen abgenutzter und süßlicher? – ein Bett im Kornfeld. Als Walter später Wandas Bruder erschießt – irgendwie ein Unfall oder sogar Notwehr –, macht sich bei ihr nur vorübergehend ein bisschen Wut breit. Danach singt sie: "Die Liebe wird dir alles verzeihen!" Ja, lieber Herr Gallenberger, ja, liebe ARD, so hätten Sie's wohl gern.
 


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