KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Mit Punk in die Welt

Mit Punk in die Welt
|

Datum:

Seit 35 Jahren spielt Kat, geboren in Schorndorf, Schlagzeug bei der niederländischen Kultband The Ex. Mit Musik begonnen hat sie in der Stuttgarter Punkszene der frühen Achtziger – davon zeugt ein alter Tonträger, der jetzt neu veröffentlicht wird.

Zurzeit tourt die niederländische Anarcho-Punk- und Weltmusikband The Ex durch Europa und feiert ihr 40-jähriges Jubiläum. Über die Jahrzehnte hat sich die Musik der Amsterdamer enorm weiterentwickelt, zum rohen Punk-Sound der Anfangstage kamen Elemente von Noise und Free Jazz über osteuropäische und türkische Melodien und zuletzt äthiopische und eritreische Elemente hinzu. Ihre Experimentierfreude führte schon zu Kooperationen mit weit bekannteren Musikerkollegen, ob Avantgarde-Cellist Tom Cora oder die US-Alternative-Ikone Sonic Youth. The Ex brechen gängige Rockstrukturen auf, verlassen starre Rhythmen und Schemen – und mit für diesen immer wieder wilden und überraschenden Sound sorgt an den Drums seit 35 Jahren eine gebürtige Schorndorferin: Katherina Bornefeld, kurz Kat.

Einen Anteil an diesem Werdegang hat auch der Club Manufaktur, der in den 1970ern dafür sorgte, dass Schorndorf ein Mekka der linken Gegenkultur und die heimliche Rockhauptstadt im Südwesten war. "Ab 1975 ging ich in das Jugendzentrum Hammerschlag und in die Manufaktur", erzählt Kat. "Die internationalen Bands, Theater und politische Diskussionen haben mir die Augen geöffnet. Diese Lebensschule hat mir gezeigt, dass die Welt veränderbar ist."

Von Schorndorf zog es die damals 20-Jährige 1981 nach Stuttgart. Dort trommelte und sang sie bei den Bands Masturbation, Leblose Blicke und 1982 und 1983 bei 3Musketiere. Mit Masturbation spielte Kat vor dem Gefängnis in Stuttgart Stammheim, aus Solidarität mit den Gefangenen der RAF und um gegen die Haftbedingungen zu protestieren.

Die schwäbische Punkszene als Nährboden

"Alles war erlaubt, bunt, verrückt und auffällig. Es machte Spaß, sich Normen zu entziehen und eigenwillige Kreationen zu entwerfen. Ich war schnell akzeptiert", sagt Kat. Die schwäbische Punkszene habe für sie den Nährboden geschaffen, zur selbstbewussten Frau zu reifen. Nicht alle kamen damals mit der Geschwindigkeit mit, in der Punk verkrustete Denkmuster aufbrach. Viele Jungs steckten noch in ihren Rollenklischees und alberten herum, wenn sich Punkfrauen auf die Bühne wagten – die andererseits bei Bands wie Siouxsee and the Banshees, Blondie oder The Slits schon selbstverständlich waren. Auch in Stuttgart gab es damals schon eine reine Frauenpunkband, nämlich Frauenklinik.

Kat jedenfalls fühlte sich frei genug, um dilettantisch loszutrommeln und auf Alltagsgegenstände einzuschlagen. Drummer waren rar und sie war gefragt, zumal sie ihr Spiel rasch verbesserte. Über das schreibt in der Osterausgabe 1982 des Tübinger Fanzines "Die (H)eilige Schrift" ein gewisser M.M.: "Kat übertrifft alle Frauen, die bisher auf den Berliner Jazztagen auftraten!"

The Ex

1979 starteten vier junge Punks in Amsterdam mit Gedichten und Graffiti, es fehlten nur noch die Instrumente. Strohhalme entschieden, wer sich am Equipment austoben durfte – eine musikalische Ausbildung hat keines der Bandmitglieder. Drei kreischende Gitarren, aber kein Bass, denn die tief gestimmten Trommeln reichten aus. Über die Jahrzehnte haben sich The Ex weiterentwickelt, immer mehr Stile und Sounds aus aller Welt integriert, sie traten sogar schon als 20-köpfige Bigband auf. Von Anarcho- über Ethno- bis Jazz-Punk reichen die Kategorisierungsversuche; ihr Stil sei "schwer zu definieren, aber das müssen wir ja auch nicht", sagt The-Ex-Gitarrist Andy Moor. Bekannt wurden Kooperationen mit Avantgarde-Cellist Tom Cora, den US-Alternative-Ikonen Sonic Youth und Tortoise, oder Jazzmusikern aus dem Umfeld des niederländischen Free-Jazzers Han Bennink. Von Anfang an verstanden sich The Ex auch als politische Band, streng antikapitalistisch und antirassistisch. Dazu gehören Texte über den spanischen Bürgerkrieg und den anarchistischen Widerstand auf einer Doppelsingle von 1986 oder die Benefiz-Single "Weapons for El Salvador" von 1981. Bis heute erschienen von The Ex mehr als 20 Alben. Von den Gründungsmitgliedern ist heute nur noch Gitarrist Terrie Hessels dabei – und am zweitlängsten in der Band Katherina "Kat" Bornefeld, die 1984 einstieg. (sid)

Zweieinhalb Jahre später überzeugte sie dann auch die Musiker von The Ex. Ende 1984, Kat war gerade nach Amsterdam gezogen, suchte die Band eine neue Drummerin. Über einige Ecken hatte The-Ex-Gitarrist Terrie Hessels von Kat erfahren. Er rief sie an und fragte, ob sie vielleicht Lust habe, mit ihnen zu spielen – "ohne sie je spielen gehört zu haben", erzählt Hessels, "es war vieles möglich in diesen Tagen!" Neben Kat bewarben sich noch zwei weitere Schlagzeugerinnen. "Die erste hat davor in einem Zirkus gespielt", erzählt Hessels, "das war lustig, funktionierte aber nicht. Die zweite war ein Hardcoregirl. Ihre Heavy-Punk-Klischee-Rhythmen funktionierten auch nicht. Dann kam Kat rein und es klappte von der ersten Sekunde an!" Und das, obwohl Kat The Ex zuvor weder gesehen noch gehört hatte. "Wir waren erstaunt, so ein einzigartiger Stil", schwärmt Hessels noch heute. "Jetzt ist sie 35 Jahre bei uns. Immer noch mit ihren unerwartet originellen, rollenden und swingenden Rhythmen."

Schon 1983 trommelt Kat ihren unverwechselbaren Stil

Kats Abflug von Stuttgart nach Amsterdam ist wieder gegenwärtig, denn im Mai 1983 nahm sie im Keller vom Emmaus Stuttgart mit 3Musketiere eine Kassette auf, die nun als CD wiederveröffentlicht wurde. Kleiner Exkurs: Gelegen in der Nesenbachstraße 52, war Emmaus eine soziale Einrichtung, Lager und Werkstatt, in der alte Möbel restauriert wurden. Einige Punks arbeiteten und wohnten dort, auch Kat. In direkter Nachbarschaft besetzten Punks das Haus Nesenbachstraße 49, gelegen im heute vornehmen Stuttgarter Gerberviertel. Im Café Nesi wurden Hausbesetzungen, Demos und kleine Konzerte organisiert. Einen Katzensprung entfernt stand der Tempel der süddeutschen Punkszene, die Mausefalle, die zu Kats Lebenswelt gehörte (und in der, nebenbei, ein gewisser Stefan Siller damals Punk- und New-Wave-Konzerte organisierte). Im Versammlungsraum des Emmaus wurden Arbeitsgruppen gebildet – zur Unterstützung der Revolution in El Salvador, für die Emanzipation der Frauen, für Hausbesetzungen. "Die linksorientierte Punkszene war lebendig", beschreibt Kat das Lebensgefühl von damals. "Wir warfen alte Systeme über Bord und kämpften für Freiheit und Gleichheit."

Das Emmaus ist längst Geschichte, doch die alte, dort entstandene Kassette gibt es noch. Sie wurde in Zürich restauriert und in Amsterdam als CD gemastert. Unter dem Titel "Abflug" ist sie frisch erschienen bei dem von The Ex gegründeten Label Terp Records. Die Besetzung ist bemerkenswert: Kat singt und trommelt in ihrem unverwechselbaren Stil, Bassistin ist Io und Sigrid, Kats Mutter, spielt Violine. Io motivierte Kat, die aus einer Musikerfamilie stammt und eigentlich Piano und Gitarre spielte, sich ans Schlagzeug zu wagen; die beiden spielten bereits bei den Bands Leblose Blicke und Masturbation zusammen.

"Abflug" ist ein lokalgeschichtliches Dokument, und eine Zeitreise: Stücke wie "Stunde des Vergessens", "Weg der Sonne" oder "Vater Staat" drücken die experimentelle Punkstimmung der frühen 80er aus. Manchmal erinnert die Musik aber auch an Krautrock. "Worüber ich selbst verwundert bin, ist, dass unsere Musik noch immer ein Unikum ist und die Texte total aktuell sind", sagt Kat. Tatsächlich wirken einige Textstellen Hippie-like, etwa in "Schicksal": "Unbegreifliche Träume und Taten warten / Auf dich / Folge mir doch / Mit offenem Herzen / Ich entführ dich dafür auch / Aus dem Dunkeln ins Licht / (...) / Nimm die Füße in die Hände / Abflug!" Ganz schön esoterisch, aber auch mutig und wütend. Kein Wunder! Kat dichtete mit Herz und Seele und nennt sich heute selbst einen spirituellen Menschen. Gerade ist eine CD von ihr erschienen, Titel: "Angeltalk". Ein Sound-Bad mit tibetanischen Klangschalen und Gongs und einem Schlagzeugspiel, das sie schamanisch und Trance-artig nennt.

Besonderes Kapitel: The Ex und Äthiopien

Eine so offene, nonkonformistische und als Kollektiv agierende Band wie The Ex bot und bietet sicher besonders gute Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln. Kat sagt, sie habe sich hier immer gleichberechtigt gefühlt und ihren Stil verfeinern können. Mittlerweile sind es über 1700 Konzerte, die sie mit The Ex auf der Bühne stand, und sie schwärmt von weltweiten Begegnungen mit Artisten, Bands, Technikern, Programmierern, dem Publikum und Abenteuern, die sie dabei erlebte. "Ich bin stolz und dankbar, was wir erreicht haben", schreibt sie von der Tour zum 40-jährigen Band-Jubiläum. "Ein gemeinsamer Weg voller Respekt und Freude abseits der Musikindustrie."

Ein besonderes Merkmal von The Ex sind seit Langem die Reisen nach Äthiopien. "Terrie von The Ex und seine Frau Emma fuhren 1996 mit einem Jeep durch Afrika und kamen auch durch Äthiopien. Daraus entwickelte sich ein reger Kontakt zur äthiopischen Gemeinschaft in Amsterdam", erzählt Kat. "Ich lernte, ihre Lieder zu übersetzen und für mich phonetisch singbar zu gestalten. Wir wurden ermutigt, in ihrem Land zu spielen." 2002 dann die erste Reise der Band für drei Wochen nach Äthiopien. "Wir mieteten einen Bus mit Chauffeur und zogen wie ein Zirkus von Stadt zu Stadt, spielten in Hallen, Clubs, Musikschulen, Parks und auf Plätzen. Die Reaktion war fantastisch, und vor allem unsere Version ihrer Lieder fanden sie lustig", sagt Kat.


2005 lernte die Band den legendären äthiopischen Saxofonisten Getatchew Mekuria kennen und startete ein gemeinsames Projekt mit ein paar befreundeten Gastmusikern aus Frankreich, den USA und Holland. Mit diesem Projekt spielte sie die folgenden Jahre weltweit in Clubs und auf Festivals, nahm zwei Alben auf und feierte mit der Band Fendika und dem Tänzer Melaku Belay enthusiastische Auftritte.

Die Tänze, die Musik, das Essen und vor allem die Power der äthiopischen Frauen haben es Kat angetan. "Wir Frauen hier im Westen haben viel von unserer ursprünglichen Kraft eingebüßt. Das ist mir dort klar geworden und hat mich sehr inspiriert. In Äthiopien spielen Frauen eigentlich nicht Drums, aber da wir dort auch wiederholt im Fernsehen waren, hörte ich später, dass nun auch Frauen an Musikschulen Schlagzeug lernen." Kat, die kulturelle Botschafterin.

Info:

The Ex sind noch bis Mitte Dezember auf Jubiläumstour. In die Nähe von Stuttgart kommen sie dabei leider nicht – hier alle Termine.

Simon Steiner, Historiker, Musiker, ehemaliger Lehrer und Seminarschulrat, war als Saxophonist in Bands wie "Sissis Kinder" um 1980 selbst Teil der Stuttgarter Punk-Szene. 2017 erschien sein Buch "Wie der Punk nach Stuttgart kam – und wo er hin ging" (Kontext berichtete).


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!