KONTEXT:Wochenzeitung
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"Nimm mich mit"

"Nimm mich mit"
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Auf dem Membrane-Festival im Literaturhaus Stuttgart hat der nigerianische Autor Emmanuel Iduma sein Buch "A Stranger's Pose" vorgestellt: Die Pose eines Fremden. Kontext erstveröffentlicht Auszüge in deutscher Sprache.

Seine ersten Reisen außerhalb Nigerias unternahm Emmanuel Iduma mit der Künstlergruppe Invisible Borders. Die Fotografen, Autoren und Künstler haben vor zehn Jahren begonnen, über Land ausgedehnte Reisen in andere afrikanische Länder zu unternehmen: unter anderem nach Lubumbashi, Dakar und Addis Abeba. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass sich Künstler und Wissenschaftler aus verschiedenen afrikanischen Ländern zumeist nur in den USA oder in Europa treffen. Sie wollten ihren eigenen Kontinent kennenlernen.

Iduma hat später eine Ausstellung der Fotografen auf der Biennale von Venedig kuratiert und bleibt der Gruppe eng verbunden. Seine erste Reise führte ihn in den Tschad – unten beschrieben in den Kapiteln 4 und 8. Der Kunstkritiker und Autor ist aber auch auf eigene Faust gereist. "Die Idee zu dem Buch kam von diesen Reisen", schreibt er auf Kontext-Anfrage. "Aber ebenso von dem Bedürfnis, über die Gefühle der Entfremdung zu schreiben, die ich den größten Teil meines Lebens empfunden habe."

Erstmals auf Deutsch veröffentlicht Kontext nun Auszüge aus "A Stranger's Pose", übersetzt von Annette Bühler-Dietrich. "Nimm mich auf deine Reisen mit", wünscht sich wer darin.

Nimm mich mit! – Auszüge aus "A Stranger's Pose"

1 – Auf einen Impuls hin, nichts Anderes, fahre ich in einem weißen E350er Ford-Minibus bei Sonnenuntergang nach Mauretanien. Ich sehe Dünen und dann Häuser, die so gebaut sind, als würde man Streichholzschachteln imitieren wollen. Heute beginnt Eid-ul-Fitr. Männer laufen von den Moscheen zurück, Frauen und Kinder hinter ihnen her, sicheren Schrittes und feierlich. Ich sehe das alles mit gegen das Fenster gepresster Nase. Die Männer tragen lange, weit geschnittene Gewänder, meist in Weiß, manchmal in Hellblau. Ich sehe sie von hinten und denke an das Wort "Säbelrasseln". Ich bin ergriffen von diesen stolz schreitenden Körpern, die in ihr feinstes Tuch gekleidet sind und auf Häuser zugehen, die aussehen, als seien sie nur sieben Fuß hoch. Ich beneide sie um ihren begeisterten Gang, ihre fehlende Eile, als ob sie durch das Gehen ein Stück Erde besitzen.

Ich möchte diese Männer sein.

2 – Wachend oder träumend kehren Gesichter und Bilder und Gesten meiner Reisen in großer Anschaulichkeit zu mir zurück. Manchmal ist es der Wind, der gegen das Fenster des Autos schlägt, in dem ich bin. Oder ein ausgehungerter Hund, der nach einem glitzernden Knochen im Müll stöbert. Oder ein unbemanntes Boot in der Mitte eines Flusses, aus der Ferne gesehen.

Ich fing an E-Mails mit einem Verwandten zu wechseln, der um Anonymität bat. Meine erste E-Mail war eine Liste all der Städte, in denen ich während meiner Reisen geschlafen hatte, wenigstens eine Nacht. Städte, in denen ich mich im Schlaf hin und her warf, ungewiss, wo ich war, ob ich in Schweiß oder in Tränen gebadet war, oder ob ich neben einer Geliebten oder einem Reisegefährten lag. Ich hoffte, so schrieb ich, dass die Städte von ihren Ländern losgelöst erscheinen würden – ein Atlas einer grenzenlosen Welt. In der ersten Antwort, die ich erhielt, wurde ich gedrängt, Geschichten merkwürdiger Beobachtungen, Gefühle und Begegnungen, erinnert oder vorgestellt, zu erzählen.

Nimm mich auf deine Reisen mit, antwortete mein Verwandter. Lass mich an deiner Stelle gehen.

3 – Einmal kam ich an einer Bushaltestelle in Lomé 10 Minuten nach der Abfahrtszeit an. Der Bus nach Accra fuhr alle zwei Stunden. Ein Angestellter riet mir, ein neues Ticket zu kaufen. Ein Kulturzentrum hatte sich große Mühe gegeben um einen Zeitplan für meine westafrikanische Buchreise aufzustellen und einzuhalten. Ich sprach kaum Französisch und hatte kein funktionstüchtiges Telefon, um meinen Gastgebern die Notlage zu erklären. Da ich versuchte, die Situation zu retten, ging ich auf einige Fremde im Busbahnhof zu. Ich fragte sie, ob ich ihre Telefone leihen könne, und ein paar Minuten hörte jeder zu, verwirrt hinsichtlich der Bedeutung meines Französisch, das aus wenig mehr als Gesten und Gebrabbel bestand. Als sie dann verstanden, schüttelten sie den Kopf und hatten die eine oder andere Ausrede.

Die physischen Details dieses Busbahnhofs in Lomé sind mir entglitten, aber ich vergesse die verneinenden Köpfe der möglichen Wohltäter nicht. Hatte ich diese Wendung der Ereignisse nicht verdient? An diesem Morgen suchte ich mich mit den Straßen um mein Hotel herum vertraut zu machen, bevor ich duschte. Ich fotografierte Mauern, Tore und Durchgänge im Zeitvertreib. Auf eine dieser Mauern blickend versuchte ich, den Hinweis vendre, ein Wort für verkaufen, mit Sinn zu füllen; ne pas – ein Sinn von Verbot. Jenseits der Mauer schien das Leben ohne Einschränkung weiterzugehen, aber die Inschrift schien davor zu warnen, hinüber zu gehen. Wenn die Leute jenseits der Mauer groß genug waren, sah ich ihre Köpfe, in der Unterhaltung nickend, sich im Widerspruch wendend, im Gleichgewicht in ihrer Bewegung.

4 – Ich reise unter der Abendwolke, ein ockerfarbener Himmel. Das erste Wort, das ich betrachte, ist marché. Ich sehe den Stapel abgelegter Reifen einer Werkstatt neben dem Kiosk und stelle mir unter dem Wort alles andere als einen kleinen Markt vor. Hier, bei meinem ersten Aufenthalt außerhalb Nigerias – auf der staubigen Straße, die an den Stadtrand Kousseris führt, 25 Kilometer von N'djamena – lerne ich, dass ich auf die andere Seite der Sprachgrenze gelangt bin. Wenn ich mein Gesicht zeigen könnte, würde es die Falten und Runzeln eines stummen Beobachters zeigen.

5 – Tagelang hatte ich keinen Führer in Dakar, je nach Mamadous Verfügbarkeit. Es amüsiert mich, jetzt wo ich mich erinnere, wie ich im Stadtbezirk Point E in Dakar umherlief, unruhig, welche Welt ohne englische Wörter möglich wäre. Mein Französisch und mein Wolof bildeten nicht mehr als einen Satz, wenn ich sie zusammennahm.

Einmal, als ich über das Meer in Ngor blickte, folgten meine Augen den Wegen der Surfer, wie sie ihre Stunts machten. Ich sehe, was Flüsse – der Nil in seiner Ausdehnung jenseits des Mittelmeers, der Niger, wie er Timbuktu und Lokoja verbindet – mit ihrer fließenden Masse uns lehren. Welle stürzt über Welle, wie ein Dialekt auf einen anderen einwirkt. Alle Flüsse sind mehrsprachig.

Ohne meine Übersetzer, denen meine Fragen anvertraut waren, war ich nichts, egal ob in Bamako, Abidjan oder Casablanca. Aber allein, was oft der Fall war, fragte ich mich, wie ich ohne sie überleben würde.

6 – Ich betrachtete französische Wörter um ihre Bedeutung zu erraten. Aber manchmal täuschte ich Verständnis vor. In Rabat, als ich zu Pause Gourmet ging zu Salat und Milchkaffee, sagte ich auf alles Ja, in der Hoffnung, dass die mir gestellten Fragen ein Ja oder Nein verlangten. Alle meine Jas deuteten eine größere Paranoia an – die, als ahnungsloser Fremder erkannt zu werden. Was zum Teufel machte eine Person, die weder Französisch noch Arabisch sprach, in Marokko? Manchmal passte Ja nicht, oder war unzureichend, brauchte eine Anpassung. Die Kellnerin bemerkte mein begrenztes Verständnis sofort und fragte in einer deutlicheren, langsameren Art, was ich wolle. Wieder nickte ich und deutete durch ein Lächeln Entschiedenheit an. Damit war alles klar.

Oder wenn Khadija an meiner Tür klingelte. Ich zog mich an und ging zur Tür. Sie wischte den Boden, diese Frau mittleren Alters, die anfing in schnellem Französisch zu sprechen, wenn ich erschien. Ich erkannte, dass sie über ihre Arbeit im Gebäude sprach, travail, ici. Mein Nicken war zögerlich, spekulativ. Das machte ihr nichts. Sie wollte mit mir Telefonnummern austauschen. Falls ich Hilfe für das Apartment bräuchte, könnte ich sie anrufen. Sie ging und kam mit ihrer Nummer wieder, auf einem kleinen Stück Papier, in blauer Tinte. Auch hatte sie ein kleines Stück Papier für meine Nummer. Als ich ihr meine Nummer gab, fragte sie, ob sie mich anrufen dürfe. Oui, oui.

Oder als ein Mann vom Hotel kam, um mich zu einem neuen Apartment zu bringen. Die Abmachung war, dass ich im ersten Apartment bliebe, bis das neue bereit sei. Er kam, um mir mit meinem Gepäck zu helfen und erklärte es in begrenztem Französisch. Von unserem Übersetzungsproblem genervt, fragte er, ob ich Arabisch spräche. Nein. Von da an schien er unruhig, aber auch zurückhaltend – fast hastig in der Art, wie er erklärte, was er meinte, indem er Sachen hochhob und sie forttrug, bevor er versuchte zu erklären, wohin wir gingen.

Nach regelmäßigen Besuchen bei Pizza Zoom für Mittag- und Abendessen schien es, ich sei als Fremder markiert. Ich nahm wahr – vielleicht durch übertriebenes Wichtignehmen meiner Person – dass ich der Gegenstand flüchtiger Diskussionen in der Küche war. Kellnerinnen und ihre männlichen Kollegen erzählten sich ihre Begegnungen mit mir. Er nickt zu allem, er spricht "brochette" nicht richtig aus, er liest immer ein englisches Buch. Englisch ist hier mein Schicksal. Einmal, als ich versuchte, für meine Mahlzeit zu bezahlen, wechselte der Kassierer ins Englische um zu bestätigen, was ich gehabt hatte. Ich reagierte mit Erleichterung. Endlich.

Ich trug meine fehlenden Sprachkenntnisse wie eine Maske, einen Schleier, eine Schicht. Darunter war die greifbare Kommunikation, außerhalb der Reichweite. Doch ich klagte nicht darüber. Mein Mangel war im Vergleich gutartig. Für Migranten, die in Marokko aus Ländern südlich der Sahara ankommen und die ihren Lebensunterhalt verdienen oder fast unendlich auf ein besseres Leben warten müssen, bedeutet Akkulturierung Überleben. Ohne eine Kenntnis von Französisch oder marokkanischem Arabisch stehen sie der kriegerischen Wand der Unzulässigkeit gegenüber, an die Ränder ihrer neuen Gesellschaft gefesselt.

7 – [...]

8 – Einmal, während ich in N'djamena war, ging ich auf einem Markt mit einer kleinen Kamera umher. Im Laufe meiner Spaziergänge unterließ ich es, zu fotografieren. Manchmal machte ich Ausnahmen, das hing davon ab, was zu sehen war. Der Markt in N'djamena war der erste Ort, an dem ich sah, wie der Kopf und die Eingeweide eines Geiers verkauft wurden. Man sagte mir: für Voodoo.

Eine Frau im Hijab hielt einen weinenden Mann fest, sie streichelte seinen Kopf, wischte sein Gesicht ab, ihre Beine ausgestreckt auf der staubigen Erde. Ich ging heran, unsicher. Als ich bemerkte, dass ich die Aufmerksamkeit der Frau, der es gelungen war, den Mann etwas zu beruhigen, auf mich gezogen hatte, hielt ich die Kamera für einen Schuss hoch. Der plötzliche Schrei der Frau schreckte den Mann auf und er wurde wieder untröstlich. Ich wurde unruhig, als ich bemerkte, dass die Leute auf mich zeigten, mich einkreisten. Ein Polizist erschien – vielleicht hatte man mich beobachtet oder, noch schlimmer, man war mir gefolgt. Der Polizist zeigte auf die Kamera. Ich gab sie ihm ohne zu protestieren. Er führte mich zu einem Polizeirevier, das mir vorher nicht aufgefallen war, etwa 50 Yards hinter dem Ort, wo der weinende Mann lag.

Sechs Stunden später und nach dem Eingreifen eines Hoteliers, den ich bei meiner ersten Nacht im Tschad getroffen hatte, ließ man mich wieder frei. Die Fotografie war gelöscht worden. Ich ging zurück zum Markt um meinen Weg nach draußen zu finden. Die Frau im Hijab tröstete den weinenden Mann noch immer, der jetzt, noch dazu, dass er untröstlich war, ab und zu Staub auf die Leute warf, die vorbeigingen.


Emmanuel Iduma: A Stranger's Pose. Cassava Republic Press, Abuja, London, 2018. Das englische Original ist im deutschen Buchhandel erhältlich: als E-Book für 11 Euro, als 208 Seiten starkes Taschenbuch für 14,50 Euro.


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