KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

"Einfach nicht zu Ende scheitern"

"Einfach nicht zu Ende scheitern"
|

Datum:

Die S-21-Baugrube als Bühne der Avantgarde: Der Theaterregisseur Schorsch Kamerun wird hier "Motor City Super Stuttgart" inszenieren, eine "Dystopie-Sinfonie". Ein Gespräch über Stuttgart 21, die gesellschaftliche Notwendigkeit zur Reduktion und die Ambivalenzen einer Inszenierung von Gnaden der Bahn.

Es wird ein ziemlich buntes Kollektiv sein, das vom 19. bis 22. September viermal in die S-21-Baugrube ziehen wird: Die Stuttgarter Philharmoniker, viele Stuttgarter KünstlerInnen und BürgerInnen, darunter eine Sängerin der Staatsoper und ein Schauspieler des Theaters Rampe. Gemeinsam mit ihnen will Schorsch Kamerun, Hamburger Theaterregisseur und Punk-Musiker ("Die Goldenen Zitronen"), "die Wunde der Stadt und der gesamten Metropolregion", so die Ankündigung, "musikalisieren und befragen". Die erste Probe in der Baugrube wird erst drei Tage vor der Premiere möglich sein, davor wird an verschiedenen Orten in der Stadt geprobt, unter anderem im Theater Rampe. Dort haben wir Schorsch Kamerun getroffen.

Schorsch Kamerun, Sie waren in den letzten Jahren immer wieder in Stuttgart für Theaterinszenierungen. Wie fühlt sich das momentan für Sie an, im Hauptbahnhof anzukommen, die Baugrube zu sehen?

Man kommt an und denkt: Uff, was für Umstände, gemessen an dem, was die Zielvorgabe ist. Es ist so grob, so massiv in der Sichtbarkeit. Und man glaubt: Da hat sich eine Community hart übernommen. Im Verhältnis auch zu dem was diese Umgebung ausmacht – man erlebt diese Stadt ja sofort in eine Richtung liegend, in diesem Längskessel. Und nun wird dort, super zentral, eine größtmögliche Grube geschlagen, und zwar quer gesetzt – das fühlt sich schon merkwürdig bizarr gedacht an. Daneben noch das gerade entkernte Ex-Bahnhofsgebäude, dort kommt verrückterweise keine Öffentlichkeit rein, sondern ein Hotel, also eine Privatisierung im allen bekannten Stadtherzen. Und wenn man dann noch erlebt, dass an der Längsseite Cityhighways schleifen, dass Stuttgart als eine doch recht betuchte Gemeinschaft damit die schlechteste Luft produziert – all diese Dinge in einer Gleichzeitigkeit, verbunden mit der Behauptung, mit dieser Giga-Umwälzung einen Voran-Schritt zu machen – da denkt der naive Ankömmling: Au Backe.

Lauter Widersprüche?

Hochgradige, zumal in einer Gegend, die grüne Regenten stellt, das Grüne mitgedacht und erfunden hat. Dagegen die genetische Materialreligiosität, dass Technik Leben verbessert. Als Zureisender darf ich sagen, dass Ansprüche und reale Erzählung kaum übereinanderliegen.

Sie leben in Hamburg-St. Pauli und inszenieren jetzt ein Stück an Stuttgarts wahrscheinlich kontroversestem Ort. Wie kam es dazu?

Irgendwie hat es uns – mit "uns" meine ich eine diskursive Szene, als deren Teil ich mich empfinde – immer hingezogen zu kontroversen Orten. Orte mit bestimmten Regelstellungen, an denen sich Gesellschaft entscheidet, die hinterfragt werden müssen, weil sie Dasein autoritär versuchen zu bestimmen. Wir haben probiert uns einzumischen, von dem Moment an, wo wir auf den Dorfplatz gegangen sind in unseren engen Käffern, bis dahin, dass wir uns beispielsweise in Hamburg in Diskussionen und Aktionen zu Olympia, Elbphilharmonie, oder G20 engagieren. Also, "Stadt selber machen", heraus gedacht aus einer der frühen Punk-Thesen: "Das kannst auch du!"

Wie lief, abgesehen von dieser Grunddisposition, der Weg bis zur jetzt kommenden Inszenierung ab?

Anfang 2018, als ich im Kammertheater "Ein Sommernachtstraum im Cyber Valley" inszeniert habe, hat uns die damalige Stuttgarter Kulturamtsleiterin Birgit Schneider-Bönninger erzählt, dass es einen Fonds gibt, der sich mit Kunst im öffentlichen Raum beschäftigt, und sie meinte, das wäre eventuell etwas für uns. Wir haben dann gedacht, wenn wir uns Themen wie Wachstumsgebot und Stuttgart 21 widmen, dann wäre es richtig, das nicht im Theaterraum zu machen, sondern direkt in der S-21-Baustelle. Ich weiß natürlich um die Ambivalenzen: Du musst den Bauträger fragen, du musst die Deutsche Bahn fragen, das geht gar nicht anders. Die helfen uns ja auch.

Was erwartet die Zuschauerinnen und Zuschauer bei der Inszenierung?

Wir machen ein Konzert mit den Stuttgarter Philharmonikern, unten in der Baugrube – bei den Kelchstützen eins und zwei, den ersten fertigen – aber auch in anderen Teilen der laufenden Baustelle. Wir befragen Widersprüche so zentral wie geht, und versuchen, sie zu schärfen. Das Pro und Contra Stuttgart 21 ist Absprung, erzählen wollen wir aber losgelöst davon, eine positive Dystopie-Vision.

Positive Dystopie, das ist ja eigentlich ein Gegensatz.

Ich beziehe mich auf das Beispiel Detroit, eine Stadt, die sich gerade zurückerfindet. Detroit hatte über die Industrialisierung, die Automobilindustrie, die massenhaft vorhandene Arbeit im 20. Jahrhundert einen gewissen Wohlstand erreicht. Das galt als Muster. Dann brach das weg: Erst gab es Rassenunruhen, Weiße gingen raus, Schwarze blieben, die Arbeit verschwand durch die Krise der Automobilindustrie, die Bevölkerung ging von zwei Millionen auf 700 000 zurück. Ein komplett niederliegender Ort also.

Wie kommen wir nun zum Positiven?

Im Augenblick erlebt Detroit eine bemerkenswerte Entwicklung – weil es etwas hat, was andere Städte nicht mehr haben: Raum für Unbespieltes, Ecken mit Unentdecktem – in dem Sinne, wie es Walter Benjamin als eine aufregende "Porösität" beschreiben würde. Also das, was an "Stadt" – sogar ökonomisch – wertvoll ist: Lücken zum ausbreiten, zum ausprobieren. Detroit probt eine neue, moderne, eine "Green City", Urban Farming floriert, es kommt die Fahrradstadt – ausgerechnet in der einstigen Autostadt radeln die Leute auf fünfspurigen Straßen. Stimmen die Gesetze der Gentrifizierung, wird Detroit supererfolgreiche Zukunftsmetropole, mit einer Attraktivität, die über Mangel entstanden ist.

Was kann Stuttgart von Detroit lernen?

Ich bin überzeugt, wir müssen uns augenblicklich Gedanken machen über Reduktion. Wir werden eine positive Besetzung von "Umkehr" erzählen müssen. Unser Versuch ist nun zu sagen: Stuttgart könnte die Krise, den möglichen Niedergang der Motorenwirtschaft auslassen. Wir haben im Herzen der Stadt mit der Riesenbaustelle einen Leerstand, Möglichkeit für visionäre Besetzung also. Lassen wir die genau so, bauen nicht weiter, machen daraus eine Art utopischen Lebensmodell-Park. Real, emotional und philosophisch. Wir reden deswegen auch mit vielen Leuten in Stuttgart, die bestimmte urbane Ideen vertreten, die zum Beispiel Urban Gardening oder Farming machen.

Weg vom Wachstums-Dogma?

Es muss sein. Alle finden gerade Fridays for Future super, nehmen es aber im wichtigsten Punkt nicht ernst genug. FFF sagen ja: Wir setzen aus, weil wir wissen, wenn es weitergeht in diesem Tempo, wird die Erde in 30 Jahren nicht mehr lebenswert sein. Eigentlich sollten sie permanent schwänzen, nicht nur freitags.

Und Ihr Motor-City-Park, Gemüsebeete unter den Kelchstützen?

Auch. Man stelle sich vor: Diese Stadt, abseits ihrer Spaltung, die ich nachvollziehen kann, erklärt kollektiv: Wir werden das erste Symbol für eine unabwendbare Umkehr, wir hören an diesem Punkt auf und nehmen die S-21-Baugrube als eine positive Gedächtniskirche. Eine Symbolik, die stärker nicht sein könnte, mit der Stuttgart superweltberühmt werden könnte – und es müsste nicht sehend scheitern, wie der Rest der Zwangsselbstaufschichtungswelt! Normalerweise erlebt die Menschheit immer ein Scheitern, und dann erst wird neu gedacht. Das könnte man einfach auszulassen: Man scheitert gar nicht mehr zu Ende mit dem Bahnhof und sagt stattdessen: Das ist das Symbol für die Möglichkeit.

Da könnten jetzt die ganzen am Projekt Beteiligten, die Bahn, die Stadt, das Land, etwas dagegen haben.

Ist klar. Aber das heißt ja nicht, dass man nicht trotzdem – kollektiv, mit vielen lokalen und hoch unterschiedlichen StuttgarterInnen – überdenken darf, zur selben Situation. Wir gehen hierbei nicht in den nächsten Faktencheck, sondern wollen extra radikal andere Optionen durchgehen.

Es ist natürlich auch die Frage, inwiefern so eine geforderte Reduktion in diesem Wirtschaftssystem klappen kann.

Aber alle wissen doch längst, dass wir etwas leben müssen, was nicht mit unentwegtem Weiteraufstapeln zu tun hat. 2015 wurde das Pariser Klimaschutzübereinkommen unterschrieben. Ich weiß schon, es fühlt sich naturgemäß schwer an, etwas herzugeben, glaube aber, dass es nicht Lösung ist, zu sagen wie zum Beispiel der hiesige Regent ...

... Ministerpräsident Kretschmann ...

... zu sagen: a) wir werden das Auto weiter bauen, aber b) wir bauen einfach das bessere Auto. Ich glaube, es lohnt sich laut über Bock bringenden Autokomplettersatz zu forschen. Derartiges versuchen wir zu besprechen in der Supermaterialgrube.

Allein das Wort "Umkehr" klingt ja nahe an den Forderungen der S-21-Gegner.

Naja, da lautet der Vorschlag ja "Umstieg". Wir versuchen aber nicht parteiisch zu empfehlen beim "Für oder Wider". Das schaffen wir nicht mit unserem Konzertabend.

Trotzdem haben Sie auch schon Kontakt gesucht zu S-21-kritischen Gruppen.

Ja, auch weiterhin. Es sind auch einige bei dem Stück dabei.

Nun gibt es unter den S-21-Gegnern einige, die das, was Sie vorhaben, sehr kritisch sehen. Manche lehnen es ab, weil sie es als Werbe- oder Greenwashing-Effekt für die Bahn sehen, die sich, da sie Sie inszenieren lässt, als sehr offen und liberal darstellen kann. Kurz: Dass Sie ein nützlicher Idiot der Bahn sind. Sind Sie das?

Unsere Aufgabe ist es Ambivalenzen aufzuzeigen und auszuhalten. Ich glaube nicht, dass wir Werbung machen, denn das, was ich vorschlage, wird auch die jetzige Bahnhaltung nicht begeistern. Aber selbstverständlich weiß ich, dass auch die kritischste Kunst schnell im Stadtmuseum landet, oder zu Reklametext werden kann. Wir werden nichts featuren, aber auch nicht die nächste Demo sein. Vielmehr beschreiben wir einen völlig anderen Ansatz. In Hamburg gehe ich immer noch nicht in die Elbphilharmonie, halte das nicht aus, will daran nicht gestalten. Aber die Welt ist komplex, es gibt nicht nur Schwarz-Weiß, die Befürchtungen zu einer Baugruben-Inszenierung verstehe ich ja trotzdem.

Wie konkret sind eigentlich die Absprachen mit der Bahn?

Ganz klar: Wir beschreiben, was wir vorhaben, dass wir von dann bis dann rein wollen, unser Zeugs machen und dann wieder raus gehen. Natürlich können wir nicht überall herumrennen, sondern wir kriegen bestimmte Bereiche. In Inhalt und Ausdruck müssen wir natürlich völlig frei bleiben, sonst wäre es Quatsch.

Gab es noch keine Versuche von Seiten der Bahn, Einfluss zu nehmen?

Tatsächlich hat man versucht, aber das geht natürlich nicht.

Bereut die Bahn es mittlerweile?

Vielleicht. Die sind schon nervös, habe ich den Eindruck. Andere werden sagen: Scheißegal, wie kritisch ihr seid, ihr werdet trotzdem Schützenhilfe kriegen. Das wird sich wohl nicht ganz zu Ende beweisen lassen, in guter wie in schlechter Auslegung.

Es kann aber sein, dass, wenn Sie die Texte vorlegen, die Bahn die Inszenierung absagt?

Im Falle des Plakats war es jedenfalls so, dass ich gesagt habe, wenn Sie Änderungen erzwingen wollen, werden wir das Konzert nicht spielen.

Das Ganze geht also mit einigen Reibungen vonstatten?

Schon, weil die Bahn gewöhnt ist, dass, wenn sie so etwas zulässt oder in Auftrag gibt, es in ihrem Sinne umgesetzt wird. So können wir aber nicht sein. Auf der anderen Seite gehe ich auch nicht in die Baugrube und brülle: S 21 ist Scheiße! Das wäre langweilig, weil es das schon gibt. Wir haben Lust auf andere Fragestellungen, können als Künstler ungedachte Haltungen durchspielen. Das Nachdenken über Umkehr und Reduktion an diesem speziellen Ort jedenfalls, könnte eine gute Qualität erreichen.

Am Aufführungsort in der Baugrube kann erst am Montag vor der Premiere am 19. September die erste Probe stattfinden, davor an anderen Orten, zum Beispiel im Theater Rampe. Ist das eher gut oder schlecht?

Wenig ausprobieren, schlecht justieren können, nee, das ist nicht gut. Wenn wir großes Glück haben, macht es das interessant, weil es so unfertig wirkt und unserer Suche nach einer weniger geplanten Welt entgegen kommt. Was soll's, manche sagen, viel proben ist feige.

Werden alle vier Abende gleich sein?

Allein durch die hoch unterschiedlichen Mitmachenden hoffen wir auf Momente, die sich nicht ausrechnen lassen. Ich bin im Künstlerischen das genaue Gegenteil von Kontrolliertem. Im Privaten vielleicht andersrum (lacht).

Werden am Montag nach der letzten Aufführung noch alle Kelchstützen stehen?

Ich gehe davon aus, denn nach all dem, was ich weiß, sind sie recht massiv. Aber vielleicht stehen sie ja ideell nicht mehr so da wie vorher.


Schorsch Kamerun, Jahrgang 1963, ist Punk, Sänger der "Goldenen Zitronen", Buchautor und Theaterregisseur, der seit dem Jahr 2000 an diversen Bühnen vor allem in Deutschland inszeniert. Gemeinsam mit Rocko Schamoni hat er auf St. Pauli den Szeneladen "Golden Pudel Klub" betrieben.

"Motor City Super Stuttgart", 19.-22. September, jeweils 19.30 Uhr, S-21-Baustelle, Hauptbahnhof, Stuttgart; Karten übers Theater Rampe, Tel. 0711 6200909-15, karten@theaterrampe.de, oder  online.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!