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Kultur in der Schuldenfalle

Kultur in der Schuldenfalle
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Die Kosten steigen, die Fördersummen nicht: Unter dieser Entwicklung haben in Stuttgart die meisten Kultureinrichtungen zu leiden. Dies soll sich nun ändern, fordern die sachkundigen Bürger aus dem betroffenen Bereich: Und die Kulturbeauftragten aller Parteien wollen nicht nein sagen.

Werner Schretzmeier, der alte Fuchs, hat genau gewusst, welche Klaviatur er bespielen muss, als er im März einen Notruf an Stadt und Land aussandte: Das Theaterhaus steckt in Zahlungsschwierigkeiten. 600 000 Euro fehlen, drei Sponsoren seien weggebrochen, auch das Publikum sei im vergangenen Jahr nicht ganz so treu gewesen wie sonst, wohl wegen des heißen Sommers, erklärte der Theaterhaus-Leiter. Etwas säuerlich reagierte die Politik, weil Schretzmeier gleich mit angab, wie viel Stadt und Land jeweils an den Kosten übernehmen sollten. Verweigern können sie sich kaum: Von dem Sponsorenausfall ist besonders "Gauthier Dance" betroffen, eines der Zugpferde das Theaterhauses. Oberbürgermeister Fritz Kuhn hatte sich persönlich für die Truppe eingesetzt, da kann die Stadt sie nun schlecht hängen lassen.

Etwas besser, wenn auch nicht viel, geht es den Schauspielbühnen: 2016 war die städtische Förderung zuletzt angehoben worden. Im nächsten Doppelhaushalt gab es keine Erhöhung. Begründung: Die Schauspielbühnen hätten doch schon im vorigen Jahr mehr bekommen als angedacht. Die Förderung ist also seit vier Jahren gleich, aber eine Tariferhöhung, noch dazu höher als erwartet, macht sich bei 80 festen und einem Pool von 100 freien Mitarbeitern deutlich bemerkbar.

Premierenbuffet? Gestrichen.

Täglich gibt es in den beiden Häusern, dem Alten Schauspielhaus und der Komödie im Marquardt, Programm. Ebenso außerhalb, zum nächsten Mal am 20. Mai mit dem Stück "Judas" in der Kirche Sankt Maria. Insgesamt sind rund 650 gut besuchte Veranstaltungen im Jahr geboten. Um überhaupt über die Runden zu kommen, hat Axel Preuß, Intendant seit August 2018, die Stelle für die Theaterpädagogik gestrichen. Auch das Premierenbuffet, das Ensemblemitgliedern und Gästen im Anschluss an die Aufführung eine gute Gelegenheit gab, ins Gespräch zu kommen, ist Geschichte. Ein richtiges Theaterfest gibt es auch nicht mehr, nur noch eine kleinere Variante davon.

Aber gerade die Vermittlungsarbeit, ungewöhnliche Formate, Projekte außer Haus, Schulprogramme und Einführungen – all das, was über den gewöhnlichen Theaterbetrieb hinausgeht, - ist heute besonders gefragt. Auch von Seiten der Politik, denn Kultur soll nicht nur ein immer kleiner und älter werdendes Publikum erreichen, sondern Jugendliche, Familien und MigrantInnen. Nur dann kann Kultur die Aufgabe erfüllen, die sie idealerweise haben sollte: der Stadtgesellschaft einen Spiegel vorhalten, Probleme ansprechen, Diskussionen anregen, eine Ebene der Verständigung bereitstellen und damit den Zusammenhalt der Gesellschaft fördern.

Das weiß eigentlich auch die Politik, die gern mehr kulturelle Bildung, Vermittlung und interkulturelle Programme möchte. Doch wenn es an den Haushalt geht, sucht sie eher nach Sparpotenzialen. Und weil an vielen anderen Stellen, die sehr viel mehr kosten, nicht gespart werden kann, gerät die Kultur in den Blick, denn die zählt zu den "freiwilligen Leistungen". Daran haben sich im Kulturbereich Viele so sehr gewöhnt, dass sie bei gestiegenen Kosten immer zuerst überlegen, ob sie das Problem nicht aus eigener Kraft lösen können. So ging es dem Theater der Altstadt, als es Ende letzten Jahres, unter anderem aufgrund einer Steuernachzahlung, plötzlich vor einem Defizit von 70 000 Euro stand.

Keine Zeit für Kultur

"Viele Kultureinrichtungen sind strukturell unterfinanziert", stand bereits 2013 im Abschlussdokument des Kulturdialogs: "Für die Zukunft ist eine Dynamisierung der Förderung unabdingbar." Also eine automatische Anpassung an die Kostensteigerungen. Die in zweijährigen Diskussionen von Kulturschaffenden, Gemeinderat und interessierten Bürgern entwickelten Leitlinien hat Birgit Schneider-Bönninger, bis Februar Leiterin des Kulturamts, einmal als "unsere Arbeitsgrundlage" bezeichnet.

Eine neue Kulturamtsleitung gibt es noch nicht. Und Fabian Mayer, der zu seinem neuen Posten als Erster Bürgermeister auch den Kulturbereich mitgenommen hat, hat für Kultur eigentlich kaum mehr Zeit. Eine "grüne Liste" des Oberbürgermeisters und des Kulturbürgermeisters, wie zuletzt 2017, wird es für den nächsten Doppelhaushalt also nicht geben. Vielmehr wenden sich derzeit die Kultureinrichtungen, die eine Erhöhung beantragen oder neu aufgenommen werden wollen, direkt an die Fraktionen.

Fast täglich gehen neue Anträge ein, sagt Guntrun Müller-Enßlin, Kultursprecherin der Fraktion SÖS-Linke-Plus. Sie versucht ihre Aufgabe ernst zu nehmen und arbeitet nicht nur die Anträge durch, sondern hat sich in den vergangenen Monaten auch viele Theater- und Tanzveranstaltungen angesehen. "Es gibt so viele tolle Theater in Stuttgart", schwärmt sie. 26 kleine Theater stehen auf der Liste der geförderten Einrichtungen, das Kulturkabinett als soziokulturelles Zentrum und das französische Theater La Lune, das als interkulturelle Einrichtung läuft, noch nicht mitgerechnet.

Bei ihren vielen Theaterbesuchen habe sie "keine einzige schlechte Veranstaltung" gesehen, sagt Müller-Enßlin. Sie ist überzeugt: "Die Stärke der Stuttgarter Kulturlandschaft liegt in ihrer Vielseitigkeit." Was da stattfinde, sei jedoch zumeist "klassische Selbstausbeutung". Für die Opernsanierung – deren Notwendigkeit sie nicht bestreitet – sei kein Betrag zu hoch. Bei den kleinen Kultureinrichtungen dagegen, die vielleicht mit ein paar tausend Euro Fördergelder auskommen müssen, werde jeder Cent zweimal umgedreht.

1000 Euro im Monat ist zu wenig

Viele Kulturschaffende gingen in ihren Anträgen "unglaublich bescheiden mit ihren persönlichen Gehaltsvorstellungen" um, bemerkte Rose von Stein von den Freien Wählern in einer Diskussion im Württembergischen Kunstverein (WKV). 22  sogenannte "sachkundige Einwohnerinnen und Einwohner", die gemeinsam mit den GemeinderätInnen im Kulturausschuss sitzen, hatten die kulturpolitischen Sprecher aller Fraktionen dazu eingeladen. "1000 Euro im Monat, das reicht doch nicht!", rief sie aus: "Wenn wir das so fördern, fördern wir das Prekariat." Ihr Rat: lieber etwas mehr beantragen, damit es auch dann noch reicht, wenn der Gemeinderat Abstriche vornimmt.

Seit sechs Jahren beobachten die sachkundigen Bürger mit wachsendem Ärger, dass die angestrebte Dynamisierung der Förderung trotz prall gefüllter Kassen immer wieder auf die lange Bank geschoben wurde. Zwar war dies nicht das einzige Thema des Abends.

Doch wenn ein Thema mehr als alle anderen im Mittelpunkt stand, war es die strukturelle Unterfinanzierung der kleineren Kultureinrichtungen. Ob sie dieser Forderung zustimmen könnten, wollte Moderatorin Petra Bewer von allen Fraktionen wissen. "Ja, wir wollen dynamisieren", legte sich der Grünen-Fraktionsvorsitzende Andreas Winter zuerst fest. "Die Menschen sollen angemessen bezahlt werden" fand auch Roland Sauer von der CDU. Und auch Dejan Perc von der SPD möchte keine Selbstausbeutung. Von den anderen Fraktionen mochte niemand widersprechen.

Kleine Einwände gab es: Perc fragte nach Förderkriterien – er will auch neuen Einrichtungen Chancen geben. Auch Winter meint, man müsse sich "Entwicklungspotenzialen immer wieder stellen." Der Linke Tim Hülquist stellte die Frage nach der Relevanz für die Gesellschaft, verwies dann aber darauf, dass der linke Berliner Kultursenator Klaus Lederer den Kulturetat deutlich erhöht habe.

Wenn freilich die Stadträte die Relevanz der Arbeit jeder einzelnen Kultureinrichtung prüfen sollten, bevor sie einer Dynamisierung der Förderung zustimmen, bliebe nicht nur alles beim Alten. Sie können dies überhaupt nicht leisten. Bei insgesamt über 100 Einrichtungen müssten die Kulturbeauftragen fast jeden Tag unterwegs sein, um sich einen Überblick zu verschaffen.

Auch der Württembergische Kunstverein ist betroffen

Zudem blieb in der Diskussion weitgehend ausgespart, dass es in der Kultur wie überall durchaus verschiedene Vorstellungen gibt, was als relevant, innovativ oder zukunftsweisend gelten könne. Für Eric Neumann von der FDP hat das Stadtmuseum – oder Stadtpalais – am meisten den Charakter eines „öffentlichen Wohnzimmers“, den er sich von der Kultur wünscht. Aber ist es richtig, viele hundert Millionen in die „Kulturmeile“ zum pumpen, während in so großen Stadtteilen wie dem Westen oder dem Osten nur wenig passiert?

Vor Problemen steht auch der Württembergische Kunstverein. Um darauf aufmerksam zu machen, ließen die sachkundigen Bürger eine Spendenbox herumgehen. Denn wenn man die Förderung von Stadt und Land von den Fixkosten abzieht, bleibt ein mittleres fünfstelliges Defizit, sagt die Geschäftsführerin Silke Albrecht. Immer mehr von dem Geld, das fürs Programm da sein sollte, gehe für die Grundfinanzierung drauf. Fatal ist das aus zwei Gründen: einmal weil auch das Land im Verhältnis 1:2 fördert, in der Regel den Etat aber nur dann erhöht, wenn auch die Stadt aufstockt. Zum anderen, weil bei Drittmittel-Anträgen, auf die der Verein angewiesen ist, ein Eigenanteil von 20 Prozent vorhanden sein muss. Je weniger der Verein also selbst zur Verfügung hat, desto weniger kann er auch zusätzlich einwerben. 


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2 Kommentare verfügbar

  • Rikki
    am 15.05.2019
    Antworten
    Meine Quintessenz: den Kulturlern geht es zu gut!
    Und sie sind komplett auf sich bezogen!
    Sie haben -als wichtigste AufpassGruppierung, neben Wissenschaft und Journalismus- nicht begriffen, dass das was sich unter Agenda 2010 abspielte, (sind ja nur die Faulen, Kinder und Alleinerziehende) auch…
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