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Gewitter in Pastell

Gewitter in Pastell
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Gangolf Stocker gibt es wieder – als Maler. In Böblingen ist sein Werk zu sehen, das er seit 2017 geschaffen hat. Aber Achtung, seine Bilder haben nichts mit Stuttgart 21 zu tun.

Wie geht es einem, der um zwölf Zentimeter geschrumpft ist, weil die Wirbelsäule implodiert ist? Osteoporose. Einem, der sich mit einer kaputten Speiseröhre, mit Asthma und einem grünen Star herumschlagen muss? Blitze im Kopf. Einem, der glaubt, seinen wichtigsten politischen Kampf verloren zu haben? Stuttgart 21. Blöde Frage. "Alt werden ist scheiße", sagt Gangolf Stocker, der 74-Jährige. Auf dem Tisch liegen Medikamente, man könnte meinen, für jedes Lebensjahr eines.

Aber er hat wieder angefangen zu malen. Das ist ein Lebenszeichen, nachdem er vor drei Jahren raus ist aus dem Gemeinderat, raus aus der SÖS-Fraktion. Ausgebrannt und schwer krank. Allein in seiner Gaisburger Zweizimmer-Butze, mit Blick auf den Friedhof, hat er sich vor die Staffelei gestellt, zu Pinsel und Malkreide gegriffen, so lange es ging. Mit Bruckner und Mahler im Ohr entstanden so Bilder, die ihn selber überraschten. Dass er so etwas hinkriegt, so etwas Schönes, Mythisches, in diesen Pastellfarben, nichts für Intellektuelle, und alles in dieser chaotischen Welt. Er hat es nicht mehr für möglich gehalten. Das verzaubere ihn, erzählt Stocker, und der Besucher wundert sich über einen Menschen, der bis dahin stets unter der Rubrik politischer Aktivist gelaufen ist. Totalverweigerer, SPD, DKP, PDS, SÖS, S 21.

In seinen Bildern gibt es diese Welt nicht. Er habe es nie geschafft, Politik in sein künstlerisches Werk zu packen, sagt er. Vielleicht ist das Pastellige das Gegengewicht. Die Politik ist die eine Seite. Die andere hat mit der Ortenau zu tun, mit Offenburg, wo er in eine Arbeiterfamilie hinein geboren wurde. Arm aber halbwegs glücklich, glaubt er.

Die Liebe zur Landschaft

Auf der Brücke über der Schwarzwaldbahn ist er gehockt, hat den Zügen hinterher geschaut, die hier auseinandergehen.

Der eine nach Freiburg, der andere nach Konstanz. Sie verlieren sich in der Enge der Täler, und wenn dann noch dunkle Wolken aufziehen, hat der Maler sein Bild im Kopf. Es heißt dann zum Beispiel "Ein Gewitter im Anmarsch" und changiert, ganz postmodern, zwischen Abstraktem und Konkretem. Ganz deutlich ist ein strampelnder Radler erkennbar, der Stocker selbst sein könnte. Er hat seine Reisen, bis nach Paris, mit dem Fahrrad bestritten. Die Liebe zur Landschaft, vermutet der Badener, werde mit dem Alter stärker. Die Heiterkeit kehrt in kurzen Augenblicken zurück, mit Gustav Mahlers Lieder eines fahrenden Gesellen. "Ging heut' morgen über's Feld".

Offenburg ist aber auch Burda. Genauer: Senator Franz Burda, Begründer eines Medienimperiums, NSDAP-Mitglied, Kriegsgewinnler, später König von Offenburg. In diesem Städtchen war Aufbruch immer ökonomisch gemeint, nicht politisch, weshalb der Sohn eines Friedhofgärtners lernen musste, dass seine Nackte auf dem Sofa stört. Sie hing dort 1968 im Offenburger Kulturzentrum an der Wand und musste entfernt werden, was den jungen Mann seiner Heimatstadt doch sehr entfremdete. Und nach Stuttgart an die Kunstakademie trieb.

Die Pfarrersfrau animierte ihn zum Malen

Seine politische Zeit in der Landeshauptstadt ist bekannt, geadelt von der FAZ, die ihn einst zum "Herrn über Krieg und Frieden" in Stuttgart erkor. Gemeint war sein schier endloser Streit mit der Staatsgewalt, sein Bürgerbegehren und die Montagsdemo, sein Vorsitz im Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21. Alles Geschichte, manches mit schmerzlichen Niederlagen verbunden, an denen er nicht immer unschuldig war. Das Wort vom "sturen Bock" lässt er mal so stehen. Die Journalistin Elena Wolf, die ihn vor drei Jahren besuchte, <link https: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft ticken-im-kopf-3624.html external-link-new-window>fragte damals in Kontext: "Warum tut man sich den ganzen Wahnsinn an?" Stockers Antwort war der Rückzug. Keine Bilder mehr im Kopf. Bis ihn Guntrun Müller-Enßlin zurück holte, wieder zum Malen ermunterte. Die Pfarrerin malt selber, schriftstellert und macht Politik in der Stuttgarter SÖS-Fraktion. Sie hat Stocker, dem "sehr genügsamen Menschen", die Ausstellung im Böblinger "Blauen Haus" organisiert. Auch im Hinblick darauf, dass die "verwandte Künstlerseele" nicht nur ideellen Beistand brauchen kann. Auch die Straßenbahn will mit der schmalen Rente bezahlt sein.

Womit wir, Obacht, bei Werner Wölfle wären. Den Grünen hätte Stocker bei der Vernissage gerne dabei gehabt. Klinikskandal hin oder her. Aber der Bürgermeister im Krankenstand musste passen. Der Einladung zum "Gewitter im Anmarsch" wäre er gerne gefolgt, ließ er wissen, doch leider befinde er sich selbst "mitten im Gewitter", und versuche, es in einer bayerischen Klinik zu überstehen. Der Künstler hat's verstanden, der Politiker ist damit nicht exkulpiert, aber das ist hier nicht das Thema.

So ist er halt, der Stocker. Die langen Linien verfolgen, zurück denken, als Wölfle noch ein grüner Fraktionsvorsitzender war und mannhaft gegen Stuttgart 21 kämpfte. Zusammen mit ihm, von dem gesagt wird, er sei der Vater des Protests, mit dem Alt-Kommunisten, der Lenins demokratischem Zentralismus immer besser fand als Basisdemokratie, woraus sich gewisse Gemeinsamkeiten ableiten ließen. "Der Werner", sagt Stocker, "war immer verlässlich". So viel Vertrauen erträgt auch das Heute. Und ist mindestens den Kauf eines Bildes, sagen wir für 3000 Euro, wert. 

Aber die schöne Basler Bankierstochter Maja kriegt er nicht. Sie ist nicht mythisch, sie ist ganz real, nicht pastellfarben, sondern sattgrün im Sessel, und fast zimmerhoch, was ihr in der Butze Dominanz verleiht. Stocker hat sie im Jahr 2000 gemalt, als er unsterblich und einseitig in sie verliebt war. Sie ist unverkäuflich.

Ob er noch einen Plan fürs Leben hat? Ja, einen hat er noch, sagt er und zeigt auf ein Foto, das ihn mit Löwenzahnblüte im Mund und Tochter an seiner Schulter zeigt. Sie will er noch porträtieren.

 

Die Ausstellung ist noch bis zum 30. Juni in der Galerie <link https: kulturbh.de verein external-link-new-window>Kulturnetzwerk Blaues Haus in Böblingen zu sehen. Geöffnet zu den Veranstaltungen von 19 bis 1 Uhr.


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