KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Der Kampf um die Insel

Der Kampf um die Insel
|

Datum:

Die Kulturinsel in Bad Cannstatt wird amputiert: Die Halle ist bereits abgedeckt und soll weg, das Urban-Gardening-Projekt "Inselgrün" kann nur noch ein Jahr bleiben. Dabei braucht die Stadt Stuttgart dringend solche Räume.

Zurück Weiter

"Eine Stadt braucht auch Freiräume", hat Andreas Hofer, der Intendant der Internationalen Bauausstellung (IBA) Stuttgart und Region 2027, in einer Diskussion im "Wechselraum" des Bunds Deutscher Architekten (BDA) im vergangenen Oktober gesagt. Hofer redet nicht viel, er hört lieber zu. Aber er kann sehr deutlich werden: "Die Region hat gravierende Probleme", stellt er fest, "die mit einer verfehlten Stadtplanung der Nachkriegszeit zu tun haben."

Freiräume, wie Hofer sie meint, finden sich in Stuttgart vor allem an zwei Orten: An der Wagenhalle am Nordbahnhof. Und bei der Kulturinsel in Bad Cannstatt, die sich in den sechs Jahren ihres Bestehens zu einem einzigartigen Ort des sozialen Miteinanders entwickelt hat. In der Stadtverwaltung scheint noch nicht richtig angekommen zu sein, dass es solche Orte zu hegen, zu pflegen und zu fördern gilt. Zwar soll die Kulturinsel erhalten bleiben. Aber wie? Deutlich geschrumpft und bisher ohne sichere Grundlage.

Als eine "zweite Wagenhalle" wurde die alte Güterabfertigungshalle – eine von zweien, die andere ist bereits beseitigt – in der Tat den Gemeinderäten im vergangenen Mai im Ausschuss für Umwelt und Technik (UTA) präsentiert. Damit war nicht gemeint: großartig, was da passiert. Es war ein Wink mit dem Zaunpfahl: Wollt ihr euch noch einmal 30 Millionen Euro aufhalsen? So viel hatte die Sanierung der Wagenhalle gekostet. Die allerdings ist, wie der Cannstatter Grünen-Bezirksbeirat Peter Mielert moniert, fünfzehnmal so groß. Der UTA votierte für Abriss und damit auch der Gemeinderat. Nun ist die Halle abgedeckt. Ihre Tage sind gezählt.

Zwar bekennt sich die Stadt mittlerweile zur Kulturinsel. Anfang Dezember gab es eine Bürgerbeteiligung zur Zukunft des Areals, veranstaltet von der Stadt. Doch als erstes mahnte Martin Holch vom Stadtplanungsamt: Bitte kommen Sie nicht mehr auf die alte Halle zurück. Der Gemeinderat hat bereits 2002 den Abriss beschlossen. 2002? Das war zehn Jahre, bevor es die Kulturinsel überhaupt gab. Kann die Stadt ihre 17 Jahre alten Entscheidungen nicht auch mal revidieren?

Freie Sicht für freie Bürger

Wenn die Halle stehen bleiben sollte, hatte Baubürgermeister Peter Pätzold <link https: www.kontextwochenzeitung.de schaubuehne ein-modernes-robin-hood-ding-4921.html internal-link-new-window>vor einem Jahr auf Kontext-Nachfrage gesagt, müsste der Bebauungsplan geändert werden. Das würde zu Verzögerungen führen. Welch ein Argument: Seit sich Stuttgart 2002 für die Olympiade bewarb, ist hier ein Wohngebiet geplant. Noch immer steht kein einziges Haus. An der Halle wird es wohl kaum liegen.

Bezirksbeirat Mielert hätte die Halle gern erhalten. Der Architekt und Stadtplaner schlug eine Lösung mit eingestellten Containern vor, die alle Brand-, Lärmschutz- und sonstigen Bestimmungen erfüllt hätte. Er biss auf Granit: Die Halle ragt ein paar Meter in eine geplante Straße hinein. Würde diese versetzt, wie Mielert vorschlug, würde das Areal für einen Supermarkt gegenüber beschnitten. Mielert hat nachgerechnet: Ein Supermarkt für das geplante Quartier muss 8000 bis 10 000 Quadratmeter groß sein, das Areal misst 12 000 Quadratmeter. Platz wäre demnach weiterhin genug. Nun das Hauptargument: Die Straße verläuft in der Sichtachse zum Rotenberg. Der Blick auf den Stammsitz der Württemberger muss frei bleiben.

Nicht nur die Halle und der sogenannte Turm – ein etwas höherer, quer stehender Gebäudeteil – sollen weg, sondern der gesamte hintere Bereich, auch ein Bau auf der anderen Seite des Hofs und das Urban-Gardening-Projekt "Inselgrün". Denn auch am hinteren Ende des Areals ist eine Straße geplant, die für die Bauarbeiten am Stadtviertel Neckarpark von essentieller Bedeutung sein soll. Sie führt genau durch die heutigen Gärten. Nur ein zwei Meter breiter Streifen bliebe übrig.

Dieses Jahr kann das Inselgrün noch bleiben, doch ab Frühjahr 2020 soll die Straße gebaut werden. Die Stadt will helfen, eine Ausweichmöglichkeit zu finden, aber wo, das steht in den Sternen. Sicher: Ein Stück Boden, groß genug für ein paar Beete, wird sich wohl finden. Aber der Garten lebt von der Anbindung an die Kulturinsel. Schulklassen kommen hier her, Gruppen dementer Senioren. Dazu braucht es Organisation, feste Räume und Toiletten.

Und es braucht einen gewissen Schutz. Nachdem Mielert und Kulturinsel-Gründer Joachim Petzold schon wiederholt erlebt haben, wie nach VfB-Niederlagen unter anderem Verkehrsschilder in der Umgebung plötzlich verbogen waren, wirkt es fast wie ein kleines Wunder, dass das Inselgrün, auf Petzolds Wunsch jederzeit zugänglich, unter diesen Umständen fast gänzlich von Vandalismus verschont blieb.

Ort der Zusammenkunft

Nicht nur auf der Ostseite soll die Kulturinsel auf Bauten und Räume verzichten, sondern auch auf der Westseite, zum Stadtarchiv hin. Hier will der Jugendhausverein neue Wege gehen, wie Alexander Vecellio, Teamleiter Gemeinwesenarbeit im Jugendamt, in der Beteiligungsveranstaltung ankündigte: Ein modernes Stadtteilzentrum für alle Generationen soll entstehen, wie es ein solches in dieser Form noch nicht gäbe.

Doch, das gibt es schon: die Kulturinsel. Hier sind unter anderem die Joblinge aktiv: eine Initiative, die Jugendlichen hilft, die Schwierigkeiten haben, einen Einstieg ins Berufsleben zu finden. Der Verein Rosenresli, der sich für mehr Lebensqualität für demente Menschen einsetzt, die Johannes-Gutenberg-Fachberufsschule für Druck- und Medienberufe, das Sozialraumorientierte Familienangebot (SoFa) der Caritas oder das Projekt Gute Wolke, das Kinder und Jugendliche zu Kreativität ermutigt. 164 Kulturveranstaltungen hat es 2017 auf der Insel gegeben. 85-mal wurden Räume an soziale Projekte vergeben.

Und das Beste daran: Hier arbeitet nicht jeder in seiner Nische, hier treffen ständig Menschen aller Gesellschaftsschichten zusammen. Etwa 2016 im dreitägigen Projekt "Lebenslinie", das Menschen aus allen drei Lebensabschnitten – Kindheit, Berufstätigkeit und Ruhestand – zusammenbrachte. Es war einer der ersten jährlichen "Social Days" von Daimler TSS, der IT-Tochter des Konzerns. "Einen besseren Rahmen für unseren Social Day hätten wir nicht finden können", sagt dazu Gerd Kleinberger, Senior Manager des Unternehmens.

Finanziell potente Unternehmen und Einkommensarme kommen auf der Kulturinsel zusammen, Kinder und Senioren, alteingesessene Bewohner des angrenzenden Veielbrunnenviertels und neu Zugezogene aus allen Teilen der Welt. Dass Petzold sich auf vorbildliche Weise für eine Willkommenskultur engagiert, hängt auch mit seiner Biografie zusammen. In seinem Geburtsort Manyemen im Westen Kameruns, wo sein Vater ein Missionskrankenhaus leitete, herrscht heute Bürgerkrieg. Die Klinik ist zerstört. Das Auswärtige Amt warnt vor Reisen in die Region. Doch Asylbewerber von dort werden in der Regel zurückgewiesen und abgeschoben.

Petzold hat die Kulturinsel 2012 ins Leben gerufen, als der Club Zollamt insolvent war. Er übernahm, steckte viel Geld in den Club und in die Renovierung der übrigen Räume. Seit 1995 betreibt er eine Werbe- und Eventagentur mit derzeit 22 Mitarbeitern. Gegründet noch während seines Studiums an der heutigen Hochschule der Medien, arbeitete sie von Anfang an sehr erfolgreich. Aber Petzold denkt nicht nur ans Geldverdienen. Er möchte etwas Sinnvolles tun und hat viel eigenes Geld in sein Projekt, die Kulturinsel gesteckt.

Die Einnahmequellen versiegen

Nach einer Übergangszeit von zwei Jahren, als das Zollamt ein Zuschussbetrieb war, finanzierte der Club drei Jahre lang den Großteil aller anderen Aktivitäten. Dann musste das Zollamt schließen. Petzold, der mit seiner Agentur ebenfalls in den Gebäuden arbeitet, gründete eine gemeinnützige GmbH für die Kulturinsel, um die Aktivitäten zu trennen. Gleichwohl leitet er beide, die Agentur und die Kulturinsel, und investiert nach wie vor in sein Herzensprojekt.

Seit die Club-Einnahmen wegfielen, finanziert sich die Kulturinsel in erster Linie aus der Vermietung von Räumen. Jeder bezahlt, was er kann: Unternehmen wie Daimler TSS mehr, kleine Selbständige für einen Platz im Co-Working-Raum weniger. Soziale und kulturelle Projekte, die selbst keine Einnahmen haben, können die Räume umsonst nutzen. Petzolds Ideal wäre es, die Kulturinsel 24 Stunden am Tag offen zu halten. Zu Zeiten des Zollamts hat das schon fast geklappt. Bald nachdem die letzten Nachtschwärmer den Club verlassen hatten, kamen schon die ersten Kindergruppen zum Inselgrün.

Nun ist es auch mit diesem Finanzierungsmodell vorbei. Kleine Zuschüsse der Stadt, für den Willkommensraum oder das Inselgrün, reichen nicht weit. Die Mieteinnahmen entfallen, da es sein kann, dass die Agentur, wenn die Halle abgerissen wird, von einem Tag auf den anderen die Räume wechseln muss. Wie schnell es gehen kann, zeigte sich am vergangenen Montag. Ohne vorherige Ankündigung waren plötzlich fast alle Bäume auf dem Vorplatz gefällt.

Auf ihrer <link https: www.stuttgart.de item show external-link-new-window>Homepage schreibt die Stadt Stuttgart, sie will in den nächsten zwei Jahren ihr "1000-Bäume-Programm" fortführen, 11 Millionen mehr in die "grüne Infrastruktur investieren und "Urbanes Gärtnern" fördern. Von der Kulturinsel aus gesehen, trifft eher das Gegenteil zu. Sie steht auf der <link https: www.kulturrat.de wp-content uploads external-link-new-window>Roten Liste gefährdeter Kultureinrichtungen des Deutschen Kulturrats, trotz potenter Fürsprecher wie der BW Bank, die in ihrem Magazin schreibt: "Die Vision von Gründer Joachim Petzold ist wahr geworden: ein offenes Kulturzentrum für eine offene Gesellschaft." Aber: "Trotz ihrer wertvollen Arbeit ist die Kulturinsel gefährdet."

Ein Gutes hat die Bürgerbeteiligung im Dezember gehabt: Es kamen auch viele Anwohner aus dem Veielbrunnenviertel, wo sich seit vier Jahren eine Bürgerinitiative über den Lärm der Kulturinsel-Besucher beklagt. Petzold will positiv in die Zukunft schauen. Stadtplaner Martin Holch hat zugesagt, anstelle der abgerissenen Gebäude können neue entstehen. Der Garten, so Petzolds Vivion, könnte dann aufs Dach. Aber wer finanziert die Neubauten? Und wird das wirklich billiger als der Erhalt der Halle?


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


1 Kommentar verfügbar

  • Florian Hoffmann
    am 30.01.2019
    Antworten
    Habe acht Jahre in Bremen gelebt. Eine Stadt, die der Subkultur m.E. genug Raum gibt und lässt. Und das merkt man dieser Stadt positiv an. Schade, dass in Stuttgart nicht mehr drin ist für ein Ausnahmeprojekt, wie es die Kulturinsel sicherlich ist/war.
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!