Ein Mann mit weißem Vollbart und eine etwas dunkelhäutigere Frau mit Afro-Frisur stehen in einem leeren Raum, ganz vorn vor der Kamera. Sie blicken die Zuschauerinnen direkt an, so als suchten ihre Augen die Betrachter auf der anderen Seite des Schirms. "Wenn Sie uns jetzt sehen", beginnt der Mann, "werden wir längst nicht mehr sein, wo Sie jetzt sind", fährt die Frau fort. "Wir bewegen uns in verschiedenen Zeiten", erklärt der Mann, "Sie und wir."
"Die Bewegung" heißt das Stück von Bernhard Herbordt und Melanie Mohren, das seit November an verschiedenen Orten in Stuttgart zu erleben war: im Theater Rampe, von dem das Projekt ausgeht, in der Räumen der Gemeinderatsfraktion der Grünen, im Wissenschaftsministerium, am Stadtarchiv, im Literaturhaus, und nun eben bei Kontext. Jeweils mehrere Aufführungen an einem Tag, aber immer nur für zwei Zuschauer, die nicht nur passiv zuschauen, sondern aufgefordert sind, selbst zu handeln. Diese Aufforderung ist programmatisch zu verstehen. Und sie ist Teil der Dramaturgie des Stücks.
"Haben Sie schon einmal eine Bewegung gegründet?", fragt die Frau nun. "Oder – sind Sie Teil einer Bewegung?", hakt der Mann nach. Die Frau: "Würden Sie gerne?" Der Mann: "Wofür würde es sich lohnen, eine Bewegung zu gründen?" "Jetzt, da nichts mehr ist, wie es mal war." Immer wieder kommt es zu Bildstörungen. Die Übertragung aus der Zukunft, durch alle Katastrophen hindurch, die in der Zwischenzeit stattgefunden haben, stößt, wie kaum anders zu erwarten, auf technische Probleme.
Echte Alternativen statt Utopien
"Sämtliche Ziele zur Reduktion der globalen Erderwärmung wurden verfehlt", steht auf einer Karte in der großen Kiste. "Mit verheerenden Konsequenzen, in deren Folge weltweite Fluchtbewegungen eingesetzt haben und sich ein Netz autokratischer Systeme zu ihrer Abwehr installiert hat. In deren Folge das Eigene plötzlich wieder alles galt, alles Andere verabscheut und gefürchtet wurde ... Alles, was uns blieb, war, ein Gedächtnis sozialer, künstlerischer oder erfundener Bewegungen zu entwerfen, Beispiele zu sammeln, eine Datenbank aufzubauen und Handlungsvorschläge abzuleiten. Für die Zeit danach."
Die beiden Besucherinnen haben längst angefangen, die Kiste auszupacken. Stapel von Karten sind darin, mit Schwarzweißbildern oder Text. Sie sind verschiedenen Bewegungen aus der Vergangenheit zugeordnet, von der Arbeiterbewegung bis zur Volkshochschule Wyhler Wald, und mit kleinen Buchstaben und Zahlen versehen. "Was zunächst wie eine unscheinbare Tasche aussah", heißt es auf einer Karte, "ist ein Werkzeugkoffer sozialer, künstlerischer und erfundener Bewegungen." Und um die Dringlichkeit zu unterstreichen: "Es geht nicht mehr um Utopien, dafür ist es zu spät, es geht um echte Alternativen!"
In der Tasche befinden sich verschiedene Objekte, die zum Teil diesen Bewegungen zugeordnet sind – oder aber dazu gedacht, nun im Raum angebracht zu werden: ein kleiner Pflasterstein, ein Handtäschchen, eine goldglänzende Rettungsdecke, zwei Holzlatten, eine Glühbirne, eine Trillerpfeife. Bücher, unter anderem Hannah Arendts "Über die Revolution". Henry David Thoreau und Emma Goldmans "Anarchismus, seine wirkliche Bedeutung".
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