KONTEXT:Wochenzeitung
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Theater bei Kontext

Theater bei Kontext
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Das Konferenz-Zimmer der Redaktion wird für einen Tag zur Bühne. Schauspieler gibt es keine, nur zwei Besucherinnen. Sie werden vor die Frage gestellt: Was kann man selber tun? Innerhalb der Aufführung und darüber hinaus.

Auf dem Tisch liegt ein Briefumschlag. Darin, handgeschrieben, ein Brief:

"Liebe Zuschauer*innen, schon beim Lesen dieser Zeilen beginnen Sie zu reisen. In eine Zukunft, von der wir wünschten, sie wäre niemals eingetreten ... Wir befinden uns am Beginn einer neuen Zeitrechnung ... Zu vieles hat sich in der Zwischenzeit ereignet ... Alles begann mit blankem Hass, der immer größere Teile der Gesellschaft erfasste. In dessen Folge Gewalt, Kriege und Naturkatastrophen um sich griffen. Und heute? Nichts ist mehr, wie es war. ... Nur zu wenigen aus der alten Zeit konnten wir Kontakt aufnehmen. Sie gehören dazu. Darum sind Sie hier."

Es folgen einige Anweisungen: "Wir haben für Sie vorbereitet ... Sie werden auf zwei Kisten stoßen." Eine große Kiste liegt flach auf dem Tisch. Doch wo ist die kleinere? Sie steht wie eine Lautsprecherbox hochkant auf dem Boden. "Platzieren Sie jetzt bitte die kleinere in der Mitte des Raumes. Öffnen Sie den Deckel. Sie werden weitere Hinweise finden."

Undeutlich sind Stimmen zu vernehmen. Das kommt daher, dass die beiden Theaterbesucherinnen nicht lange gewartet haben und den Stecker gleich in die Steckdose gesteckt haben – nicht erst jetzt, wie es auf einem Zettel in der Kiste steht. Auf einem Bildschirm sind zwei Personen zu sehen, aber auf die Seite gekippt. Die Kiste muss flach auf den Tisch gelegt werden. Einige der einleitenden Bemerkungen haben die beiden Besucherinnen bereits verpasst. Aber wie es nun losgeht, ist es auch ein guter Einstieg.

Ein Mann mit weißem Vollbart und eine etwas dunkelhäutigere Frau mit Afro-Frisur stehen in einem leeren Raum, ganz vorn vor der Kamera. Sie blicken die Zuschauerinnen direkt an, so als suchten ihre Augen die Betrachter auf der anderen Seite des Schirms. "Wenn Sie uns jetzt sehen", beginnt der Mann, "werden wir längst nicht mehr sein, wo Sie jetzt sind", fährt die Frau fort. "Wir bewegen uns in verschiedenen Zeiten", erklärt der Mann, "Sie und wir."

"Die Bewegung" heißt das Stück von Bernhard Herbordt und Melanie Mohren, das seit November an verschiedenen Orten in Stuttgart zu erleben war: im Theater Rampe, von dem das Projekt ausgeht, in der Räumen der Gemeinderatsfraktion der Grünen, im Wissenschaftsministerium, am Stadtarchiv, im Literaturhaus, und nun eben bei Kontext. Jeweils mehrere Aufführungen an einem Tag, aber immer nur für zwei Zuschauer, die nicht nur passiv zuschauen, sondern aufgefordert sind, selbst zu handeln. Diese Aufforderung ist programmatisch zu verstehen. Und sie ist Teil der Dramaturgie des Stücks.

"Haben Sie schon einmal eine Bewegung gegründet?", fragt die Frau nun. "Oder – sind Sie Teil einer Bewegung?", hakt der Mann nach. Die Frau: "Würden Sie gerne?" Der Mann: "Wofür würde es sich lohnen, eine Bewegung zu gründen?" "Jetzt, da nichts mehr ist, wie es mal war." Immer wieder kommt es zu Bildstörungen. Die Übertragung aus der Zukunft, durch alle Katastrophen hindurch, die in der Zwischenzeit stattgefunden haben, stößt, wie kaum anders zu erwarten, auf technische Probleme.

Echte Alternativen statt Utopien

"Sämtliche Ziele zur Reduktion der globalen Erderwärmung wurden verfehlt", steht auf einer Karte in der großen Kiste. "Mit verheerenden Konsequenzen, in deren Folge weltweite Fluchtbewegungen eingesetzt haben und sich ein Netz autokratischer Systeme zu ihrer Abwehr installiert hat. In deren Folge das Eigene plötzlich wieder alles galt, alles Andere verabscheut und gefürchtet wurde ... Alles, was uns blieb, war, ein Gedächtnis sozialer, künstlerischer oder erfundener Bewegungen zu entwerfen, Beispiele zu sammeln, eine Datenbank aufzubauen und Handlungsvorschläge abzuleiten. Für die Zeit danach."

Die beiden Besucherinnen haben längst angefangen, die Kiste auszupacken. Stapel von Karten sind darin, mit Schwarzweißbildern oder Text. Sie sind verschiedenen Bewegungen aus der Vergangenheit zugeordnet, von der Arbeiterbewegung bis zur Volkshochschule Wyhler Wald, und mit kleinen Buchstaben und Zahlen versehen. "Was zunächst wie eine unscheinbare Tasche aussah", heißt es auf einer Karte, "ist ein Werkzeugkoffer sozialer, künstlerischer und erfundener Bewegungen." Und um die Dringlichkeit zu unterstreichen: "Es geht nicht mehr um Utopien, dafür ist es zu spät, es geht um echte Alternativen!"

In der Tasche befinden sich verschiedene Objekte, die zum Teil diesen Bewegungen zugeordnet sind – oder aber dazu gedacht, nun im Raum angebracht zu werden: ein kleiner Pflasterstein, ein Handtäschchen, eine goldglänzende Rettungsdecke, zwei Holzlatten, eine Glühbirne, eine Trillerpfeife. Bücher, unter anderem Hannah Arendts "Über die Revolution". Henry David Thoreau und Emma Goldmans "Anarchismus, seine wirkliche Bedeutung".

Während das Paar auf dem Bildschirm eine silbergraue Decke auffaltet und sich anschickt, diese mit Magnet- und Saughaken, Klammern und anderen Hilfsmitteln in ihrem Raum anzubringen, haben die beiden Besucherinnen längst einen hölzernen Klappstuhl aus der Kiste genommen und aufgestellt. Eine zieht ihre Schuhe aus und ein Paar lange, blaue Strümpfe an, die sich in der Kiste befinden und auf die Blue Stocking Society verweisen, eine frühe Frauenbewegung aus dem 18. Jahrhundert.

Sie posiert auf dem Klappstuhl, denn in der kleinen Kiste befindet sich auch eine Digitalkamera. Ihre Vorgänger aus der Zukunft haben die beiden aufgefordert, sich auch im Raum umzusehen. Also mustern die beiden die großen Papierbögen mit der Kontext-Jahresplanung an der Wand und fragen sich, ob die wohl auch zu dem Stück gehört.

"Es ist immer eine Gratwanderung", sagt Bernhard Herbordt: "Wie viel Freiheit lässt man den Leuten, wie sehr gängelt man sie." Die einen warten erst mal ab und halten sich an die Anweisungen, die anderen machen, was ihnen gefällt. Wenn es dabei zu Unklarheiten kommt, sei dies durchaus beabsichtigt. "Ist das Teil einer erfundenen Wirklichkeit oder vorgefunden?", müssten sich die Besucher fragen. "Dadurch wird alles permanent in Zweifel gezogen. Alles wird als veränderbar begriffen."

Ist das noch Theater? Oder nicht?

Herbordt und Mohren arbeiten seit ihrem Studium am Institut für Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen zusammen und sind auch privat ein Paar. Nach einem Stipendium der Akademie Schloss Solitude vor ungefähr zehn Jahren haben sie Stuttgart zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht. Sie haben eine Reihe von partizipativen Stücken entwickelt, die Titel tragen wie: "Das Stück", "Die Institution", "Die Aufführung" oder "Das Dorffest" – und bei jenem Dorffest war bald nicht mehr klar, was nun Theater war und was nicht. "Die Institution" ist so etwas wie der größte gemeinsame Nenner. Eine Institution kann alles sein, was auf die eine oder andere Art eingerichtet ist. Eine Zeitungsredaktion, ein Amt, eine Theaterbühne. "Die Institution" ist aber auch der Überbegriff für die Projekte von Herbordt und Mohren und der Name ihrer Website: <link http: www.die-institution.org _blank external-link>www.die-institution.org.

"In welcher Art Institution befinden Sie sich?", fragt die männliche Stimme. "Könnte diese Institution das Ergebnis einer sozialen Bewegung sein? Oder könnte eine soziale Bewegung in dieser Institution ihren Ausgangspunkt finden?" Die Institution ist in diesem Fall die Kontext-Redaktion, und wenn sich die Besucherinnen die Jahresplanung ansehen, setzen sie sich damit auseinander, wie eine solche Wochenzeitung entsteht. Indem sie nicht nur das fertige Ergebnis sehen, sondern die Planung, erfahren sie, dass, was in der Zeitung steht, veränderbar ist. Auch dies gehört zu den Intentionen des Stücks: Nicht nur das Theater, auch die Institution, in der es aufgeführt wird, soll als veränderbar wahrgenommen werden.

"Was uns seit Langem interessiert", sagt Herbordt – hier nicht unbedingt auf die Kontext-Redaktion bezogen: "Warum funktionieren Institutionen, die eingerichtet wurden, um auf bestimmte Fragestellungen zu reagieren, oftmals nicht mehr ganz so gut. Und wie verbindet sich das Leben von Einzelpersonen mit diesen Institutionen." Anders als der etwas trockene Titel "Die Institution" vermuten lassen könnte, steht hier nicht die Funktionsweise etablierter Einrichtungen im Blickpunkt, sondern wie sich der Einzelne zu ihnen verhält.

"Erinnerst du dich noch", fragen sich die Zukunftsmenschen in Bezug auf Bewegungen der Vergangenheit wie die <link https: de.wikipedia.org wiki pariser_kommune _blank external-link>Pariser Kommune, "als es plötzlich um alles ging?" "In Erwägung, dass da Häuser stehen", singen sie <link https: www.youtube.com _blank external-link>das dazugehörige Lied von Bertolt Brecht und Hanns Eisler, "während ihr uns ohne Bleibe lasst, haben wir beschlossen, jetzt dort einzuziehen, weil es uns in unsern Löchern nicht mehr passt."

Die exemplarischen Bewegungen der Vergangenheit bilden ein Inventar, aus dem sich Ideen für neue Bewegungen schöpfen lassen. Die im Raum aufgespannte Decke ist – oder könnte es sein – "der Treff- oder Sammelpunkt einer kommenden Bewegung". Natürlich findet das alles zunächst, wie Herbordt sagt, "im spielerischen Denkraum statt", weist aber zugleich auch darüber hinaus. Ein frankierter Briefumschlag liegt in der Kiste. Mit einem Fragebogen. Die Antworten sollen in eine Online-Datenbank eingespeist werden, ebenso wie die Fotos, die die Theaterbesucher mit der mitgelieferten Digitalkamera aufnehmen.

"Was macht ihr da eigentlich?", fragt der Mann auf dem Bildschirm. "Wir erzählen uns Geschichten", antwortet die Frau, "Gegengeschichten zur großen Erzählung kultureller Expansion, ewigem Wirtschaftswachstum und technischem Fortschritt. Alternativen zur schalen Erfolgsgeschichte des Kapitalismus."

"Vielleicht war alles nur ausgedacht", heißt es am Ende. "Nichts hat sich verändert." "Alles ist vergeblich." "Aber wollen wir so enden?"


Weitere Termine und Infos gibt es <link http: theaterrampe.de stuecke die-bewegung _blank external-link>unter diesem Link.


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