Xavier Giannolis Film ist unschwer zu erkennen als Versuch, die Geschichte des Wunders von Lourdes, sozusagen Mutter aller Marienerscheinungen, ins Heute zu übertragen – dies jedoch mit allen Zweifeln und aller Skepsis des 21. Jahrhunderts. Was sich 1858 ereignet haben soll und damals von dem 14-jährigen Mädchen Bernadette Soubirous erzählt wurde, das hat der Schriftsteller Franz Werfel noch im Jahr 1941 nicht nur geglaubt, sondern in einem Roman weiter verbreitet. Es war die Erfüllung eines Gelübdes: Der Jude Werfel hatte auf seiner Flucht vor den Nazis Station in Lourdes gemacht und sich geschworen, wenn er es nach Amerika schaffe, dort "Das Lied der Bernadette" zu singen. Die Hollywood-Verfilmung von Henry King setzt die Heldin dann in übernatürliches Licht, setzt ihr sozusagen einen Heiligenschein auf, und als ob dies noch nicht genug wäre, um jeden Zweifel zu zerstreuen, ist schließlich Maria höchstselbst zu sehen.
Friseuse oder Heilige!
In Jessica Hausners Film "Lourdes" (2009) dagegen, der zunächst einen abgeklärt-distanzierten Blick auf den florierenden Wallfahrtsbetrieb wirft, bleibt es am Ende offen, ob eine Frau ihre Befreiung aus dem Rollstuhl wirklich einem Wunder verdankt oder ob es sich um eine psychologisch erklärbare und nur vorübergehende Besserung handelt. Für Douglas Wolfspergers Film "Probefahrt ins Paradies" (1992) ist Lourdes dagegen bloß noch Stoff für eine deftige Satire. Seine deutschen Schäflein, unter ihnen ein Pfarrer und seine schwangere Freundin, kommen bei ihrer Busreise nicht mal an im Heiligen Ort, sie verstricken sich vorher nicht nur geografisch, sondern auch beziehungstechnisch in allerlei Irrungen und Wirrungen oder vertreiben sich die Zeit im Bus mit einem Quiz: "Wie viele Marienerscheinungen hatte Bernadette?"
Diesen frivolen Ton schlägt Giannolis "Die Erscheinung" nie an, auch wenn der Film den Wallfahrtstrubel, etwa den Souvenirkitsch oder die profane Geschäftemacherei eines Geistlichen, durchaus skeptisch beobachtet. Man könnte sagen: Der Regisseur übernimmt den weltlichen Blick des wortkargen Jacques, den der exzellente Vincent Lindon als männlich-markanten, aber auch zurückhaltenden, uneitlen und sensiblen Helden verkörpert. Nach und nach entsteht zwischen ihm und Anne so etwas wie Vertrauen. Und nach und nach wird dies ein Film, in dem nicht mehr die Frage im Mittelpunkt steht, ob diese junge Frau wirklich etwas Überirdisches gesehen hat, sondern wie sie hier auf Erden lebt.
Jacques findet heraus, dass Anne bei einer Pflegemutter aufwuchs, dann in ein Heim gesteckt wurde und jetzt Novizin im örtlichen Kloster ist, wo sie in der Wäscherei arbeitet und in einer schmucklosen Kammer schläft. Könnte es sein, dass sie raus aus diesem ärmlichen Leben wollte, dass sie sich in ihrer Not in ein Wunder geflüchtet hat? "Friseuse oder Heilige!", so höhnisch beschreibt jedenfalls eines der geistlichen Kommissionsmitglieder Annes prekäre Situation. Vielleicht glaubt sie sich tatsächlich hinein in ihre Geschichte, vielleicht glaubt sie, die Jacques' Ohrenschmerzen mal mit Handauflegen heilen will, sogar an ihre besonderen Kräfte ("Ich höre die Schreie der Welt!") und verspricht deshalb: "Ich werde Jungfrau bleiben." Aber Anne hat auch ihre weltlichen Geheimnisse, sie geht heimlich ins Städtchen, trifft dort einen jungen Schwarzen und liest Briefe, die sie in einem Spind aufbewahrt.
Am Ende will der Film die Frage, die er aufgeworfen hat, nicht eindeutig beantworten. Er verlagert sie vielmehr in den Kopf von Jacques. Gibt es da doch etwas, was sich journalistischen Recherchen, psychologischen Deutungen oder DNA-Analysen entzieht? Die Bilder bleiben eher nüchtern. Die unter anderem von Arvo Pärt komponierte Musik aber nimmt nun zu, und sie nimmt, wenn man so will, auch Partei. Sie tönt also, auch wenn die Geschichte offen bleibt für Atheisten und Agnostiker, doch ein bisschen für jene Seite, auf die sich damals Franz Werfel geschlagen hat: "Schon in den Tagen, da ich meine ersten Verse schrieb, hatte ich mir zugeschworen, immer und überall durch meine Schriften zu verherrlichen das göttliche Geheimnis und die menschliche Heiligkeit – des Zeitalters ungeachtet, das sich mit Spott, Ingrimm und Gleichgültigkeit abkehrt von diesen letzten Werten unseres Lebens." Nein, man muss sich dieser Haltung nicht anschließen. Aber man muss sie wohl respektieren.
Xavier Giannolis "Die Erscheinung" ist ab Donnerstag, 13. Dezember, in den deutschen Kinos zu sehen. Welche Spielstätte den Film in Ihrer Nähe zeigt, sehen Sie <link https: www.kino-zeit.de external-link-new-window>hier.
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