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Die Kunst des Stolperns

Die Kunst des Stolperns
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80 Jahre nach der Pogromnacht: Wie kann wirkungsvoll an die Verbrechen der Nazizeit erinnert werden, ohne in Gedenkroutine zu verfallen? Mit Kunst. Das ist das Credo des Stuttgarter Projekts "Stolperkunst".

Der Zivilisationsbruch ist nur ein paar Schritte entfernt, er lauert gleich um die Ecke, er traf Menschen aus der Nachbarschaft, denen man regelmäßig begegnete, deren Verschwinden einem nicht verborgen bleiben konnte. Das sind ein paar der Gedanken, die auftauchen können, wenn man auf Stolpersteine trifft, diese so kleinen wie wirkungsvollen Mahn- und Erinnerungsmale für Menschen aus allen Opfergruppen des Naziregimes, die der Kölner Künstler Günther Demnig seit dem Jahr 2000 in <link https: www.stolpersteine-stuttgart.de _blank external-link-new-window>deutschen Städten (und einige auch im Ausland) verlegt.

Es graust einen immer wieder, etwa angesichts der sieben Steine für die Familie Levi vor ihrem einstigen Wohnort, der Alexanderstraße 81 in Stuttgart. Alle 1941 nach Riga deportiert, Mutter, Vater und fünf Kinder, das jüngste noch ein Baby. Oder beim Stein für die kleine Gerda Metzger in der Stuttgarter Türlenstraße vor dem ehemaligen Bürgerhospital, wo sie ermordet wurde, keine vier Jahre alt. Sie war, leicht geistig und körperlich behindert, eines der Kinder, die in Stuttgart dem Euthanasieprogramm der Nazis zum Opfer fielen (<link https: www.kontextwochenzeitung.de zeitgeschehen vertuschter-kindsmord-432.html _blank external-link>Kontext berichtete). 900 Stolpersteine sind bereits in Stuttgart verlegt, sie sind "ein wachsendes und lebendiges Denkmal", sagt Rainer Redies von der Stolperstein-Initiative Bad Cannstatt.

Doch reicht das auch in Zukunft? Wie kann man in einer Zeit, in der rechte Politiker die Nazizeit als "Vogelschiss" bezeichnen und die Erinnerung an die NS-Verbrechen am liebsten ad acta legen würden, eben dies durch eine lebendige Erinnerung verhindern? Wie kann man überhaupt dafür sorgen, dass Erinnerungskultur nicht zur Routine wird, sondern lebendig bleibt und am besten neue Impulse und Denkanstöße gibt? Auf solche Fragen sollten im Juli 2016 auf einer Open Space-Konferenz der Stolperstein-Initiativen im Stuttgarter Hospitalhof Antworten und Ideen gesammelt werden. Redies und Harald Stingele, Koordinator der Stuttgarter Initiativen, machten dabei mit den SchauspielerInnen Gabriele Hintermaier und Boris Burgstaller gleich Nägel mit Köpfen: Sie initiierten das Projekt Stolperkunst – "als Erweiterung der Stolperstein-Idee", sagt Stingele.

<link http: www.stolperkunst.de kunst-belebt-erinnerung _blank external-link>"Kunst belebt Erinnerung", lautet das Motto des Projekts. Es soll durch neue Ansätze, kritische Auseinandersetzung und kunstübergreifende Aktionen konkrete Stuttgarter Schicksale in die Gegenwart holen. Das können Theaterstücke und theaterpädagogische Maßnahmen mit Schulen sein, ebenso Performances, Bildende Kunst oder Musik. So breit wie dieses Spektrum wurde auch schnell das Netzwerk der Beteiligten: mehrere Dutzend Künstler und im Kulturbetrieb Tätige kamen dazu, große Einrichtungen wie das Theaterhaus und ganz kleine wie das Theater La Lune im Stuttgarter Osten.

Die erste Veranstaltung fand im September 2017 statt – eine Performance zur Neubenennung der Else-Josenhans-Straße –, weitere folgten auf Bühnen, Straßen und in Ateliers. Schnell wuchs dabei das Bedürfnis, die Initiative auf eine solide Grundlage zu stellen. "Wir haben einen Zuschuss aus dem Innovationsfonds des Landes Baden-Württemberg beantragt", erzählt Redies, "um 24 000 Euro Anschubfinanzierung zu erhalten, mussten wir aber 6 000 Euro Eigenmittel aufbringen." Das gelang im Sommer 2018 zügig durch eine Crowdfunding-Kampagne, die Zusage des Ministeriums folgte kurz darauf. Die Projektförderung ist zunächst nur auf zwei Jahre angelegt, bis zum 1. November 2020, bei Erfolg könne sie auch verstetigt werden. Und darüber hinaus "gibt es auch Ressourcen, die die beteiligten Theater selbst auf die Beine stellen", sagt Stingele.

Durch die Förderung wurde es möglich, ein breites und abwechslungsreiches Programm auf die Beine zu stellen. Den Beginn macht am 9. November, dem 80. Jahrestag der Pogromnacht, das Theaterstück "Schweigen ist Silber" im Theater Tribühne. Das Stück von Manoel Vinicius Tavares da Silva und Christian Werner beginnt wie ein vergnüglicher Varieté-Abend. Doch bald fragt man sich, ob das bunte Treiben nicht nur die Gedankenwelt einer Frau abbildet, die sich an einem ganz und gar nicht vergnüglichen Ort befindet.

Stuttgarter Gedenken

Mit der Nacht vom 9. auf den 10. November, der Pogromnacht 1938, ging die Diskriminierung von Juden durch das Naziregime in systematische Ausgrenzung und Verfolgung über. Am kommenden Wochenende jährt sich diese Nacht zum 80. Mal. Das Bündnis zum Gedenken an die Opfer der Pogromnacht in Bad Cannstatt lädt am Freitag um 18 Uhr zu einer Stunde der Erinnerung auf dem Platz der zerstörten Synagoge in der König-Karl-Straße 45 bis 47 ein, danach wird es Filmvorführungen und Lesungen im Cannstatter Rathaus geben. Mit dabei: Silvia Gingold, die Tochter von Peter Gingold, dem kommunistischen Widerstandskämpfer im NS-Regime und späteren Antifaschisten. Die 71-Jährige wird seit Jahrzehnten vom Verfassungsschutz überwacht – zunächst, weil sie der DKP nahestand, später, weil sie noch immer auf Veranstaltungen von linken und antifaschistischen Gruppen auftritt. Den Abend moderieren wird Stadtflaneur Joe Bauer. Zudem gedenken rund 30 Stuttgarter Schulen der Pogromnacht am Freitag in einem Erinnerungsprojekt. (ana)

Eine Woche später, am 16. und 17. November, laufen zwei Aufführungen von "Komm schöner Tod" im Theater La Lune, ein dokumentarisches Theaterstück, das in einer Mischung aus szenischer Lesung, Performance und "normalem" Theater das Schicksal der im Euthanasieprogramm ermordeten Gerda Metzger aufgreift. "Wir haben uns gefragt: Was betrifft Menschen heute noch ein Schicksal wie das dieses kleinen Mädchens?", sagt Theaterleiterin und Schauspielerin Julianna Herzberg. Neben der Dokumentation von Metzgers Schicksal, der Benennung auch ihrer Mörder – sie sind bekannt –, gehe es darum, eine Brücke in die Gegenwart zu schlagen, indem auf die Ängste heutiger junger Eltern eingegangen wird. "Stichwort Pränataldiagnostik: Die Frage, was 'lebenswertes' Leben ist, ist brandaktuell", sagt Herzberg, "wie geht die Gesellschaft heute damit um?"

Thematisch passend zum Stück zeigt das Theater seit dem 19. Oktober die Ausstellung "... die Kinder kommen nicht zurück" der Stuttgarter Künstlerin Mechtild Schöllkopf-Horlacher. Ihre teils stilisierten Porträts von in der NS-Zeit ermordeten Kindern, darunter auch Gerda Metzger, berühren nicht nur durch ihre Zartheit und Zerbrechlichkeit, sondern auch durch das Wissen, dass dies ihre Mörder, das System der Vernichtung, nicht erweichen konnte.

Zu einem besonders ungewöhnlichen Projekt lädt am 30. November die Theatergruppe Lokstoff ein. Sonst auf Theater im öffentlichen Raum spezialisiert, geht Lokstoff mit "Familienabend" in private Räume: in Wohnungen, in denen später Deportierte gewohnt hatten und vor denen bereits Stolpersteine verlegt wurden. Vier solcher Wohnungen in Häusern, die den Krieg überlebt haben, haben die InitiatorInnen bislang dafür gewonnen. "Die heutigen Bewohner machen ihre Wohnungen auf, und wir erleben gemeinsam einen Familienabend, sitzen an einem Tisch", sagt Kathrin Hildebrand von Lokstoff.

Der erste, künstlerische Teil des Abends widmet sich der Vergangenheit. "Wir wollen dem Menschen, der deportiert wurde, gemeinsam gedenken", erklärt Hildebrand. Eine Schauspielerin oder ein Schauspieler vertreten die früheren Bewohner, Rechercheergebnisse, Fotos und Geschichten aus deren Leben bilden einen Rahmen. Der zweite Teil dagegen sei absolut offen, sagt Hildebrand: "Wir wollen mit den Zuschauern und den heutigen Bewohnern ins Gespräch kommen: Was bedeutet erinnern? Was heißt es, in so einer Wohnung zu wohnen? Dadurch wollen wir es in die Gegenwart holen, ein aktives Erinnern anregen." Probleme bei der Suche nach Wohnungen als Spielstätten habe es erstaunlicherweise kaum gegeben, freut sich Hildebrand. Es habe sogar Anfragen von Menschen gegeben, die von dem Projekt gehört hatten, ob sie sich auch beteiligen könnten.

Eine besondere Premiere folgt am 9. Dezember. Da bestreiten die beiden Mit-InitiatorInnen Hintermaier und Burgstaller die szenische Lesung "Zwerland" – es geht um den authentischen Fall einer jungen Frau, die wegen einer Affäre mit einem polnischen Zwangsarbeiter in Gestapohaft ins Hotel Silber kam. Und die Lesung findet ebendort statt, in der ehemaligen Stuttgarter Gestapozentrale, im Rahmen der Eröffnungswoche für den jahrelang geplanten Lern- und Erinnerungsort Hotel Silber.

Dort sollen in Zukunft häufiger Veranstaltungen stattfinden. Das Haus gehört laut Stingele, dem Vorsitzenden der Hotel-Silber-Initiative, zu den "drei Bühnen" der Stolperkunst – die anderen beiden sind Theater in der Stadt und die Straße, bei öffentlichen Aktionen. Für Redies ist letztere besonders wichtig: "Eine Routine in der Erinnerungsarbeit kann auch dadurch entstehen, dass man immer nur zu bestimmten Anlässen, ob Pogromnacht oder Auschwitz-Tag, Veranstaltungen macht. Mit Kunst aber kann man immer auf die Straße gehen, unabhängig von Terminen."

Stolperkunst, das liegt allen InitiatorInnen am Herzen, soll ein wachsendes und offenes Projekt sein. Neue MitstreiterInnen sind willkommen. Und es soll auch nicht unbedingt auf Stuttgart beschränkt bleiben – einige Veranstaltungen außerhalb der Stadtgrenzen gab es bereits.

 

Mehr Infos zum Stolperkunst-Projekt und kommenden Veranstaltungen finden Sie <link http: www.stolperkunst.de _blank external-link-new-window>hier.


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1 Kommentar verfügbar

  • Andromeda Müller
    am 11.11.2018
    Antworten
    Zunächst einmal : Wunderbar , daß es die Stolperdstein-Initiativen und -verlegungen gibt.
    Ich möchte aber auf 2 "unerklärliche" Dinge aufmerksam machen :
    1. Warum gibt es in München Stolpersteine nur auf Privatgrund ? Wer verhindert die Verlegung auf öffentlichen Gehwegen etc. ?
    Der Jahrestag der…
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