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Männlichkeit ohne Männer

Männlichkeit ohne Männer
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Von der haarigen Maschine zum ganzkörperrasierten wandelnden Sportporno: Der männliche Körper hat sich gehörig gewandelt. Problematisch ist aber nicht der angebliche Verlust der Männlichkeit, sondern der irrsinnige Optimierungswahn. Freiheitliche Gesellschaften brauchen eigensinnige Körper.

Es war einmal der Männerkörper. Eine haarige, schwitzende Maschine. Programmiert auf Leistung, Macht, Genie, Resilienz. Das Design dieser Körpermaschine war sekundär, solange sie nur funktionierte und dem brillanten Geist ein Zuhause gab. Im Krieg. In der Wirtschaft. In der Politik. In der Wissenschaft. Anders verhielt es sich mit den Körpern der Frauen. Der Philosoph Immanuel Kant bezeichnete letztere als "das schöne Geschlecht" und ordnete ihnen Eigenschaften wie Feinheit, Zartheit, Gutherzigkeit und Oberflächlichkeit zu. Für den Mann sei "das Erhabene Kennzeichen seiner Art", mithin das Schwere, Edle und Tiefe. Das "Frauenzimmer" liebe am Mann genau das, schrieb Kant: "Wie würde es sonst wohl möglich sein, daß so viel männliche Fratzengesichter, ob sie gleich Verdienste besitzen mögen, so artige und feine Frauen bekommen könnten!"

In patriarchalen, traditionalistischen Kulturen mag Kants Sicht bis heute Gültigkeit haben. Wo asymmetrische Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern bestehen, wird Frauen meist schöne Passivität und Männern erhabene Schaffenskraft zugeschrieben. In liberaldemokratischen Kulturen sieht das anders aus. Diese neigen nicht zur umfassenden Ästhetisierung und Ökonomisierung der Existenz, sondern auch zu relativer Gleichheit. Der Komparatist Friedrich Menninghaus beobachtet denn auch, dass Männer infolge der schwindenden Kräfte des Patriarchats und wachsender ökonomischer Gleichheit "unter den Druck anderer Selektionsmechanismen geraten, insbesondere unter verstärkten Aussehensdruck."

Wenig verwunderlich also, dass sich unter den einstigen Herren der Schöpfung Verunsicherung breit macht. Stark sein? Schön sein? Geistesriese? Körperheld? Kumpeltyp? Cooler Rebell? Angepasster Angestellter? Oder alles zusammen? Sensible und introvertiere Männer beginnen, vermittels Krafttraining exzessiv an ihrem Selbst- und Körperbild arbeiten. Auch Schönheitsoperationen sind längst nicht mehr eine Domäne der Frauen. Extrovertierte, körperliche, raue Typen wiederum fürchten um ihren Stand in der Wissensgesellschaft, die soziale Soft Power und Kreativität belohnt. Doch was bedeutet diese Verunsicherung wirklich? Eine Bedrohung, einen Riss in der haltgebenden Ordnung? Oder auch eine Chance?

Die Verunsicherung ist Chance. Dem Mann die Verunsicherung ob seines Körpers, seines Aussehens und seiner gesellschaftlichen Rolle nehmen zu wollen, hieße, das Rad geschichtlicher Entwicklung zurückdrehen zu wollen. Denn dass Männer nicht mehr "einfach nur Männer" sind oder sein können, hat nicht nur mit "Gender Trouble" (Judith Butler) und irgendwelchen linksprogressiven Hochschulkursen zu tun. Im Westen haben die – primär von Männern initiierten! – ökonomischen, politischen und sozialen Umwälzungen seit 1800 zu einer tiefgreifenden kulturellen Hybridisierung geführt. Mit Friedrich Engels und Karl Marx gilt für die "bourgeoise Epoche" auch mit Blick auf die Körper: "Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst." Marx und Engels schrieben zwar so gut wie nichts über Körperkultur. Vielsagend aber ist, dass sie den Dualismus von Geist und Körper ablehnten und damit die Säkularisierung der Existenz vorantrieben.

Was ein Mann ist, bleibt Verhandlungssache

Die Säkularisierung hat den menschlichen Körper profan und veränderlich gemacht. Nicht länger stabiles Ebenbild Gottes, ist er wie auch die Meere, der Boden, die Pflanzen und die Tiere transformierbar und optimierbar geworden. Schon der Renaissance-Philosoph Pico della Mirandola schrieb 1486, der Mensch sei "Former und Bildner" seiner selbst: "Nach eigenem Belieben und aus eigener Macht [kannst du dich] zu der Gestalt ... ausbilden ..., die du bevorzugst." In der westlichen Moderne wandelte sich das Schicksal auf diese Weise zum "Machsal", wie der Philosoph Odo Marquard treffend bemerkte.

Kaum war der Säkularisierungsschock halbwegs verdaut, dampfte die Industrialisierung heran und erteilte der Körperkraft, zuvorderst der männlichen, Lektionen in Demut. Weil die Maschinen stärker, ausdauernder, schneller arbeiteten, nahmen die Menschen sie als Konkurrenz wahr – und mussten sich selbst maschinisieren. Im 19. Jahrhundert sorgten sich Männer ähnlich wie heute um ihre Kraft und Potenz, Klagen über "Effeminierung" und "Degeneration" waren alltäglich. Als Antwort darauf entstanden gegen Ende des Jahrhunderts in Europa Fitnesscenter, in denen Männer, vereinzelt auch Frauen, an Maschinen trainierten.

Weil aber Kraft im Arbeitsleben immer weniger gefragt war, wuchs die Bedeutung der Körperästhetik. Ein Paradebeispiel ist der preußische Krafathlet Eugen Sandow, der um 1900 mit seinem zum Leben erwachten Marmorleib international reüssierte und den Begriff "Body Building" prägte. In seinen Büchern beschrieb Sandow den Körper in Analogie zu Kunstwerken wie auch Maschinen. Von hier aus bis zum künstlich-künstlerischen Menschen, dem Cyborg, ist es nur ein kleiner Schritt. Der aber ist ambivalent, weder Mann noch Frau im engeren Sinne.

Durch den Liberalismus geriet die überkommene Körper- und Geschlechterordnung erst Recht ins Wanken. Charakteristika des Liberalismus sind Wettbewerb, Skepsis gegenüber Autoritäten, Fortschrittsglaube, Freiheit und Eigenverantwortung des Individuums. Schönheit, Kraft und Gesundheit stellen aus liberaler Sicht nicht nur Geschenke Gottes dar, sondern auch individuelle Aufgaben und Herausforderungen. In echten liberalen Kulturen ist nichts selbstverständlich, auch nicht das Verhältnis zwischen Körper, Geschlecht und sozialer Rolle.

Typische Figuren des Liberalismus sind der Philosoph John Stuart Mill, der sich im 19. Jahrhundert energisch für Frauenrechte einsetze, oder die Popmusikerin Grace Jones, die seit den 1960er Jahren munter die Geschlechterbilder verquirlt. Was "Mann" bedeutet, muss im Liberalismus immer wieder aufs Neue verhandelt werden. "Mann" und "Frau" sind fluide Begriffe. Es gibt männliche Frauen und weibliche Männer. Das erzeugt Stress, der regelmäßig zu nostalgischen Backlashes führt, wie sie etwa im Dunstkreis von Donald Trump und Co. zu beobachten sind.

Irrsinniger Optimierungswahn

Vor diesem Hintergrund ist Vorsicht geboten, was vorschnelle Schlüsse von sogenannten "Körperpanzern" auf einen autoritären Charakter betrifft. In seinem legendären Buch Männerphantasien (1977-78) widmet sich der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit "nicht-zu-Ende-geborenen Männern". Diese, so Theweleit, versteckten ihre verletzliche, emotionale Seite hinter besagten Körperpanzern. Alles Weiche und – vermeintlich – Weibliche muss Härte und Klarheit weichen. Körperpanzer und eine autoritäre oder gar faschistische Mentalität sind bei Theweleit die zwei Seiten einer Medaille. Die These ist punktuell nach wie vor stichhaltig. Doch gerade mit Blick auf unsere Zeit muss sie relativiert werden. Schon Sandow war für seine Zeit bemerkenswert liberal. Die Bodybuilding-Meisterin Lisa Lyon gehörte in den 1970ern eher der Queerfront als der Querfront an. Auch heute nehmen Körperpanzer diverse Bedeutungen an – bis hin zum, mit einem Songtitel der Ärzte gesprochen, "Friedenspanzer".

Hatte Kant vor Männern als "süßen Herren" und Frauen als "Amazonen" gewarnt, so zeichnet sich die Gegenwart durch die Koexistenz verwirrender Hybride aus: süße Amazonen, die auf ihren Youtube-Kanälen harten Körperdrill mit Beauty Nails kombinieren und nebenbei noch ihren Doktor in Psychologie machen. Martialische Herren, die bodybuildend ihrem Spiegelbild verfallen, anstatt Grundlagenwerke über Metaphysik zu verfassen. David Beckham, der das Image der Metrosexualität salonfähig gemacht hat: Körperrasur, gezupfte Augenbrauen, Pin-Up-Posen und trotzdem Held der Männerwelt des Fußballs. Seine aktuelle Steigerungsform ist der spornosexuelle Mann: überdrehte Sport- und Porno-Ästhetik als narzisstischer Kult des kapitalistischen High-Performers.

An subversiven Alternativen mangelt es jedoch nicht. Der Berliner Musiker Rummelsnuff glorifiziert die Insignien des heterosexuellen Arbeiters, darunter ungeschlachte Muskelberge und raue Umgangsformen. Allein, er ist ein Schwulenidol, steht politisch "eher links" und entstammt der Punk-Subkultur der DDR. Auf Twitter präsentiert er sich unter anderem beim Streicheln eines Kätzchens, Fotos in seiner Autobiographie (2017) zeigen ihn mal auf einem Kinderdreirad, mal beim Kuscheln mit einem Freund. Die Frauenbewegung hat ihrerseits Symbole und Praktiken des Männlichen vereinnahmt, etwa kurze Haare und Hosen seit den 1920er Jahren oder Muskeltraining seit den 70er Jahren.

In gewisser Hinsicht kann die Verunsicherung des Mannes als paradoxe Chance des Männlichen gesehen werden. Männlichkeit gibt es nicht mehr frei Haus. Sie muss begründet, verhandelt, errungen werden. Genau das sind Tätigkeiten, die Traditionalisten "männlich" nennen würden. Mehr noch, gerade emanzipatorische und queere Bewegungen zeichnen sich durch Eifer, Härte, Aktivität, Stolz und Durchsetzungskraft aus, müssen sie doch intensiver um Anerkennung ringen als die Geburtslotteriegewinner des Patriarchats.

Wenn Kulturpessimisten das Ende der Männlichkeit bejammern, übersehen sie also, dass das, was sie als solche definieren, jenseits von Männern fröhlich Urständ feiert. Sie machen sich jener Eigenschaften verdächtig, die sie selbst wohl als unmännlich abtun würden: Nostalgie, defensive Haltung, Weinerlichkeit. Diejenigen wiederum, die mit einer gewissen Häme das "Ende der Männer" (Hanna Rosin) feiern, treten in die Fußstapfen der maskulinistischen Überwinder und Eroberer.

Aufgabe unserer Zeit kann es nicht sein, muffige Vorstellungen von Männlichkeit als Antistress- und Entlastungsprogramme feilzubieten, wie es die angstgetriebenen Neuen Rechten und alten Konservativen tun. Die Gegenwart bietet eine begrüßenswerte Vielzahl von Identitätsangeboten – ob sie wahrgenommen werden, steht auf einem anderen Blatt. Dringlicher wäre es, den Irrsinn des Perfektionsstrebens zu kritisieren. Das würde mehr destruktiven Druck von uns allen nehmen als der Rückzug in Komfortzonen.

Perfektion, die gemeinhin mit "Schönheit" und "Gesundheit" assoziiert wird, ist statisch und langweilig. Perfektion passt zu müden Gesellschaften, die sich am Ende der Geschichte wähnen und es deshalb auch sind. Die Galionsfiguren offener, liberaler, nach vorne schauender Gesellschaften, sind eigensinnige und nonkonformistische Körper, die in ihren unausweichlichen Schwächen auch Potenziale erkennen – egal ob männlichen, weiblichen oder dritten Geschlechts.

 

Jörg Scheller (Jahrgang 1979) ist Kunstwissenschaftler, Journalist, Musiker und Teilzeit-Bodybuilder. Der gebürtige Stuttgarter lehrt seit 2012 an der Zürcher Hochschule der Künste, er forscht unter anderem zu Körperkultur, Popkultur und Popmusik. Seit 2003 ist er auch Sänger und Bassist des Duos Malmzeit, das einen Heavy-Metal-Lieferservice betreibt.


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2 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 23.03.2020
    Antworten
    Jörg Scheller, wie zielführend Ihre Überschrift, für die Sie sich entschieden haben, denn
    „männlich ist nicht gleich Mann!“ – Was überall und tagtäglich erlebbar ist! [1]

    Wie werden ja _alle_ als männliche und weibliche unserer Spezies geboren – Buben und Mädchen.
    Wir bleiben unser Leben lang…
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