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Die Fremde im Zug

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In "The Commuter" gerät ein vom Alltag gelangweilter Versicherungsmakler in eine mörderische Verschwörung. Mit seinem Echtzeit-Thriller eifert der Regisseur Jaume Collet-Serra seinem Vorbild Hitchcock nach.

Der Wecker klingelt um sechs, Michael MacCauley (Liam Neeson) rappelt sich auf und steigt hinein in die Routine seines Familienvater-Alltags, begrüßt den pubertierenden Sohn, der schnell seinen Laptop runterklappt, wechselt ein paar Sätze mit seiner Frau (Elizabeth McGovern), die ihn zum Bahnhof fährt, steigt ein in die Metro-North-Railroad, die ihn von seinem beschaulichen Vorort nach Manhattan bringen wird, wo er als Versicherungsmakler arbeitet. Ein ganz normaler Pendler eben, dieser MacCauley, auf Englisch: commuter. Ein Tag wie der andere, sagt ein Mitpendler, und irgendwann sei es dann vorbei. "Was?", fragt Michael. "Das Leben", lautet die Antwort.

Doch noch steckt Michael drin in der Mühle seines Angestelltendaseins. Er berät ein junges Paar und erzählt vom Crash-Jahr 2008, in dem er selbst fast alles verloren habe, nur auf die Versicherung sei damals noch Verlass gewesen. Aber auf die Versicherung als Arbeitgeber ist nun kein Verlass mehr. Michael wird zum Chef zitiert und entlassen. "Ich bin sechzig", sagt er verdattert. Es sei nichts Persönliches, sagt der Chef. Und schon steht Michael auf der Straße. Bevor er seine Frau informiert, geht er noch in eine Bar und erzählt einem Freund von seiner prekären Lage. Noch zwei Hypotheken abzuzahlen, die Studiengebühren der Kinder, und ... Als Trost bekommt Michael ein Bonmot zu hören: "Was Gott vom Geld hält, sieht man an jenen, denen er es gibt."

Nach dieser Exposition, die das politische, ökonomische und moralische Klima der USA aufgreift, könnte auch ein Drama in der Tradition von Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden" beginnen. Aber Regisseur Jaume Collet-Serra führt seinen Film nun zügig hinein ins Thriller-Genre und stellt dabei seinen Protagonisten Michael in die Reihe jener Hitchcock-Helden, die plötzlich und unerwartet in eine Verschwörung hineingeraten. Da sitzt ja auch schon eine Fremde im Zug (Vera Farmiga), zieht Michael, obwohl der seinen Ehering vorzeigt, ins überraschend intime Gespräch und offeriert ihm dann eine Lösung für seine Probleme: Er bekomme 100 000 Dollar, wenn er, dem doch so viele der Berufspendler bekannt seien, eine im Zug mitfahrende Person identifiziere.

Aber schon rückt Collet-Serra wieder ein bisschen ab von seinem Vorbild Hitchcock. Er verzichtet zum Beispiel auf jene ironische Ebene, die der Altmeister in seine Plots eingebaut hat. Und Michael ist ja auch nicht mehr ganz so unschuldig wie etwa der von Cary Grant gespielte Werbefachmann Roger Thornhill in "Der unsichtbare Dritte" (1959). Die Zeiten sind härter geworden. In seiner Not nimmt Michael einen Vorschuss an und kann dann nicht mehr zurück. Er ahnt zwar, dass seine Nachforschungen mörderische Konsequenzen für die aufgespürte Person hätten, aber seine eigene Familie wird jetzt bedroht und jede seiner Bewegungen überwacht. Allerdings war er mal Polizist, er ist für das, was da noch kommen wird, also nicht ganz unvorbereitet. Die Jahre als Versicherungsmakler waren sozusagen der Stand-by-Modus eines Action-Helden, der sich nun in einem rasanten Thriller beweisen kann.

Der inzwischen 65-jährige Liam Neeson hat in seiner langen Karriere immer gewechselt zwischen Arthouse-Filmen und Blockbuster-Kino. In den letzten Jahren reüssierte er als Actionheld in der brutalen und eher reaktionären "96 Hours"-Rache-Serie, aber eben auch in Jaume Collet-Serras intelligenteren Genrefilmen, zum Beispiel in "Non-Stop" (2014), in dem er als alkoholkranker Air-Marshall währen eines Fluges ein Komplott aufdecken muss. Der begrenzte Raum und die begrenzte Zeit sind nun auch die Prämissen des Echtzeit-Thrillers "The Commuter", der wie "Non-Stop" nicht nur Hitchcock nacheifert, sondern auch noch ein bisschen Agatha-Christie-Feeling verbreitet. All diese knapp und effektiv vorgestellten Menschen im Zug - weiß, schwarz, weiblich, männlich, arm, reich, jung, alt - könnten mit der Verschwörung zu tun haben. Ein Film als Verdächtigungs-Orgie.

Dass die Geschichte von Station zu Station immer mehr Logiklöcher aufweist, wird durch die fulminante Inszenierung gut kaschiert. Während der immer souveräner werdende Michael, für den der Stress ganz offenbar zur Therapie seiner Alltags-Depression wird, fieberhaft ermittelt und gleichzeitig nach einem Ausweg sucht, gerät er in mörderische Kämpfe und hängt irgendwann sogar im Gestänge unterm Zug. Die Kamera rast durch die Gänge wie gedopt, die Klimaanlage fällt aus, alles drängt sich irgendwann schwitzend in einem einzigen Waggon zusammen, und schließlich kommt es an der Endstation Cold Spring zum groß angelegten und feurigen Showdown.

Da ist dieser Thriller freilich selbst ein bisschen Routine geworden. Die Aufdeckung liefert wenig Überraschendes, wir wissen ja, dass die Korruption auch und vor allem in den großen Institutionen zu Hause ist. Und dass man dort über Leichen geht. Die meisten der "normalen" Menschen dagegen, auch wenn zunächst alle Täter sein könnten, erweisen sich hier als Solidargemeinschaft. Noch ist die US-Gesellschaft also nicht verloren. Der arrogante Goldman-Sachs-Börsenfritze allerdings, so viel darf man spoilern, gehört nicht dazu, ist allerdings auch nicht der Oberschurke. Oder doch, wenn man alles in einen größeren Zusammenhang stellt? Michael jedenfalls verabschiedet den Kerl mit gestrecktem Mittelfinger: "Im Namen der amerikanischen Mittelschicht: Fuck You!"

 

Info:

Jaume Collet-Serras "The Commuter" kommt am Donnerstag, 11. Januar in die deutschen Kinos. Welches Kino in Ihrer Nähe den Film zeigt, <link http: kinofinder.kino-zeit.de programmsuche the-commuter external-link-new-window>finden Sie hier.


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