KONTEXT:Wochenzeitung
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Das Chaos der Welt

Das Chaos der Welt
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Wer seinen diesjährigen Winter-Blues so richtig genussvoll feiern möchte, dem sei das Büchlein "Sabbat" aus dem Stuttgarter Schmetterling Verlag ans Herz gelegt. Alles Fürchterliche dieser Welt, aufbereitet als schwarzhumorige, skurrile Poesie. Ein Genuss, meint Kontext-Redakteurin Anna Hunger, nicht nur für Hoffnungslose.

Zum letzten Mahl geladen hat Mek Landow, Flugzeugträger, der sich selbst pietätlos und "ein inneres Zerwürfnis" nennt. Zu Gast ist die heutige Gesellschaft, Ziel des Abends: der erlösende Tod im Angesicht der Welt, bei allerfeinsten Speisen und nur den besten Weinen. "Trinken Sie aus!", fordert der Gastgeber immer wieder, "fühlen Sie die Weite eines ausgetrockneten Salzsees, die friedliche Leere der Leblosigkeit!" Und moderiert sich durch die Tagesordnung. Neurotechnologen, System-Soziologen und Umwelt-Ingenieure sind eingeladen, untermalen den Abgang vom Parkett des Lebens mit Vorträgen über ihre meist unheilvollen Zukunftsvisionen. Die Themen dazwischen: Umweltzerstörung, Kriege, Ungerechtigkeit, die Qual einer Stopfgans bis zum Zeitpunkt, an dem sie zur Genießer-Pastete wird. Fast jeder Satz dieses 80-seitigen Werks birgt neues Übel.

Man möchte gerne schreiben, der Autor vermittle all das "mit einem Augenzwinkern". Aber das wäre gelogen. Das Zwinkern bleibt ganz und gar dem Leser überlassen. Wenn er denn am Ende nicht heult. Aus Weltschmerz. Oder vor lauter Bewunderung, wie poetisch das Ende sein kann. Um es mit Mek Landow zu sagen: "Willkommen im Nihilismus einer Leitkultur am Ende ihrer Entwicklung."

***

"Verehrte Gäste, Sie ahnen es, Sie leben in einer Welt, die nicht aufgeht; wie eine mathematische Gleichung mit falschen Zahlen, falschen Operationen und Vorzeichenfehlern. Eine Welt, die trotzdem weiterrechnet, Stunde um Stunde, Tag für Tag, Jahrelang, Jahrzehnte, Jahrhunderte. Eine Welt, die schummelt und verdeckt und ständig neue Rechenregeln erfindet, um die Gleichung doch noch zu lösen. Eine Welt, die aber einfach nicht aufgeht. Da machen Sie dann irgendwo mal mit. Tummeln sich durch dies und jenes, gehen einkaufen, essen und schlafen, arbeiten durch die Wochentage und verstehen in der Regel wenig von gar nichts. Sie leben in konstanter Überforderung und bauen daraus Ihre Handlungslegitimation. Unwissen schützt zwar nicht vor der willkürlichen Strafe, aber vor dem alltäglichen Urteil. Sie wehren sich solange gegen das gefühlte Unrecht der Welt, bis sich Ihre Kampfhaltung mit der Frustration dahingehend verheddert, dass Sie nur noch das Beste aus dem ganzen Schlamassel herausholen wollen. In der Folge kaufen Sie gute Gebrauchtwagen, lächeln Kindern zu, grillieren im Garten, steigen auf, binden Partner, freuen sich über gutes Essen, gute Unterhaltung und guten Lohn, wirken pragmatisch und gehen nicht wählen. Jedes Unrecht hat zwei Seiten, sagen Sie; setzen auf Kontroversen und Konfusion. Und zur Zerstreuung tänzeln Sie sich abends ins Schachmatt. Irgendwann haben Sie Kinder, denen es ebenso ergehen wird. Säbelrasseln im Haus der Vorwände und Vorurteile. Sie hoffen auf die Vergänglichkeit der Unsicherheit und schlafen durch den Nebel.

Ich kritisiere nicht, Mek Landow mein Name, das läge mir fern. Ich fordere lediglich Ihre Einsicht, Ihr Verständnis für die Ausweglosigkeit Ihrer zeitgemäßen Existenz; Ihr Vertrauen in Verlust, Fall und Lösung. Den Zimmerpflanzen fehlt der Wind. Noch hangeln Sie sich durch eine Welt aus Stein und Erde, Stahlträger, Betonwände und Holzdächern, durch Wälder und Grasländer, über Berge, Ozeane, Sandwüsten und Asphaltstraßen; hangeln sich durch eine Welt, mit möglichst viel Schwung, Sprungkraft und gefedertem Absatz, mit langgestreckten Armen und im Kopf: Nur nie aufgeben, nie fallen, nie ... Ich kritisiere nicht, glauben Sie mir, doch verlange Ihren klaren Blick auf das Offenkundige. Und vergessen Sie das Trinken nicht, liebe Freunde. Wir haben für Ihren Abgang die edelsten Flaschen aus den besten Kellern des Landes geholt. Suchen Sie den Korkgeschmack im Leben.

Oh Menschen, frohlocket! Wie glücklich mich dieser Anlass stimmt. Er gibt mir den Glauben an die weiße Wolke zurück – Samenbanken, denken Sie an Samenbanken, meine Damen und Herren, alles Leben entspringt einem Samen – ja, die Wolke, weißer Dunstschleier, der sich schützend über die eiternden Wunden der nackten Erde legt, auf dass sie heile. Wie glücklich. Werte Gäste, Ihnen ist meine Freude gewidmet, Ihretwegen freue ich mich, heißen Sie Ihr Glück willkommen, wir bieten Ihnen die Erlösung und das Versprechen, dass Sie nichts verpassen werden – nichts, das sie nicht ohnehin verpassen würden. Denn wir lieben den Menschen, doch fürchten seine Zielstrebigkeit.

Wasser ist die Grundlage des Lebens, Wasser fließt stetig, fließt als Blut durch Ihren Körper – wer sich festklammert, Freunde, den Fluss verweigert, stirbt einen krampfhaften Tod. Man lässt Sie zu Unrecht das Jenseits fürchten. In diesem Leben stirbt die Seele schon lange vor dem Leib. Tauchen Sie ein. Schweben Sie. Ihre Angst ist verständlich, doch deren Überwindung Ihr einziger Weg zum Glück. Lassen Sie sich tragen. Oh Menschen! Auch Sparschweine sind Schweine, wäre der Weg das Ziel, Ihnen fehlte die Kraft, ihn zu gehen. Auf Ihr Wohl und ein leichtes Ende! Als Vorspeise servieren wir Ihnen einen vollständig bodenlos kultivierten Kopfsalat aus Gewebekultur, weder in Geschmack noch Nährstoffgehalt von natürlich produziertem zu unterscheiden. Wir haben die chemische Formel der Erde, vertrauen Sie uns.

Geschätzte Anwesende, führen Sie sich die Welt vor Augen und schwinden Sie vor ihr. Sie haben Fallschirmspringer und Bombeningenieure, Kleinkindererzieher, Müllsäcke und Bergsteigeausrüstungen. Sie sind umgeben von Museen und Reizwäschekatalogen, Schmerztabletten, Gefängnissen und Lustphantasien. Sie haben Länder, Gesetze und Grenzen, Gesetzesbrecher, Toleranz und Nulltoleranz, Bettler und Inspekteure, Polizisten, Religionen und Daunenfabriken. Veganer, Schlächter und Schauspieler, Moralisten und Opportunisten, ­Videospiele, Autodiebe, Flugzeugentführer und Journalisten, Könige, Gemüsehändler, Brillenverkäufer und Touristenführer, Abgeordnete und Angestellte, Schriftsteller, Buchhändler und Ferien. Waterboarding. Es gibt Regenten und Massengräber, Bewunderer, Hasser und Mitklatscher, Schönredner und Gläubige. Choleriker, Abstinenzler, Waschmittel und Fernsehzuschauer. Sie haben Pornodarsteller, Sklaverei und Bibeln, Vergewaltiger, Verheiratete, Prostituierte und Väter, Mysterien und Angststörungen, Folterer, Soldaten, Abtreibungen und Filme über Monster. Breit gestreute Illusionen. Man macht Politik und Schlagzeilen, Lärm, Staub und Unfälle, Verkehrsunfälle, Geschlechtsverkehrsunfälle. Es gibt Gewinnrechnungen, Viren, Pressekonferenzen und Propaganda. Trickfilme, Mütter und die Vereinten Nationen, Komplizen, Geld, Verschwörungen und Wissenschaftler. Geheimdienste und Geheimgefängnisse, Drogenhandel, Dachverbände, Wegweiser, Lügen und Drohnen. Überzeugungen und Smalltalk. Peinlichkeiten, Liebe, Augenzwinkern und schöne Träume. Geheimnisse, Kopftücher, Krawatten und Komplexe, Kurzschlusshandlungen, Kompensationen und Aids.

Die Unüberschaubarkeit dieser Welt ist Quelle einer gewollten Psychose; notwendige Voraus­setzung der künftigen zivilisatorischen Entwicklung. Sie schafft den ignoranten, selbstsicheren Zeitgenossen mit innerer Einsamkeit. Das Zeit­alter der Technologie hat gerade erst begonnen; wir vereinen Soziophobie und Selbstdarstellung, eine beispiellose Inszenierung des menschlichen Abgrundes und berührungslose Oberflächlichkeit. Aber essen Sie, Freunde, essen Sie, lassen Sie sich den Genuss nicht verderben – das Einzige, was Ihnen noch vom Leben bleibt. Glück ist eine Wechsel­wirkung mit dem Leiden – oder Einbildung. Unsere Ohnmacht ist flexibel."

(Auszug aus "Sabbat – eine Welt trinkt aus", Seiten 12 bis 16, erschienen im <link http: www.schmetterling-verlag.de page-5_isbn-3-89657-099-4.htm _blank external-link>Schmetterling Verlag Stuttgart)

Gian Max Amin sitzt in Casablanca, Marokko – da lebt er gerade –, auf einem Dach. Weil dort der Internet-Empfang für Telefonie per Skype gut ist, zumindest wenn es nicht bewölkt ist. Ein sympathischer Kerl, Typ intellektueller Weltenbummler. Zwanzig Minuten dauert das Gespräch mit Kontext-Redakteurin Anna Hunger, zum Schluss schwenkt er die Kamera über die Kulisse hinter sich. "Satellitenschüsseln und Betonwüste", sagt er und seufzt. In Stuttgart vor dem Redaktionsfenster staut sich der Nachmittagsverkehr auf der Hauptstätterstraße. Zivilisation, überall. Es ist doch zum Heulen.

Herr Amin, Ihr Verlag hat "Sabbat" angekündigt als ein "wütendes Buch". Würden Sie das auch so sagen?

Es ist bestimmt aus viel Wut heraus entstanden. Und aus einer sehr tiefen Liebe der Welt gegenüber. Dadurch vielleicht auch aus einer umso größeren Wut auf das, was sie kaputt macht.

Sie haben fürchterliche Momente des Menschseins gesammelt und in einen herrlich skurrilen und grauenhaften Abend gegossen.

Wichtig ist mir aber, diese mittlerweile globalisierte Menschheitskultur, diese Zivilisation nicht auf das Menschsein als solches zu übertragen. Meiner Meinung nach hat das nicht viel miteinander zu tun. Menschen gibt es seit Hunderttausenden von Jahren auf dem Planeten, auch verschiedene menschliche Kulturen, die existiert haben, ohne ihre Lebensgrundlage kaputt zu machen. Es ist ganz konkret eine Auseinandersetzung mit der Art von Zivilisation, die sich in den vergangenen 500 Jahren globalisiert hat. Ich glaube, die Menschheit an sich hat sehr viele Möglichkeiten, auf diesem Planeten zu leben.

Was hat Sie bewogen, dieses Buch zu schreiben?

Dieses Gefühl vom Chaos einer Welt. Es gibt eine unvorstellbare Vielfalt von Lebensrealitäten, die unsere Zivilisation zusammenfasst, die gleichzeitig existieren und oberflächlich nichts miteinander zu tun haben, dann aber doch sehr intensiv miteinander verwoben sind. Das ist alles sehr unübersichtlich. Auch das Buch, ein verwirrter Haufen von Bildern. Das Ganze ist ein Ausdruck des Unwohlseins innerhalb dieser Zivilisation. 

Woran krankt denn die Zivilisation Ihrer Meinung nach?

Der geht es blendend. Das ist eine kerngesunde Krankheit. Und da ist man dann sowohl von ihr befallen als auch selber stolzer Befall. Das ist das ganze Paradox. Und doch habe ich ein Gefühl von einem ganz anderen Leben.

Wie schlägt sich das auf Ihr eigenes Leben nieder? 

In der Suche nach einer Art zu leben, die im Einklang mit meinen eigentlichen Gefühlen und Bedürfnissen steht. Und die nicht alles um mich herum an die Wand fährt. Das hört sich gut an, aber zum Frühstück trinke ich dann meinen Kaffee und sitze vor dem Mac. Ich fliege durch die Welt und lasse mich verwirren, klammere mich leidenschaftlich an Lösungsvorschläge. Und dann bleibt die Frustration. Das ist Sabbat.

Gibt es also keinen Ausweg?

Ich hoffe schon. Nur führen viele Auswege nach ein paar Umwegen wieder direkt ins Schlamassel. Man muss also die Falle erstmal gut kennen. Und dann den Mut haben, aus ihr auszubrechen.


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