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Die Stadtzeichner

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Mit Stift und Skizzenblock durch die Stadt: Für das Urban-Sketching-Festival "Drawing (on) the City" war eine Gruppe aus dem georgischen Tiflis eine Woche lang in Stuttgart zu Gast. Und machte sich ihr Bild von der Stadt – oder besser: viele Bilder.

Was sie sehen, ist gar nicht so leicht auf einen Nenner zu bringen. "Jeder Ort hier in Stuttgart war neu für uns, und jeder ist speziell" sagt etwa Elene. "Aber wenn man zeichnet, bekommt man eine Verbindung. Es fühlt sich dann an wie zu Hause." Besonders beeindruckt hat sie jedoch, wie grün Stuttgart ist. Und die georgische Koordinatorin Lali Perteneva bestätigt: "In Tiflis regiert vor allem wilder Kapitalismus. Für uns bedeutet neue Stadtentwicklung: neue Glas-Wolkenkratzer". Das sei in Stuttgart anders. "Ich hätte nicht erwartet, dass neue Stadtentwicklung so schön, so gut strukturiert sein kann." Aussagen, die manche mit der Stadtentwicklung unzufriedene Stuttgarter erst einmal stutzen lassen.

"Drawing (on) the City" war das Motto des Festivals, (über) die Stadt zeichnen. Trägt das Zeichnen der und in der Stadt tatsächlich zu einem anderen Blick bei, zu einem aktiveren bürgerschaftlichen Engagement? Das dürfte bei jedem Beteiligten anders gewesen sein. Auf jeden Fall hat die deutsch-georgische Urban-Sketching-Woche zu sehr unterschiedlichen Blicken auf unterschiedliche Arten von Stadtentwicklung geführt.

Bei Urban Sketching handelt es sich um eine weltweite Bewegung, begonnen 2007 im US-amerikanischen Seattle. Initiiert hat sie der für die "Seattle Times" arbeitende Journalist Gabriel Campanario. Der wollte zunächst nur eine Gruppe gründen, um eine Art des Zeichnens zu fördern, die das wirkliche Leben zeigt – sozusagen dokumentarisches, journalistisches Zeichnen.

Die Gruppe wuchs, ein Blog für die Beiträge wurde gegründet, schließlich 2009 die Non-Profit-Organisation Urban Sketchers, mit eigenem Manifest. Zentrales Prinzip darin: "Wir zeigen die Welt, Zeichnung für Zeichnung". Aber auch: "Unsere Zeichnungen erzählen die Geschichte unserer Umgebung, der Orte, an denen wir leben oder zu denen wir reisen". Und, ganz wichtig: "Wir veröffentlichen unsere Zeichnungen online" – die Sketcher sind global vernetzt.

Inzwischen gibt es in zig Städten rund um die Welt Urban-Sketching-Gruppen, seit 2014 auch in Stuttgart. Gegründet wurden die "Stuttgart Urban Sketchers" (Stusk) von Heiko Fischer und Martin Zentner, die beide auch in der Wählervereinigung "Die Stadtisten" aktiv sind, einer Vereinigung, die sich nicht zuletzt als Folge der Unzufriedenheit mit den beschränkten Mitgestaltungsmöglichkeiten der BürgerInnen in der Stadtpolitik, die vor allem bei Stuttgart 21 offenbar wurde, zusammenfand.

Als Beweggründe für die Gründung der Zeichen-Gruppe nennen Fischer und Zentner denn auch auf der Stadtisten-Homepage, dass politisches und bürgerschaftliches Engagement im Kleinen anfange, "und ganz am Anfang steht die Beobachtung der Stadt". "Wir sind vielleicht die politischste Urban-Sketching-Gruppe der Welt", sagt Fischer, lacht und fast scheint es, als finde er den Anspruch selbst etwas hochgegriffen.

2015 trafen Stusk-Mitglieder bei einem internationalen Treffen zum Thema Stadtentwicklung in Georgien auf eine Gruppe, die sich mit dem Wandel der Hauptstadt Tiflis auseinandersetzt. "Architektonisch und kulturgeschichtlich wertvolle Baudenkmäler fallen dort einer außer Rand und Band geratenen Städtebaupolitik zum Opfer", sagt Fischer. Für den Erhalt von Baudenkmälern in Tiflis setzt sich unter anderem die Kunsthistorikerin und -kritikerin Lali Perteneva ein, die die Stuttgarter im 2016 zu einem Urban-Sketcher-Treffen in die georgische Hauptstadt einlud.

Nun folgte der Gegenbesuch. Eine Woche lang, vom 2. bis zum 8. Juli, waren elf georgische ZeichnerInnen in Stuttgart zu Gast. Stationen zum gemeinsamen Zeichnen waren der Stuttgarter Hafen, die S-21-Baustelle (wo es auch eine Einführung zum Protest gegen das Großprojekt gab), die Stadtbibliothek oder das Mercedes-Museum. Überall konnten sich Interessierte einklinken. "Wir hatten immer Koffer mit Zeichenausrüstung, mit Stiften und Blocks, für Neugierige dabei", sagt Heiko Fischer, der das Treffen koordinierte. Am Ende der Woche wurden die Ergebnisse in einer Ausstellung in der Kulturinsel Cannstatt präsentiert.


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1 Kommentar verfügbar

  • Andreas Welte
    am 12.07.2017
    Antworten
    Grossartig, echter Kulturaustausch mit vielseitigem Gewinn. Neue Sicht auf die Stadt, ihre Lebewelt und ihre Menschen. Unvoreingenommen und mit anderen Augen. Bitte mehr davon.
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