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Das Gemüse auf den Friedhof

Das Gemüse auf den Friedhof
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In Matti Geschonnecks Verfilmung des Eugen-Ruge-Romans "In Zeiten des abnehmenden Lichts" verläuft der Verfall einer Familie parallel zum Untergang der DDR. Ein exzellent inszeniertes Kammerspiel, meint unser Filmkritiker.

Es ist das Jahr 1989 und Sascha will nicht mehr. Noch existiert die DDR, sie bereitet sich sogar vor auf ihr vierzigjähriges Bestehen, aber sie ist nicht mehr sein Land, nicht mehr sein Staat, nicht mehr seine Heimat. Der Vater Kurt (Sylvester Groth), ein trotz allem weiter an den Sozialismus glaubender Historiker, sucht Sascha (Alexander Fehling) auf in dessen schäbiger, fast leerer Hinterhofbehausung und will ihn überreden, zur Geburtstagsfeier des Großvaters zu kommen. Die beiden streifen durch ein tristes Ostberlin, landen schließlich in einer Unterführung an einem Stehimbiss. Die üblichen Vaterfragen, aber vorgetragen ohne rechte Überzeugung: "Was macht deine Doktorarbeit?" – "Es gibt keine Doktorarbeit", antwortet der Sohn, und setzt hinzu: "Ich will nicht mein Leben lang lügen müssen."

Sascha kommt nicht zum Neunzigsten seines Großvaters, des hochrangigen Ex-Funktionärs Wilhelm Powileit (Bruno Ganz). Es wird bei diesem Familienfest offiziell auch nicht über ihn gesprochen, obwohl oder gerade weil bald durchsickert, dass er in den Westen gegangen ist. So ist Sascha bei diesem Geburtstag, an dem in der alten Villa auch die Partei ihre Aufwartung macht und im Vorgarten ein FDJ-Chor singt, sehr präsent: als unangenehme Leerstelle, als Fehler im System, als Systemfehler. Für die aus Russland stammende Mutter Irina (Evagenia Dododina) ist der Sohn gestorben. Der Vater Kurt dagegen, auch wenn er es nicht ausspricht, bringt Verständnis auf für Sascha, wenn schon nicht für dessen Flucht, dann doch für deren Motive. Für den alten Powileit aber ist der Enkel ein Deserteur, den man früher – und er sagt das mal sehr einverständig über Wir-sind-das-Volk-Demonstranten – an die Wand gestellt hätte.

Ein halbes Jahrhundert komprimiert auf einen Tag

Eugen Ruges 2011 erschienener und autobiografisch geprägter Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" erzählt vom Untergang der DDR und vom Untergang einer Familie, besser: er erzählt den Untergang dieses Staates als Familiengeschichte. Über fünf Dekaden hinweg – von 1952 bis 2001 –, greift dieser Roman aus, springt dabei in den Jahren mal vor, mal zurück und wechselt immer wieder Ort und Perspektive. Wie der Regisseur Matti Geschonneck ("Boxhagener Platz") und sein Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase ("Sommer vorm Balkon") diesen Stoff aber nun fürs Kino adaptiert haben, ist sehr ungewöhnlich, ja, man könnte sagen: es ist geradezu kühn. Sie verdichten dieses Buch nämlich – von Prolog und Epilog abgesehen – zu einem Kammerspiel und konzentrieren sich auf einen einzigen Tag und einen einzigen Schauplatz. Die Dramaturgie des Romans: komplett verändert. Und das Erstaunliche: sein Geist bleibt trotzdem gewahrt.

Zum großen, aber nicht aufdringlichen Symbol wird hier der alte Ausziehtisch, den Sascha bei früheren Feiern zusammengebaut hat. Diesmal fehlt eine Stütze, so dass die Teile brutal zusammengenagelt werden und die Konstruktion dennoch wacklig wirkt. Den Hausherrn Wilhelm scheint es nicht zu kümmern, er ist vor allem mit Machtausübung beschäftigt. "Das Gemüse auf den Friedhof!", so kommentiert er salopp die Blumengeschenke, wobei jeder der Gäste weiß: ohne Blumen, die gleich nach Eingang sorgfältig zugeordnet und beschriftet werden, hätte man hier nicht auftauchen dürfen. Denn Wilhelm und seine in weiß-gestärkter Bluse steckende Frau Charlotte (Hildegard Schmahl), beide in giftiger Abneigung miteinander vereint, achten auf Formen. Sein kumpeliges Proletariertum etwa ist nur noch Vortäuschung respektive Zitat und längst einem Bürgerleben gewichen, zu dem ganz selbstverständlich die Bedienstete Lisbeth (Gabriela Maria Schmeide) gehört. Die wird wie ein Familienmitglied behandelt, aber wenn sie selber glaubt, dazuzugehören, an ihre wahre Stellung erinnert. Früher hätten die Powileits so ein Verhalten wohl verachtet. Früher, das waren die Zeiten des kommunistischen Kampfs gegen den NS-Staat gewesen und die langen Jahre im mexikanischen Exil, aus dem die beiden erst in den Fünfzigern zurückkehrten. Zu spät für die ganz große Funktionärskarriere, wie er bedauert.

Hintergründig ganz ohne deklamatorische Vorträge

So vieles erfährt der Zuschauer über diese Personen. Und dies eher nebenbei, also nicht, wie in mittelmäßigen TV-Spielen, durch deklamatorisch vorgetragene Bekenntnisse und mit Ausrufezeichen versehene Rückblenden, sondern eingebettet in Gespräche und aufgelöst in Handlung. Diese Geschichte ist so souverän inszeniert, dass sie sogar auf Filmmusik verzichten kann. Auch das alte Haus erzählt dabei mit, die dunklen Flure, die knarrenden Treppen, die angeranzten Tapeten, die Bilder von Fabriken und Häfen, die Schachteln voller Parteiorden, die Zeitungsausschnitte ("Ein langes Leben für die Arbeiterklasse") oder die blauen Marx-Engels-Bände in Wilhelms Arbeitszimmer, hinter denen seine Tabletten versteckt sind: alles Zeugnisse deutscher Biografien, durch die das 20. Jahrhundert hindurchgegangen ist.

Und wie sich diese Krisen, Kriege und Katastrophen in den Gesichtern abgelagert und ausgehärtet haben. In dem von Kurt etwa, der damals als Linker in der Sowjetunion Zuflucht suchte, in die stalinistischen Säuberungen geriet, erst zu Lagerhaft verurteilt und anschließend in den Ural verbannt wurde. Dort hat er Irina kennen gelernt und geheiratet, die jetzt den Erinnerungen an ihre Heimat nachhängt und zu viel trinkt und die er betrügt. All diese Vergangenheiten, Verletzungen und Verwerfungen. Und keine Möglichkeit, offen darüber zu reden. Der Film entschuldigt nichts, aber er ist eher subtile DDR-Aufarbeitung denn wütende Abrechnung. Er will verstehen, was diese Menschen angetrieben hat, will zeigen, wie die Historie, die von ihnen doch mitbestimmt werden sollte, alle geprägt hat, bis sie schließlich zu dem wurden, was sie vielleicht nie sein wollten. "Ich hätte gern ein anderes Leben gehabt", rutscht es mal aus Charlotte heraus.

Eine melancholische Grundstimmung durchzieht diese Geschichte, aber es ist auch Platz für Komisches. Das Ziel bei der Produktion sei, so sagt da ein Landwirtschafts-Delegierter, "ein Ostkäse, der wie Westkäse schmeckt". Ein anderer Funktionär sucht mit gequälter Verdrücker-Miene das Klo, wird aber, bevor er es benutzen kann, immer wieder aufgehalten. Kurz bevor dies zur Sketch-Nummer wird, dreht die Inszenierung jedoch ab und wendet sich anderen Personen zu. Irinas Mutter zum Beispiel, über deren nach Mottenpulver riechenden Mantel sich Charlotte und Lisbeth mokieren. Als das ganze Fest genauso gekippt ist wie der Tisch, singt sie ein russisches Volkslied.

"In Zeiten des abnehmenden Lichts" zeigt, wie die Theorien durch die Praxis korrumpiert wurden, wie sie ideologisch und destruktiv (geworden?) sind. Die DDR dämmert hier, sowie ab und an der Jubilar Wilhelm, einfach mal weg. Aber wenn das Licht abnimmt, dann heißt das auch, dass es mal da war, dass es also, aus Sicht der Linken, eine Zeit der Hoffnung und eine Zukunft gab. "Wir hatten die Fähigkeit zu glauben. Haben wir alles verloren?", so fragt einer am Ende dieses exzellent inszenierten und gespielten Films. Ja, muss man da wohl antworten. Das heißt aber auch, sich etwas einzugestehen: dass man sich nämlich "eine Ordnung, wo Geld nicht alles ist", kaum mehr vorstellen kann.

 

Info:

Matti Geschonnecks "In Zeiten des abnehmenden Lichts" kommt am Donnerstag, den 1. Juni in die deutschen Kinos. Welches Kino in Ihrer Nähe den Film zeigt, <link http: kinofinder.kino-zeit.de programmsuche in-zeiten-des-abnehmenden-lichts external-link-new-window>finden Sie hier.


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1 Kommentar verfügbar

  • Gerald Fix
    am 02.06.2017
    Antworten
    Zunächst erlaube ich mir, Ihnen mal zwischendurch meinen Dank für Ihre Arbeiten auszusprechen - im Dschungel der Filmkritik (oder sollte man in mancher Hinsicht sagen: in der Wüste?) sind Ihre Texte eine immer gerne aufgesuchte Oase.

    Ich kann Ihre Kritik des Films sehr nachvollziehen - hier wurde…
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