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Blut und Hoden

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Irene Langemann dokumentiert die regimekritischen Aktionen des russischen Politkünstlers Pjotr Pawlenski und stellt sich dabei ganz auf dessen Seite. Das ist mindestens fahrlässig, meint unser Filmkritiker.

Oahhhh!!! Ein Stöhnen wird durch den Kinosaal gehen! Und der männliche Teil des Publikums wird sich auch noch empathisch zusammenkrümmen! Denn da vorn auf der Leinwand ist jetzt der Moment gekommen, bei dem schon das Zuschauen weht tut. Nackt, hager und sehr still sitzt Pjotr Pawlenski auf dem Roten Platz. Er kann nicht aufstehen, er hat nämlich einen großen, dicken Nagel durch seinen Hodensack hindurch ins Pflaster getrieben. Damit protestiere er, so erklärt der Künstler seine Aktion aus dem Jahr 2013, gegen die Apathie, die Indifferenz und den Fatalismus in Russland.

Der öffentliche Einsatz des eigenen Körpers – und immer wieder auch die Selbstverletzung – sind zu Pawlenskis Markenzeichen geworden. Ein Jahr vor seiner Blut-und-Hoden-Aktion hat er seine Solidarität mit Pussy Riot dadurch ausgedrückt, dass er sich vor der Kazan Kathedrale in St. Petersburg den Mund zunähte. Kurz danach protestierte er erneut gegen die staatliche Repression, indem er sich nackt in Stacheldraht wickeln und vor ein Petersburger Regierungsgebäude rollen ließ. Und im Jahr 2014 sitzt Pawlenski, wieder nackt, hager und sehr still, diesmal aber mit einem großen Messer in der Hand, auf einer hohen Mauer in Moskau. Die Aktion richtet sich gegen den politischen Missbrauch der Psychiatrie, am Ende opfert der Künstler ihr ein Ohrläppchen.

Ist Pawlenski also ein aufgeklärter Held, der mit ungeheurem Mut eine ungeheuer repressive Macht anprangert? Für die 1959 in Russland geborene und seit 1990 in Deutschland lebende Regisseurin Irene Langemann besteht daran kein Zweifel. Was Pawlenski sagt und tut, wird von ihr nicht konfrontiert mit Gegenpositionen oder überhaupt in Frage gestellt. Dass für sie die Macht in Russland immer noch eine dunkle ist, kann man sogar hören: Die Luft- und Flugaufnahmen vom Kreml hat sie unterlegt mit bedrohlich dröhnender Thriller-Musik. Mit den Bildern freilich tut sich die Regisseurin schwer, vor allem mit den dokumentarischen. Es ist eben nicht so leicht, den bösen Staat zu erkennen, wenn seine Vertreter sich als Menschen zeigen, wenn diese Pawlenski vorsichtig aus seiner Stacheldrahtrolle herausschneiden, wenn sie unter dem absturzbereiten Mauersitzer hastig Matratzen aufschichten oder wenn jener Polizist, der den Angenagelten auf dem Roten Platz entdeckt, sich die Sache mit hilflos-besorgter Miene ansieht und dann den Notarzt ruft.

Pawlenski fehlt das repressive Gegenüber

Immer wieder versucht Pawlenski, den Staat zu provozieren und aus ihm jene Gewalt hervorzulocken, die er schon vorher kritisiert. Politische Kunst heiße für ihn, so der Aktionskünstler, "die Mechanik und die Hebel der Macht darzustellen. Ich zeige die Beziehungen zwischen der Macht und der Gesellschaft." Aber nein, es funktioniert nicht. Mit seinem kahl geschorenen Schädel und dem ausgemergelten Gesicht sieht Pawlenski zwar aus wie ein Märtyrer und Sträfling in der Dostojewski- oder Tarkowski-Tradition, aber es fehlt ihm jenes Gegenüber, das ihn zum Opfer machen könnte. Letztlich provoziert Pawlenski ins Leere, weil der Staat, den er mehr oder weniger mit dem Sowjetsystem Stalinscher Prägung gleichsetzt, eher irritiert denn repressiv reagiert. Nach einer seiner Aktionen wird er zwar psychiatrisch untersucht, aber für geistig gesund erklärt und freigelassen.

Im Jahr 2015 versucht Pawlenski es dann noch einmal, und diesmal scheint es zu klappen. Er zündet die Tür der Lubjanka an, wo der Inlandsgeheimdienst FSB residiert, er wird tatsächlich verhaftet und es kommt zum Prozess. Wäre das noch immer die KGB-Zentrale, dann würde aus Pawlenski jetzt tatsächlich ein politischer Märtyrer werden. So aber erleben er und auch die Regisseurin eine Enttäuschung: "Ich hatte vor, ein Gespräch mit ihm im Gefängnis zu machen", sagt Irene Langemann in einem Interview, "aber dann ist er – für uns alle überraschend – freigekommen. Eigentlich haben die Anwälte damit gerechnet, dass er drei Jahre bekommt." Pawlenski selber hätte gern noch viel mehr bekommen, mindestens zwanzig Jahre, und zwar wegen "Terrorismus". Dass die Macht sich weigert, den bösen Prognosen zu entsprechen, ist für Pawlenski und Langemann wohl besonders perfide.

Trotzdem bleibt die Regisseurin unbeirrt und dreht weiter jenen Film, den sie von Anfang an im Kopf hatte. Wenn schon in den dokumentarischen Aufnahmen kein Knüppel in Polizistenhand zu sehen ist, so stellt sie entsprechende Szenen – die Freiheit der Kunst? – eben in fiktiven Schattenrisspassagen nach. "Pawlenski – Der Mensch und die Macht" ist letztlich ein propagandistischer Film der unbelegten Behauptungen, in dem schon das Bild eines Polizeiautos für den Beweis staatlicher Willkür herhalten muss. Eigentlich wäre dieser Film auch nicht groß der Rede wert, wenn er im so genannten freien Westen nicht auf einen Resonanzraum träfe, in dem jede Kritik an Russland respektive an Putin begierig und gläubig aufgenommen wird.

Pawlenskis Privatleben: ein bisschen unheimlich

Auch die Regisseurin, die es besser wissen müsste, fragt lieber nicht so genau nach, wen sie da als Held des Westens porträtiert. Dass Pawlenski mit seiner Freundin Oksana Schalygina in einer zugemüllten Wohnung haust, nun ja, das kann man zur Not noch als Freiheit der Boheme deklarieren. Dass da aber zwei kleine Mädchen herumkriechen, die kaum einen Mucks von sich geben, wirkt doch ein bisschen unheimlich. Das Paar schickt die Kinder übrigens nicht in die Schule, sie hätten zu Hause schließlich alles, was sie bräuchten. Und dann erklärt dieser Film, eher im Vorbeihuschen, warum Oksana Schalygina ein Finger fehlt. Sie habe Pawlenski mal angelogen, er habe sich deshalb von ihr getrennt, und um sein Vertrauen zurückzugewinnen, habe sie sich als symbolische Opfergeste besagten Finger abgeschnitten.

Ein fürchterliches Paar? Jedenfalls ein Paar zum Fürchten. Denn die Geschichte dieser beiden Fanatiker ist nach Drehschluss noch weitergegangen. Dem von Human Rights Watch zunächst mit dem Havel-Preis für kreative Dissidenz ausgezeichneten Pawlenski wurde dieser Preis wieder entzogen, als seine Unterstützung für die polizistenmordende sibirische Protestbewegung "Fernöstliche Partisanen" bekannt wurde. Und im Dezember 2016 ist Pawlenski mit Oksana Schalygina nach Paris geflohen, weil er in Russland wegen Vergewaltigung der Schauspielerin Anastasia Slonina gesucht wird. Diese Frau sei eine Denunziantin, hat Pawlenski danach erklärt. Sie habe "Gemeinschaft, Unterstützung und Beziehungen gesucht", und als Paar in einer offenen Beziehung, das Besitzansprüche ablehnt, hätten sie ihr dann die Möglichkeit gegeben, sich ihnen zu nähern. "Unsere Lebensform wurde gegen uns gewendet – ein kluger Schachzug aus Sicht des Apparats".

Putin-Gegner dürften sich Pawlenskis Verschwörungstheorie reflexhaft anschließen. Die Arthouse-Kinos zum Beispiel, in denen der Film läuft, schreiben über den Fall knapp und suggestiv: "Mitte Januar 2017 ist Pjotr Pawlenski aus Russland geflohen und hat in Frankreich politisches Asyl beantragt." Mitglieder des regimekritischen doc.theater freilich, an dem Anastasia Slonina arbeitet, haben sich auf ihre Seite gestellt. Dass Pawlenski auch noch deren Freund verprügelt hat, streitet er gar nicht ab, nur das Video dazu sei falsch. Pawlenskis Aktionskünstler-Kollege Anton Litwin aber hat in einem Interview erkärt: "Meiner Meinung nach findet hier keine politische Verfolgung statt … Pawlenski und Schalygina sind zu weit gegangen. Das, was für sie eine offene Beziehung ist, war für die Schauspielerin Gewalt". Man kann aus der Ferne kein Urteil in dieser Sache fällen. Aber wer diesen Pawlenski zum Kämpfer von Demokratie und Freiheit macht, der handelt zumindest fahrlässig.

 

Info:

Irene Langemanns Dokumentarfilm "Pawlenski – Der Mensch und die Macht" kommt am Donnerstag, den 16. März, in die deutschen Kinos. Im Stuttgarter Arthaus-Kino Delphi wird er am Mittwoch, den 22. März, um 19.30 Uhr in Anwesenheit der Regisseurin präsentiert. Anschließend wird es eine Podiumsdiskussion geben. Welches Kino in Ihrer Nähe den Film zeigt, <link http: kinofinder.kino-zeit.de programmsuche pawlenski-der-mensch-und-die-macht external-link-new-window>finden Sie hier.


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3 Kommentare verfügbar

  • brigitte gegner
    am 25.03.2017
    Antworten
    ich bin froh über diese interessante, differenzierte und überzeugende darstellung. dank an rupert koppold, dass er seinen journalistischen auftrag so ernst nimmt.
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