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Mit Google nach Indien

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In Garth Davis' oscarnominiertem Film wird ein indischer Junge von einem australischen Ehepaar adoptiert. Viele Jahre später versucht er, sein Heimatdorf und seine Familie wiederzufinden. Psychologie ist in "Lion" erlaubt, aber ein politischer Film will das nicht sein, meint unser Filmkritiker.

Ein majestätischer Blick von oben auf eine weite Landschaft. Und da unten, ganz klein, der fünfjährige Saroo (Sunny Pawar). Doch dieser indische Junge mit den großen braunen Augen fühlt sich nicht verloren. Er ist zwar bitterarm, haust mit der Mutter und dem älteren Bruder Guddu in einer dunklen Hütte, spürt aber jeden Tag familiäre Liebe und Geborgenheit. Und Saroo steckt auch voller Optimismus und Energie, begleitet Guddu auf dessen Wegen an den Schienen entlang, hilft ihm, Kohlen zu sammeln (oder zu klauen), lässt sich einfach nicht nach Hause schicken. Bis er dann so müde ist, dass er kaum mehr laufen kann. Er soll an den Gleisen warten, bis der Bruder von einem letzten Streifzug zurückkehrt. Saroo steigt schließlich in einen leeren Waggon, setzt sich in ein Abteil, schläft ein.

Als er erwacht, hat sich der Zug in Bewegung gesetzt, die Türen sind geschlossen, er kommt nicht mehr raus. Lange, lange dauert die Fahrt. Durch Schlitze in den Jalousien sieht der verzweifelte Saroo Landschaften vorbeiziehen, sieht einen Fluss, einen Wasserturm oder einen Bahnsteig, aber es geht weiter und weiter, und als er endlich aussteigen kann, findet sich der Junge vom Land in einer riesigen Stadt wieder, die er nicht kennt und deren Sprache er nicht spricht. Saroo ist in Kalkutta gestrandet, wo man nicht Hindi hört, sondern Bengali. Und wenn die Kamera ihn auf Augenhöhe begleitet, also Saroos Blick auf die über ihm wogenden Menschenmassen übernimmt, dann teilt sich auch dem Zuschauer ein bisschen von seiner Verlassenheit mit.

Saroo ist in den Dschungel der Großstadt gefallen, und so aufgeweckt er auch ist: Er wird ihn nicht so beherrschen können wie einst der junge Mowgli den seinen. Saroo bleibt ein kleiner Junge, und wie er sich in der Erwachsenenwelt zu behaupten versucht, das erinnert weniger an Kiplings indische Märchenwelten denn an Charles Dickens' Londoner Straßen- und Elendsszenen in "Oliver Twist". Saroo kauert nachts in einer Unterführung allein neben anderen Kindern, bekommt mal – eine große, wortlose Geste – ein Stück Pappkarton zum Schlafen zugeschoben, flieht vor einer Razzia, gerät an eine vermeintliche Helferin, die ihn einem Pädophilen zuführen will, und landet schließlich im Waisenhaus. Nein, den genauen Namen seines Heimatorts oder den seiner Mutter weiß Saroo nicht. So wird er schließlich zur Adoption freigegeben und findet, als wär's eine ins Globale ausgeweitete Dickens-Paraphrase, im australischen Ehepaar John und Sue Brierley (David Wenham und Nicole Kidman) verständnisvolle Ersatzeltern.

Das von Garth Davis inszenierte und für den Oscar nominierte Drama "Lion" basiert auf Saroo Brierleys 2014 erschienener Bestseller-Autobiografie "Der lange Weg nach Hause". Im Film werden Saroos Ankunft im wohl geordneten Mittelschichtsheim, sein Staunen über Fernseher und Kühlschrank und seine Initiation in australische Sportarten wie Segeln oder Cricket eher prägnant bebildert denn ausführlich erzählt. Danach folgt ein Schnitt, der diesen Film in zwei Teile zerlegt und dabei nicht nur zwanzig Jahre verschlingt, sondern auch viele Probleme, zum Beispiel den ganzen Prozess des Mann-und-Australier-Werdens.

Saroo wird nun gespielt von Dev Patel, der schon als junger "Slumdog Millionaire" (2008) der Armut entkommen ist. Hier ist er herangewachsen zum braven, gutaussehenden, voll integrierten und gebildeten Sohn, der das Brierley-Haus in Tasmanien verlässt, um in Melbourne das Hotelfach zu studieren. Dort freundet er sich an mit Lucy (Rooney Mara), und dabei deutet der Regisseur an, dass sein Film in eine Bollywood-Song-und-Tanz-Nummer fließen könnte. Es bleibt jedoch beim Zitat – und "Lion" dem westlichen Mainstream-Kino verpflichtet. Saroo wird zwar von Kommilitonen ("Bist du beim Cricket für Indien oder für Australien?") auf seine Herkunft angesprochen und beschäftigt sich nun zum ersten Mal mit ihr, aber er tut dies als Australier. Anders gesagt: Sein Blick zurück ist westlich geprägt.

Ausgelöst wird der Erinnerungsschub durch ein rotes, indisches Gebäck. So wie Marcel Proust in seiner Suche nach der verlorenen Zeit riecht sich Saroo quasi in die Vergangenheit hinein. Vor allem aber vertraut er nun auf Google Earth und gleicht seine aufblitzenden Bildfetzen mit digitalen Landkarten ab. Der ältere Saroo vollzieht also den Weg nach, den er als Junge gemacht hat, und auch wenn diese Klick-Klick-Klick-Reise – der Fluss, der Wasserturm, der Bahnsteig – nicht so gefährlich ist wie die reale von einst, arrangiert Garth Davis diese Sequenzen doch ganz originell, so dass auch Google sich freuen dürfte. Vor diesem Spielfilmdebüt hat er übrigens als Werbefilmer gearbeitet. Doch das soll kein Vorwurf sein, nur eine mögliche Erklärung dafür, dass "Lion" aus einer eher überschaubaren Geschichte viele Bilder und viel Gefühl generiert.

Der sich so spät, aber dafür nun sehr obsessiv erinnernde Saroo wird von seiner Herkunft geplagt wie von einem zeitverzögert auftretenden Trauma. Das Schicksal seines ebenfalls von den Brierleys aus Indien adoptierten Stiefbruders scheint nun auch ihm zu drohen: Nie seine Erfahrungen überwinden zu können, in Familie und Gesellschaft ein Außenseiter zu werden. Der Film verschweigt solche Probleme nicht. Aber er lässt sie am Rande stehen, deutet sie eher als individuelles Unglück – oder überwindet sie. Psychologie ist in "Lion" erlaubt, aber ein politischer Film will das nicht sein. Dass unsere Welt eine Welt ist, darauf beharrt er immerhin, doch so ganz genau will er sich weder in Australien noch in Indien umschauen. Die rigide Einwanderungspolitik des einen und das extreme Klassensystem des anderen Landes sind ihm kein Thema. Was dabei auch noch auffällt: eine Vorliebe für Luftaufnahmen, atmosphärisch schön, aber eben auch distanziert.

Mag sein, dass die letzten Sätze ein bisschen zu harsch ausgefallen sind. Man muss "Lion" zumindest zugestehen, dass er gut gespielt und spannend erzählt ist, wobei letzteres vor allem für den ersten Teil gilt. Auch den guten Willen, das ehrliche Gefühl muss man "Lion" wohl genauso abnehmen wie früher den One-World-Solidaritätskonzerten oder heute den Dritte-Welt-Adoptivbemühungen von Madonna, Angelina Jolie oder Brad Pitt. Wenn Saroo am Ende seiner Odyssee das Heimatdorf gefunden hat, wenn das große Wiedersehen ansteht und die Emotionen überlaufen, sollte man nur nicht danach fragen, was die beiden Welten tatsächlich vereint. Dass es auch in einer Welt mindestens zwei Klassen gibt, das weiß der Film zwar. Aber es interessiert ihn nicht wirklich. Für Saroo jedenfalls ist das Happy End allumfassend. Er sagt abschließend über seine Geschichte: "Jetzt gibt es keine offenen Stellen mehr!"

 

Info:

Garth Davis' "Lion" kommt am Donnerstag, 23. Februar, in die deutschen Kinos. Welches Kino in Ihrer Nähe den Film zeigt, <link http: kinofinder.kino-zeit.de programmsuche lion external-link-new-window>finden Sie hier.


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1 Kommentar verfügbar

  • Fred
    am 26.02.2017
    Antworten
    Der kleine Sunny Pawer spielt mit seinen fünf Jahren alle an die Wand. Einfach großartig.
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