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Auf leisen Sohlen

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Sigrid Klausmann und Walter Sittler haben einen Dokumentarfilm über Kinder auf der ganzen Welt gedreht – ganz ohne Mitleidsgedöns. Ein Film, der ohne Kommentar und Schnickschnack einfach für sich spricht und keinen Zweifel daran lässt, dass sich der Mensch endlich raffen muss.

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Sigrid Klausmann und Walter Sittler haben Großes vor: Irgendwann will das Paar aus jedem Land der Erde ein Kind auf seinem Schulweg portraitiert haben. Seit 2012 arbeiten die Filmemacherin und der Schauspieler gemeinsam am weltumspannenden Mammut-Projekt "199 kleine Helden", das seit 2013 unter der Schirmherrschaft der Unesco Deutschland entsteht. Seit 2012 haben sie schon 23 Filme auf fünf Kontinenten gedreht. Aus diesem Material entstand 2016 der erste große Dokumentarfilm "Nicht ohne uns!", der auf zahlreichen internationalen Festivals von Groß und Klein bereits mit Preisen ausgezeichnet wurde und jetzt in die deutschen Kinos kommt. Prädikat: besonders wertvoll.

Nachdem der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn und Schauspielerin Senta Berger bis Ende 2016 Schirmeltern der 199 Kleinen Helden waren, geben sich seit diesem Jahr die MinisterpräsidentInnen Winfried Kretschmann (Baden-Württemberg) und Hannelore Kraft (Nordrhein-Westfalen) die Klinke in die Hand und pushen das Film-Duo über die Landesfilmförderung. Sogar die britische Kult-Designerin Vivienne Westwood ist als Unterstützerin an Bord. Riecht nach deutschem Gefühlskino und Gutmenschentum. Spätestens seit dem Red-Nose-Day und unzähligen anderen emoduseligen Charity-Aktionen und Helene-Fischer-Spenden-Galas im Fernsehen, haftet der Erfolgs-Kombination aus Kindern plus X ein Beigeschmack von Heuchelei an, mit der sich aufmerksamsgeile Erwachsene selbst produzieren. Zu dieser Sorte Menschen gehört das Team Klausmann-Sittler nicht – auch wenn sie für ihr Projekt viel und gern in der Öffentlichkeit auftreten.

In der 87-minütigen Doku wird vielmehr klar, dass es nur um eines: Kinder - und zwar als diejenigen, die irgendwann erwachsen sein werden und die ganze Scheisse ausbaden müssen, die ihre Elterngeneration angerichtet hat. Keine sonore Erklärbär-Stimme aus dem Off. Kein moralischer Aberaber-Finger. Keine Mitleidstour und keine Krokodilstränen. Aber auch kein Kinderquatsch mit Michael, der die süßen Kleinen zur Unterhaltung für Erwachsene ausstellt. Klausmann und Sittler hören einfach nur zu. Lassen 16 Neun- bis Zwölfjährige aus 15 Ländern und fünf Kontinenten unkommentiert und frei von der Leber sprechen. Über ihre Träume. Über ihre Ängste. Über ihre Hoffnungen. Zunächst erzählen sie von zuhause. Dann begleitet sie die Kamera wie ein Schatten auf ihrem oft absurden Weg in die Schule.

Da ist zum Beispiel Alphosine aus Elfenbeinküste. Ihren Vater kennt sie nicht. Ihre Mutter ist tot. Die Oma, die sie aufgenommen hat, knechtet sie als Arbeitskraft und lässt sie nicht zur Schule gehen. "Dream" steht auf ihrem pinken Shirt. Dass so viele Minderjährige auf Kakao-Plantagen arbeiten müssen und sich dabei oftmals mit der Machete verletzen, macht ihr Sorgen. "Ich weiß, dass Schokolade süß ist", sagt sie. Wie alle anderen in ihrem Dorf hat sie die aber noch nie probiert. "Viel zu teuer." Ihr Weg endet zwar an der Schule. Doch Alphosine darf nicht hinein. Sie ist nur hier, um das Mittagessen vorbeizubringen, das sie in einer Plastikkiste auf ihrem Kopf herbalanciert hat. 

4 800 Kilometer Luftlinie entfernt lebt Vincent mit seiner Familie auf einer Berghütte in Österreich. In eindrucksvollen Bildern fährt er auf Skiern unfassbar steile Hänge hinab, um in die Schule zu kommen. "Es gibt weniger Schnee", stellt er fest. Auch wenn der Klimawandel auf dem Vormarsch ist, würde er gerne den Familienbetrieb übernehmen und Koch werden. Regelmäßig wechselt sich Vincents rasante Abfahrt im märchenhaften Skigebiet mit grandiosen Schnitten ins jordanische Nirgendwo ab. Hier reitet das Beduinen-Mädchen Ekhlas durch die Wüste und beklagt, dass es immer weniger Wasserstellen gibt, wo die Familie ihre Zelte aufschlagen kann. Sie weiß, dass ihre Nachbarn in Syrien Krieg haben und das tut ihr unendlich leid. "Ich hoffe, dass wir immer Frieden haben werden." Krieg herrscht in Yamabukis Heimat Japan zwar nicht. Doch Fukushima sitzt tief in diesem gelockten Zwerg. "Radioaktivität ist nicht gut. Solche Dinge sollte es überhaupt nicht geben", das weiß er gewiss.

Neben den authentischen Portraits besticht "Nicht ohne uns!" auch durch eindrucksvolle Bildinszenierungen von Land und Menschen. "Wir haben kein Kind bislang erlebt, das weg von zuhause wollte", erzählt Sigrid Klausmann. Zusammen mit ihrem Mann sitzt sie in der Küche ihrer Stuttgarter Altbauwohnung und kann kaum so schnell sprechen, wie ihr Gehirn Gedanken produziert. "Mitleidsgedöns ist keine Grundlage für einen Film", erklärt sie bestimmt, "wir sind uns alle auf Augenhöhe begegnet." Auch Walter Sittler weiß, was das Geheimnis dieses Films ist, der nie wirkt, als hätte man es auf irgendwelche Sätze und Szenen angelegt, um "Moneyshots" zu produzieren, also Bilder, die klingelnde Kassen versprechen. Vielmehr fragt man sich, wie es die beiden und ihr umfangreiches Team geschafft haben, diese Kinder aus aller Herrgottsländer völlig unverkrampft von ihrer äußeren und inneren Welt erzählen zu lassen. Als würden sie mit einem Freund oder einer Freundin plaudern.

"Wir haben ganz einfach mit den Kindern geredet und nicht über sie", erzählt Sittler, der den Film mitproduzierte und die Idee zu "199 kleine Helden" lieferte. "Wenn man sich nicht wirklich für sie interessiert, spüren die das", ergänzt seine Frau. Klar hätten die Eltern dem Dreh zustimmen müssen. Beim Denken dabei sein durften sie aber nicht, das hätte gestört. So war es möglich, die kleinen ProtagonistInnen frei erzählen zu lassen. Ohne Ablenkung und ohne Erwartungshaltung.

Wenn man nacherzählt, wie Enjo aus der Schweiz mit seinen noch zu großen Zähnen für seinen kleinen Mund erklärt, dass sich "die Menschheit beim Thema Bomben und Morden einfach zu weit entwickelt" hat, klingt das wahnsinnig altklug. Sofort drängt sich Nicoles unsägliches "Ein bisschen Frieden"-Genöle von 1982 aus dem Gedächtnis vor das innere Ohr. Doch altklug zu sein, wäre oft ein Vorwurf, wenn Kinder etwas sagten, das Erwachsene nicht hören wollten, bemerkt Sittler. Denn Enjo plappert nicht irgendwem nach. Er meint es wirklich so und es sind seine Privatgedanken, die er sich in der abgeschiedenen Idylle zwischen Churfirsten und Walensee selbst gemacht hat. Wenn er sich eine Apokalypse ausmalt, dann eine "Naturapokalypse", philosophiert der kleine Schweizer weiter. Etwas Anderes scheint ihm nicht logisch, denn "die Natur gibt uns so viel Gutes und wir nur Schlechtes. Irgendwann sind wir am Anschlag". Das von einem Zehnjährigen zu hören ist gruseliger, als es jeder Nicole-Song dieser Welt jemals sein könnte. Denn es ist so verdammt wahr.

Dass Klausmann und Sittler den Film nicht mit Jugendlichen oder Erwachsenen gedreht haben, hat einen Grund weit weg von falschen Charity- und Helene-Fischer-Feelings. "Kinder haben die stärksten Antennen in unsere Gesellschaft und besitzen noch nicht diese Hülle, die man sich ab der Pubertät zulegt", sagt die Ex-Sportlehrerin und wippt dabei nachdenklich mit dem Kopf. Verklärte Worte wie "rein" oder "unschuldig" kommen den dreifachen Eltern zum Glück kein einziges Mal über die Lippen. Doch es sind genau diese Gefühle und Gedanken, die Menschen haben, bevor die Welt sie absorbiert, an denen die beiden interessiert sind. Es ist dieser Zustand, bevor man weiß, dass man besser auf seinen Planeten und was auf ihm lebt aufpassen müsste, aber trotzdem weiter auf ihm herumtrampelt. "Bis zwölf Jahre scheinen alle Menschen irgendwie gleich zu sein", glaubt Klausmann, "alle haben die gleichen Bedürfnisse." Dann passiere etwas. Was, das weiß sie nicht.

"Nicht ohne uns!" gibt nicht vor, kapiert zu haben, wie der Hase und der Mensch läuft. Er appelliert auch nicht oberlehrerhaft an die "bösen" Erwachsenen. Er kommt vielmehr auf leisen Sohlen und will zeigen, dass die Sehnsucht nach Frieden, Liebe und Freundschaft dem Wesen des Menschen ursprünglicher ist, als Raffgier, Hass und Krieg. Eine Einsicht, die man nur zu gerne glauben will – aber heute kaum mehr kann.


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