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Dissonanzen nach der Orchesterfusion

Dissonanzen nach der Orchesterfusion
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Das neue SWR Symphonieorchester hat seine ersten Konzerte gespielt. Nach der umstrittenen Fusion des Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg mit dem Stuttgarter Radio-Sinfonieorchester knirscht es noch an allen Ecken und Enden.

Im Juli hatte sich der Chefdirigent François-Xavier Roth mit einem fulminanten, über vierstündigen Konzert von seinem Orchester und seinem Publikum im Freiburger Konzerthaus verabschiedet. Bei den minutenlangen stehenden Ovationen flossen Tränen auf der Bühne. Auch bei den ersten Konzerten mit dem fusionierten SWR Symphonieorchester hätten Musikerinnen und Musiker geweint, als sie wieder ins Konzerthaus gekommen seien, berichtet Solocellist und Orchestervorstand Frank-Michael Guthmann, der ursprünglich im SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg spielte. So stark sei die emotionale Anspannung gewesen. Vielleicht war es auch ein bisschen Trauer, dass der <link https: www.kontextwochenzeitung.de medien die-musikalische-baden-frage-2108.html external-link-new-window>Kampf um den Erhalt beider Orchester letztendlich vergeblich war.

In Freiburg hat das neue Orchester Konzert-Abonnements verloren. "Es gab deutliche Protestkündigungen, aber auch eine positive Entwicklung bei den Neu-Abos", sagt Pressesprecherin Anja Görzel. Die Abonnements in Stuttgart und Mannheim verzeichnen laut Südwestrundfunk (SWR) einen Zuwachs.

Der Sender versucht alles, um diesen erzwungenen Neuanfang zu einem Erfolg zu machen. Auf der neuen <link http: www.swr.de classic external-link-new-window>Website SWR-Classic bezeichnet Orchestermanager Felix Fischer die Orchesterfusion als historische "Neugründung". In der TV-Übertragung des Eröffnungskonzertes am 22. September kündigt Moderator Denis Scheck den für die Orchesterfusion hart kritisierten SWR-Intendanten Peter Boudgoust an als den Mann, "der diesen Abend erst möglich gemacht hat". Der schwärmt von einem verheißungsvollen Auftakt: "Ich bin begeistert!" Und Johannes Bultmann, Gesamtleiter der SWR-Klangkörper und Festivals, gibt die Zielrichtung für das neue Orchester vor: "Wir haben den Anspruch, an der Spitze mitzuspielen."

Die neue mediale Beachtung, die der SWR seinem Orchester schenkt, freut die Orchestermusiker. Nur mit den Inhalten können sich viele nicht anfreunden. "Die Berichterstattung über das Eröffnungskonzert hat die Schamgrenze verletzt. So viel Eigenlob ist kaum zu ertragen", kritisiert Peter Bromig, Solohornist und Freiburger Orchestervorstand. "Auf einmal schenkt uns der SWR diese Aufmerksamkeit, die wir uns in der Vergangenheit immer gewünscht haben. Dies aber nun ausgerechnet in einer Situation, in der wir qualitativ so weit von dem entfernt sind, was wir vorher geboten haben", sagt Gunnar Persicke, Stimmführer der zweiten Violinen.

Aus 172 Orchestermitgliedern sollen 119 werden

172 Mitglieder zählt im Augenblick das SWR-Symphonieorchester. 119 sollen es einmal werden. Da der Südwestrundfunk auf Kündigungen verzichtet hat, wird dieser Prozess wohl Jahrzehnte dauern. Konkrete Angaben dazu macht der Sender nicht. Es gibt attraktive Vorruhestandsregelungen, die das Abschmelzen der Stellen beschleunigen sollen. Normalerweise hat ein groß besetztes Orchester zwei Konzertmeister und jeweils zwei Stimmführer in den anderen Streichergruppen. Beim SWR-Symphonieorchester sind es bei den ersten und zweiten Violinen sowie den Bratschen zur Zeit jeweils vier, die aus tariflichen Gründen nur abwechselnd spielen dürfen. So haben die Tuttistreicher ständig einen anderen Stimmführer. "Ich spielte das Eröffnungskonzert im September und habe jetzt gerade mein zweites Projekt - mit einer völlig neuen Violingruppe hinter mir", sagt Gunnar Persicke. "Normalerweise sucht sich eine Gruppe ihre neuen Mitglieder aus. Wir sind zusammengewürfelt. Das macht die erforderliche Homogenität natürlich schwierig, zumal die Besetzung immer anders ist." Zumindest besteht Besetzungskontinuität, sodass die, die ein Projekt proben, auch die Konzerte spielen.

Unterschiedliche Traditionen erschweren ebenfalls das Zusammenwachsen. Das Freiburger Orchester spielte meist präzise auf den Schlag, das Stuttgarter entwickelt den Ton im Vergleich dazu eher später und weicher im Klang. Bei den Bläsern liegen die Schwierigkeiten woanders. Durch die vielen längeren Spielpausen fehlt die notwendige Auftrittsroutine. Deshalb hat sich Hornist Peter Bromig schon früh um andere Projekte gekümmert, um auch mental die notwendige Anspannung zu haben. Musikalische Probleme gibt es hier weniger. "9 von 11 Mitgliedern der Horngruppe waren beim gleichen Lehrer", erklärt Bromig. Je nach Stellenzahl im jeweiligen Register ist die Arbeitsbelastung für den einzelnen Orchestermusiker extrem unterschiedlich. Diese fusionsbedingten Ungerechtigkeiten werden über viele Jahre erhalten bleiben.

Freiburgs Kulturbürgermeister mag nicht jammern

Nur rund 10 der 80 Freiburger Musiker sind nach Stuttgart gezogen. Der Rest pendelt zu den Proben in die Landeshauptstadt oder hat ein Zimmer gemietet. Für die Stadt Freiburg ist der Weggang des Orchesters "ein herber Schlag und ein großer Verlust", sagt Kulturbürgermeister Ulrich von Kirchbach. "Aber wir möchten nicht jammern." Bernd Dallmann, Geschäftsführer von Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe, betont, dass die Zahl der SWR-Konzerte in Freiburg gleich geblieben sei. "Durch die fehlenden Proben werden Buchungskapazitäten frei, die für andere Veranstaltungen genutzt werden können." Dass das Philharmonische Orchester Freiburg mit seinem Generalmusikdirektor Fabrice Bollon gerne das Konzerthaus stärker für seine Proben und CD-Aufnahmen nutzen würde, ist gerade Gegenstand von Verhandlungen.

Die optimalen Probebedingungen im Konzerthaus vermissen die Freiburger SWR-Musiker jedenfalls. Der Backstage-Bereich der Stuttgarter Liederhalle ist beengt. Man kann sich nicht einspielen, wenn das Orchester auf der Bühne sitzt, weil die Räume nicht genügend schallgedämmt sind. Das Konzerthaus in Freiburg war sowohl Probenort als auch Konzertbühne. Auch das Orchesterbüro, ein Tonstudio, das Instrumentenlager und das Notenarchiv waren im gleichen Gebäude untergebracht.In der Stuttgarter Liederhalle verhindert der Denkmalschutz substanzielle bauliche Veränderungen. Einige akustische Verbesserungen seien laut SWR aber schon vor der Saison vorgenommen worden. "Darüber hinaus gibt es weitere Pläne, die akustischen Bedingungen in einem Teil der Backstage-Räume weiter zu optimieren", sagt Pressesprecherin Anja Görzel. Und betont, dass dem Orchester mit dem Funkstudio Berg eine weitere Proben- und Produktionsstätte mit 20 Stimm-und Einzelzimmern, einem großen Sendesaal, einem Chorproberaum, vier Aufnahmestudios und einer Musikbibliothek zur Verfügung stehe.

Aber auch ohne die räumlichen Probleme gibt es Schwierigkeiten genug: Wie soll ein Orchester schnell einen gemeinsamen Klang finden, wenn die Mitglieder nur selten in der gleichen Besetzung spielen? Wie soll Musikalisches vereinheitlicht werden, wenn es keinen Chefdirigenten gibt? Einen Zeitplan für die Suche nach ihm verrät der Sender immer noch nicht. Auch die insgesamt sechs Orchestervorstände aus Freiburg und Stuttgart, erstere diskussionsfreudig, letztere eher meinungsbildend, müssen sich auf eine gemeinsame Linie verständigen. "Hier gibt es schon einen großen Mentalitätsunterschied zwischen den Orchestern", sagt Guthmann. All diese Prozesse der Vereinheitlichung brauchen Zeit. Der Erfolgsdruck, unter dem der Sender nach der heftig kritisierten Orchesterfusion steht, ist da hinderlich. Ein Zwischenfazit möchte Johannes Bultmann nach drei Abo-Konzerten noch nicht ziehen: "Vor Ende der Saison ist damit nicht zu rechnen. Die Spanien-Tournee ist sehr erfreulich und erfolgreich verlaufen. Ausverkaufte Konzertsäle und ein begeistertes Publikum führten unmittelbar zu Wiedereinladungen für eine Spanien-Tournee in der Saison 2018/19."

Aufbruchsstimmung gibt es nur im Kleinen, wenn sich die Streicherpulte mischen, in den Proben laut gelacht wird oder man dem Kollegen Beifall spendet. "Das Trompetensolo meines Stuttgarter Kollegen Jörge Becker bei 'Petruschka' war schon wunderbar", lobt Peter Bromig. Und freut sich auch über "ganz tolle Leute" aus Stuttgart, die nun zu Kollegen geworden sind. Als der Dirigent Christoph Eschenbach nach dem <link http: www.swr.de swr-classic symphonieorchester swr-symphonieorchester-abo3-stuttgart id="17055322/did=17173368/nid=17055322/cq26ki/" external-link-new-window>Stuttgarter Konzert in der Liederhalle als erste die Stuttgarter Solokontrabassistin Konstanze Brenner aufstehen lässt, die zuvor das gefürchtete Bruder-Jakob-Solo aus der ersten Symphonie von Gustav Mahler souverän und mit großem Ton gespielt hatte, jubelt ihr das ganze Orchester zu. Ein Anfang. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.


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1 Kommentar verfügbar

  • Richard Schönfeld
    am 20.12.2016
    Antworten
    Keine Kommentare?
    Möglicherweise hat das mit der schon sehr eingegrenzten Zuhörerschaft zu tun. Meiner Meinung nach liegt die Ursache des beschriebenen Zustandes an der elitär abgehobenen ach so würdigen Schneekugel, in der die klassische Orchestermusik eingesperrt ist. Wenn es doch hierzulande…
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