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Thriller ohne Verbrechen

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Pedro Almodóvar erzählt in seiner Alice-Munro-Adaption von einer Frau, die mit schweren Schicksalsschlägen umgehen muss. Und er verbeugt sich dabei vor Alfred Hitchcock, meint unser Filmkritiker.

Ein formatfüllendes Stück Stoff, das zu atmen scheint, das sich bewegt und bläht. Rot ist es, so rot! Mit dieser ersten Einstellung seines Films "Julieta" setzt Pedro Almodóvar gleich ein Signal: Er wird keine Geschichte inszenieren, die in gemäßigten Lagen und bei mittlerer Temperatur dahindümpelt; nein, die Leidenschaft wird aufflammen, das Gefühl wird die Vernunft außer Kraft setzen, das Schicksal wird Schwerarbeit verrichten. Aber das ist bei diesem Regisseur, der mit seiner Farce "Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs" (1989) berühmt und spätestens mit seinem Drama "Alles über meine Mutter" (1998) zum modernen Klassiker wurde, ja nichts Neues. Neu ist allerdings, dass Almodóvar sich als Vorlage drei Short Stories der kanadischen Nobelpreisträgerin Alice Munro genommen hat, deren stilistisches Erzählprogramm so ganz anders angelegt ist als das seine.

Zwar handeln auch Munros Geschichten von Liebe, Leidenschaft, Untreue, Unglücksfällen, Krankheit und Tod, dies alles aber auf zurückgenommene Weise, sozusagen angelsächsisch unterkühlt. Überspitzt ausgedrückt: Munro erzählt nüchtern-protestantisch, Almodóvar barock-katholisch. Ein Beispiel: Bei Munro sieht die junge Klassik-Dozentin Julieta (Adriana Ugarte) während einer Bahnfahrt, bei der sie zunächst einen redebedürftigen älteren Herrn abwimmelt und dann einen attraktiven Fischer kennenlernt, draußen in der Landschaft – und nur einen kurzen Absatz lang - einen Wolf. Bei Almodóvar, der den Handlungsort der Vorlagen in seine Heimat Spanien verlegt hat, galoppiert in aller Ausführlichkeit ein majestätischer Hirsch durch eine Wintersturmnacht und vor dem Fenster jenes Abteils entlang, in dem der Fischer (Daniel Grao) nun seine Frau nimmt.

Es ist jene Nacht, in der Julietas Tochter Antia gezeugt wird, es ist auch jene Nacht, nach der Julieta sich schuldig fühlen wird. Denn dieser aufdringliche ältere Herr, dessen Gesprächsangebot ein kaschierter Hilferuf war, ist bei einem Halt ausgestiegen und hat sich dann vor den Zug geworfen. Liebe, Zeugung, Tod – und es geht weiter in diesem Film, der die Chronologie der Ereignisse allerdings aufhebt. Es beginnt alles mit einer Julieta mittleren Alters (Emma Suaréz), die mit ihrem neuen Freund noch in Madrid lebt, aber gerade dabei ist, mit ihm nach Portugal zu ziehen. Da trifft sie zufällig eine Freundin ihrer Tochter, und sofort sind alle Mann-und-Portugal-Pläne hinfällig. Julieta zieht allein in eine Wohnung in ihrem alten Haus. Sie wartet und schreibt. Sie schreibt ihrer Tochter, von der sie vor vielen Jahren verlassen wurde und die nun, so hat es deren Freundin erzählt, irgendwo mit ihrer Familie am Comer See lebt. "Diese Abwesenheit", so schreibt Julieta, "füllt mein ganzes Leben aus und zerstört es!"

Mit virtuos ausgeführten Zeitsprüngen und in sich verschachtelten Rückblenden verzögert Almodóvar seine Geschichte eher, als dass er sie vorantriebe. Er inszeniert sie damit nicht nur hinein ins Genre des Melodrams, sondern auch in das eines erst nach und nach seine Geheimnisse preisgebenden Noir-Thrillers. Eines Noir-Thrillers in leuchtenden Farben freilich, der stilistisch an spätere Alfred-Hitchcock-Werke wie "Vertigo" erinnert. Überhaupt ist "Julieta" mit seinen überklaren Bildkompositionen, seinen dramaturgischen und ästhetischen Doppelungen, seiner oft nach Hitchcocks Hauskomponisten Bernard Herrmann klingenden Alberto-Iglesias-Musik, und nicht zuletzt mit seiner eifersüchtig-herrischen Haushälterinnen-Figur (Rossy de Palma) eine Verbeugung vor dem Altmeister. Eine leicht ironische Verbeugung allerdings, weil "Julieta" zwar von Schuld und Trauer erzählt, aber eben nicht von Mord und Totschlag.

"Sie war unglücklich", sagt die Leiterin jenes Rückzugsorts in den Bergen, den Antia besucht hat und von dem sie nicht mehr nach Hause gekommen ist. Auch hungrig nach Spiritualität sei sie gewesen, behauptet diese Frau, der die Fassungslosigkeit der Mutter innere Genugtuung zu bereiten scheint. Was hat Julieta überhaupt von ihrer Tochter gewusst? Hat sie sich, nach dieser Unglücksnacht im Fischerdorf, so in ihrem eigenen Leid vergraben, dass sie Antias Nöte gar nicht wahrnehmen konnte? Der Moment, in dem Almodóvar vor laufender Kamera seine Julieta-Darstellerinnen auswechselt, hat nicht nur mit dem unterschiedlichen Alter zu tun, sondern auch mit dem Unterschied der psychischen Befindlichkeit.

Was weiß man überhaupt von anderen Menschen? Diese unvermittelt auftretende Fremdheit, diese Brüchigkeit von Beziehungen – ein Hauptthema in Alice Munros Werken –, zeigt sich auch in Almodóvars Adaption. Und auch bei ihm, der trotz aller Überhöhung diesmal auf Exzentrisch-Schrilles verzichtet, tritt eine hartnäckige Heldin auf, die sich in entscheidenden Szenen ein Schicksal geradezu erzwingt – mit dem sie dann nicht glücklich wird. In ihrem Kern hat der Regisseur seine Vorlagen also nicht verfälscht, er hat sie sich nur stilistisch angeeignet. Was in seinem reifen und erwachsenen Film, in dem die Moral keine allzeit verbindliche Größe ist, unter anderem heißt: Das gefährliche, aufregende Rot wird immer wieder kontrastiert mit stillem, beruhigendem Blau. Aber bloß in diesem wohltemperierten Blau zu leben, das wäre wohl nicht nur Almodóvar zu langweilig.

Info:

Pedro Almodóvars "Julieta" kommt am Donnerstag, den 4. August, in die deutschen Kinos. In Stuttgart zeigt ihn das Atelier am Bollwerk: Von Donnerstag bis Samstag um 18:10 und um 20 Uhr, sowie Sonntag und Montag um 18:10 Uhr. Welches Kino in Ihrer Nähe den Film zeigt, <link http: kinofinder.kino-zeit.de programmsuche external-link-new-window>finden Sie hier.

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