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Die Pflicht zu helfen

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Der Berlinale-Gewinner Gianfranco Rosi schildert in seinem Dokumentarfilm das karge Leben auf Lampedusa. Und die Tragödie der Flüchtlinge, die an dieser Insel stranden oder vor ihr untergehen.

Radaranlagen, Antennen, ein Notruf, ein Dialog. "Helfen sie uns!", bittet eine Frau auf Englisch. Wie viele auf ihrem Boot seien, will der Mann von der Küstenwache wissen. Etwa hundertfünfzig, schätzt die Frau, die mit dem Handy anruft. Er schicke Hilfe, sagt der Mann, sie solle jetzt ihren Akku schonen. Die Position ihres Bootes, sagt die Frau mit panikunterdrückender Stimme, werde dieselbe bleiben. Denn: "Wir sinken." Dann bricht der Dialog ab.

Etwa 15 000 Flüchtlinge, die die Fahrt übers Meer versucht haben, seien schon ertrunken, so informiert zu Beginn von Gianfranco Rosis "Seefeuer" eine Texteinblendung. Eigentlich wollte der Regisseur auf Lampedusa einen anderen Film drehen, als aber immer mehr Menschen aus Afrika mit ihren überladenen Booten vor den Küsten der Insel trieben, anlandeten oder sanken, hat er deren Schicksal dokumentiert.

Lampedusa liegt südwestlich von Sizilien, es ist zwanzig Quadratkilometer klein und ziemlich karg, es leben dort nur 4500 Menschen. Der Film "Seefeuer", bei der diesjährigen Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, ist nicht der erste Film über diesen Außenposten Europas. In seinem 2002 gedrehten Drama "Respiro", dessen deutscher Titel den Inselnamen übernimmt, erzählt Emanuele Crialese in poetischen Bildern von der manisch-depressiven Frau eines Fischers, die mit ihrem exzentrischen Lebensstil (Nacktbaden!) die traditionelle Dorfgemeinschaft gegen sich aufbringt. Lampedusa ist hier noch ein Ort, der für das alte, provinzielle und fast archaische Italien steht.

Neun Jahre später hat Crialese den Inselfilm "Terraferma" gedreht, diesmal ein wenig näher dran an Sizilien, aber doch wie eine Fortsetzung von "Respiro" wirkend, wie eine neue Bestandsaufnahme zum Leben vor Italiens Küsten. Wieder erzählt der Regisseur von Fischern, aber sein Familiendrama wird nun mit Problemen von außen konfrontiert. Plötzlich tauchen auf dem Meer überfüllte Flüchtlingsboote auf, die den Einheimischen eine Haltung abverlangen. Mit dem Paddel zuschlagen, wenn sie sich verzweifelt an die Bordwand klammern? Oder sie vor den Behörden im Schuppen verstecken und später heimlich aufs Festland bringen?

Ein Ästhet, der sich Zeit nimmt

In Rosis "Seefeuer" ist das alte Fischerleben sowieso nur noch Relikt. Die Häuser und Gassen sehen leblos aus, so als gäbe es keine Dorfgemeinschaft mehr, sondern nur noch verstreute Einzelne. Alte vor allem, so wie den Mann, der allein loszieht, die Steilküste runter und dann untertauchend, um Austern zu suchen. Oder die Frau, die in ihrer Küche das Essen vorbereitet und Radio hört, den nostalgischen Schlager "Fuocoammare" zum Beispiel, der dem Film seinen Originaltitel gab, oder die Nachricht, dass schon wieder eines dieser Flüchtlingsboote gesunken ist. Und dann ist da der zwölfjährige Fischersohn Samuele, ein unbeholfener Junge, der auf dem Boot des Vaters seekrank wird und der sich deshalb auf den Ponton im Hafen hockt, um sich an das Schwanken des Meeres zu gewöhnen.

Samueles Geschichte könnte Teil jenes Films sein, den Rosi eigentlich drehen wollte. Eine Hommage an das neorealistische Kino, das sich der kleinen Leute annahm, das hinausging und an Originalschauplätzen drehte, das auf Stars verzichtete und Laiendarsteller ihr eigenes Leben auf die Leinwand bringen ließ. Nur dass Rosi, im Gegensatz etwa zu Viscontis sizilianischem Fischerfilmklassiker "La terra trema" von 1948, nun ganz auf ein Drehbuch verzichtet, dass er also nicht nur semidokumentarisch arbeitet, sondern ganz in die Kategorie "Dokumentarfilm" gehen will. Allerdings nicht zu jenen hastig mit der Handkamera zusammengewackelten Werken, die ihre Eiligkeit als Authentizität ausgeben. Rosi ist ein Ästhet, der sich Zeit nimmt.

Wenn er während einer Sternennacht das lichtwerfende Schiebetoraufgleiten eines Hubschrauberhangars filmt, dann sieht das fast sakral aus. Wenn er allerdings beobachtet, wie Samuele Kakteen mit Gesichtern versieht, diese per Steinschleuder malträtiert und die Löcher dann, als wären es Wunden, sorgfältig bandagiert, dann ist man sich nicht ganz sicher, ob das tatsächlich die Idee eines spielenden Jungen war oder nicht doch die seines Regisseurs.

Aber wie gelingt Rosi nun die Verbindung zweier Welten? Wie begegnen sich hier also die wenigen, die wie aus der Zeit gefallen scheinen, und die vielen, die von den neuen Zeiten aus ihrer Heimat vertrieben wurden? Wäre da nicht ein Arzt aus Lampedusa, dann müsste man sagen: Die Insulaner und die Flüchtlinge begegnen sich gar nicht. Dieser Arzt ist das Scharnier, das die beiden sonst nebeneinander herlaufenden Filmteile miteinander verbindet. Er untersucht eine Schwangere, die die Überfahrt gerade überstanden hat, spricht mit ihr in beruhigendem Ton, findet per Ultraschall das Geschlecht ihres Kindes heraus, weiß aber auch, dass der Fruchtwasserspiegel wegen der Strapazen der Flucht bedenklich niedrig ist. Die Not dieser Frau und das Leben von Samuele: Rosi spielt das nicht polemisch gegeneinander aus, er relativiert nur ein wenig. Dass jetzt so viele von ungeheuren Verwerfungen bedroht sind, heißt nicht, dass das Leben der anderen unwichtig geworden wäre.

Rosi verzichtet in "Seefeuer" auf jeden eigenen Kommentar, er will nur zeigen, nicht erklären. Der Arzt aber liefert ein paar Fakten zu den Fluchtbedingungen. Dass es auch bei der Überfahrt ein Klassensystem gebe, dass die Plätze oben die teuren sind, weil es im Laderaum noch viel gefährlicher sei, unter anderem wegen der Verätzungen durch Benzindämpfe. Die Mitarbeiter der Behörden, die die Flüchtlinge registrieren, tun das im Overall und mit Mundschutz. Nachdem einer in einer Gangschleuse einige Menschen abgetastet hat, streift er seine feuchten Hände an der Wand ab und sagt: "Die sind mit Diesel getränkt!" Einmal erzählt ein Schwarzafrikaner von der Flucht, und es hört sich an wie ein Requiem. So viele seien schon in der Sahara ums Leben gekommen, so viele seien später in Libyen ins Gefängnis geworfen und geschlagen worden. Und dennoch: "Es ist riskant, im Leben nichts zu riskieren."

Auch Bilder von der Rettung auf See sind zu sehen, von erschöpften und verstummten Menschen, die sich in die ausgeteilten Alufolien kauern und nun aussehen, als wären sie – seltsamer Kontrast zu ihrer Lage! – in glitzerndes Gold gekleidet. Es sind Bilder, die sehr physisch und sehr gegenwärtig wirken, die sich auch nicht einfügen in den schnell vorbeiziehenden Strom der TV-Nachrichten, die sich also einer sofortigen Verwertung entziehen wollen. Nein, das ist keine unerlaubte Schönung des Unglücks, das ist eher der Versuch, den Verfall und das Vergessen der Bilder durch ihre Ästhetisierung zu verhindern.

Er werde oft gefragt, sagt der Arzt, ob er denn nicht abgebrüht sei angesichts von so viel Leid. Aber wer könne denn abgebrüht werden, wenn er diese Schicksale sehe, fragt er dann zurück. Und konstatiert leise, aber mit Nachdruck: "Jeder, der Mensch sein will, hat die Pflicht zu helfen." Ja, so einfach ist das.

Info:

Der Film "Seefeuer" kommt an Donnerstag, den 28. Juli, in die deutschen Kinos. Welches Kino in Ihrer Nähe den Film zeigt, <link http: kinofinder.kino-zeit.de programmsuche external-link-new-window>finden Sie hier.

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