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"Downton Abbey" und der Brexit

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Nein, der Brexit ist nicht überraschend gekommen. Schon lange geistert vor allem in englischen Köpfen eine Sehnsucht nach der guten alten Zeit herum. Und Literatur, Film und Fernsehen liefern dazu immer wieder die passenden Bilder und Geschichten.

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"Rule, Britannia!" So befehlsdonnernd trumpft die heimliche Nationalhymne auf. Und so zackig sich diese Töne anhören, so zackig sehen auch die Taten aus: mit Glanz und Gloria ran an die großen Störenfriede, sie niederwerfen, sie per Kampfhubschrauber auf einem kahlen Inselchen aussetzen, so wie damals den Erzfeind Napoleon auf St. Helena. Allerdings ist diese euphorisch geschilderte Militäraktion keine Geschichte aus vergangenen Kriegen, sondern Höhepunkt des Kinderfilms "BFG – Big Friendly Giant", der am 21. Juli in unsere Kinos kommt. In der von Steven Spielberg sehr britisch inszenierten Adaption eines Roald-Dahl-Buchs freundet sich ein Londoner Waisenmädchen mit einem Riesen an, der es vor seiner Sippe schützt und sich am Ende verbündet mit der Königin und ihren Truppen. Nach dieser Ausschaffaktion ist das gute Nationalgefühl wieder hergestellt: Great Britain forever!

Oder auch, auf den Kern reduziert: Forever England! Ein idealisiertes England, auch wenn der immer wieder zitierte John of Gaunt in Shakespeares "Richard II." diesen Ort als real existierend beschreibt. Als königliche Insel, als zweites Eden, als halbes Paradies, als von der Natur erbaute Festung, als Hort eines glücklichen Menschenschlags, als einen von der silbernen See gefassten Edelstein, als ein Haus, das gegen den Neid nicht so glücklicher Länder von einem Wassergraben geschützt wird. Und dann noch einmal, als wäre es nicht schon genug: "This blessed plot, this earth, this realm, this England." Dieses Insel gewordene Juwel, so wirft John of Gaunt seinem König vor, wolle dieser zerstören, indem er es an Fremde verpachte – und dies alles schon Jahrhunderte vor dem EU-Beitritt! Aber dieses Land ist eben immer in Gefahr, muss sich wehren gegen Fremde und Feinde, wobei ein Teil seiner Bevölkerung den Unterschied zwischen beiden gern einebnet.

In England haben die Falschen das Sagen, fand George Orwell

George Orwell hat übrigens, als England tatsächlich von den Nazis bedroht wurde, die hymnischen Shakespeare-Worte zurückgewiesen. Sein Land erinnere vielmehr an eine stickige viktorianische Familie. "Es ist eine Familie, in der die Jungen im Allgemeinen ausgebremst werden und die größte Macht in den Händen von unverantwortlichen Onkeln und bettlägerigen Tanten liegt", schreibt der Autor von "1984", dessen Worte sich jetzt sehr nach 2016 anhören. Orwell fährt fort: "Trotzdem, es ist eine Familie. Sie hat ihre private Sprache und ihre gemeinsamen Erinnerungen, und wenn sie von einem Feind bedroht wird, schließt sie ihre Reihen. Eine Familie, in der die falschen Mitglieder das Sagen haben – das kommt der Sache wohl am nächsten, wenn man England in einem Satz beschreiben wollte." Was auch bedeutet: Wenn die falschen Mitglieder ihre Macht innerhalb der Familie bedroht sehen, brauchen sie – oder suchen sie sich! – einen Feind von außen. Maggie Thatcher war 1982 am Ende, sie hat sich gerettet, indem sie wegen der Falklandinseln in einen Krieg gegen Argentinien zog. "Rule, Britannia!"

Zurück zu Orwell: Als der seinen Familienvergleich zog, war das britische Empire eigentlich schon erledigt. Aber es wusste noch nichts von seinem Ende, beziehungsweise: Es wollte noch nichts davon wissen. Und in einer großen Zahl vor allem englischer Köpfe hat dieses Weltreich bis heute nie aufgehört zu existieren. Es rumort weiter als Phantomschmerz, es fühlt immer noch eine nostalgisch aufgepolsterte Größe, die sich heftig wehrt gegen die viel zu kleine Gegenwart, es führt ein mit Ressentiments aufgeladenes Leben in einer Parallelwelt. Was braucht dieses England denn Europa? Sein Weltreich mag nicht mehr Empire heißen, aber es existiert doch weiter als Commonwealth, in dem die Queen immer noch oberste Instanz ist – jedenfalls auf Briefmarken.

Diejenigen in England, die sich mit großer Mehrheit für den Brexit entschieden haben, waren die Alten und die vom Land. In einer exzellenten Trilogie der Schriftstellerin Jane Gardam, deren erste Teile "Ein untadeliger Mann" und "Eine treue Frau" auch auf Deutsch erschienen sind, kehrt ein älteres Ehepaar nach Jahrzehnten aus Hongkong zurück in ein Land, das es nicht mehr kennt. Edward Feathers war ein hoher Richter, seine Frau Betty war, nun ja, eben seine Frau. Beide haben ihre Erfahrungen mit dem Empire gemacht, beileibe nicht nur gute, und beide sind nun wie aus der Zeit gefallen, weil sie dieses Empire nicht loswerden. Am Ende ihres Lebens stecken sie fest in ihren Erinnerungen und in ihrer sehr englischen Stiff-upper-lip-Haltung, die Äußerungen über das eigene Gefühlsleben – oder vergangene Affären – verbietet. Dass sie sich nicht ändern können, aber auch nicht ändern müssen, hat mit ihrem Rückzugsort zu tun, einem Cottage in der südenglischen Provinz, in der sich die Gegenwart quasi übersehen lässt. Und es hat damit zu tun, dass sich ein anderes Empire-Überbleibsel als Nachbar niederlässt: Edwards Rivale! Wenn sie sich begegnen, ist das eine illusorische Selbstbestätigung dafür, dass alles beim Alten geblieben ist.

Der Autor Will Self hat <link https: www.theguardian.com books jul will-self-brexit-fallout-european-referendum-patriotism external-link-new-window>kürzlich im "Guardian" geschrieben, dass es das geliebte alte England nur noch in den Komödien des Ealing-Studios gebe, also in Filmen wie "Adel verpflichtet" oder "Passport to Pimlico". "Indem die 'Brexiters' den patriotischen Geist aus der Flasche ließen", so Will Self, "forderten sie die Briten implizit dazu auf, entweder engstirnig-provinzlerischer und weniger vielfältig zu werden – oder ein zweites imperiales Reich anzustreben." Wobei das eine das andere keineswegs ausschließt: Man kann auch im Cottage vom Weltreich träumen. "Make Britain great again!", so heißt der Brexit-Slogan. Großbritannien war sowieso nur formal EU-Mitglied, emotional war es nie dabei. Weil die eigenen Politiker Europa für alles verantwortlich machten, was schieflief; weil die zum Monopolkonzern herangewucherte Murdoch-Presse den Nationalismus hochleben ließ und gegen Ausländer hetzte; weil die EU selber sich als neoliberale Kampforganisation gerierte und nur allzu selten als Schutzmacht der sozial Schwächeren; und weil eine riesige Projektionsmaschine immer wieder fiktive Bilder eines England vorgaukelt, in dem es noch immer so aussieht, wie es niemals wirklich war.

Schon in den Neunzigern warf das Broadcasting Standards Council der TV-Soap-Serie "Coronation Street" vor, dass ethnische Minderheiten in ihr unterrepräsentiert seien. Erst 2014 durfte die erste muslimische Familie dort einziehen. Natürlich kann man sich in England auch ein nicht ganz so heimeliges und, jawohl, man muss es aussprechen, nicht ganz so weißes Bild seines Landes und seiner Gesellschaft ansehen, etwa in Filmen von Ken Loach oder Mike Leigh. Aber weniger anstrengend ist es, sich in Whodunit-Krimis in Agatha-Christie-Tradition zurückzuziehen, in die TV-Ermittlungen des Inspector Lewis etwa, bei denen der DVD-Anbieter die "gediegenen Mordfälle in der altehrwürdigen, pittoresken Universitätsstadt Oxford" und die "prächtige Architektur, malerische Landschaften, gemütliche Pubs" preist.

"Letzte Bastion Englishness": eine Welt ohne Schwarze oder Asiaten

Auch Inspector Barnaby ermittelt angeblich im Hier und Jetzt, allerdings in der fiktiven Grafschaft Midsomer. Auf die Frage, warum dort keine Schwarzen und keine Asiaten auftauchten, antwortete der Produzent Brian True-May: "Dann würde es nicht mehr aussehen wie ein englisches Dorf." Dass er seine Serie auch als "letzte Bastion von 'Englishness'" bezeichnete, war dann zu viel, er musste zurücktreten. Und wie sieht es aus in Harry Potters Welt? Es wird dort einerseits Offenheit und Toleranz gerühmt, andererseits geht es um eine im heutigen England operierende Geheimgesellschaft. Dieses Schloss-Internat, diese Uniformen, diese Regeln, diese Sprache! "Bring Harry home to Britain", hat der Ober-Brexiter Boris Johnson in Bezug auf die Verfilmungen gefordert: "Wir müssen als Land total verrückt sein, es den Amerikanern zu überlassen, mit einer großen britischen Institution Geld zu verdienen."

Der Beginn des ersten J.-K.-Rowling-Romans, in dem der Waisenjunge Harry Potter von den Stiefeltern in der Abstellkammer gehalten wird, fühlt sich an wie Dickens. Überhaupt kann es in der englischen Literatur, im Kino und vor allem im Fernsehen nicht oft genug zurückgehen in die Vergangenheit. Immer wieder werden Vorlagen von Dickens, den Brontë-Schwestern oder Jane Austen adaptiert, so als brauche jede Generation ihre eigene Version. Während es hierzulande mit dem Traumschiff hinaus in die Welt geht oder nach Cornwall, um dort sehr deutsch herumzupilchern, kann sich der englische Zuschauer in der eigenen (Kultur-)Geschichte niederlassen. Und dabei dem modernen Leben entfliehen: In der TV-Serie "Lost in Austen" (2008) fällt eine Frau aus dem London von heute zurück ins 19. Jahrhundert und in die Romanwelt ihres Idols.

Das Brexit-Gefühl ist die Sehnsucht, aus England ein Museum zu machen. Dazu gehört die immerwährende Monarchie respektive deren immerwährende Beschreibung. So differenziert Filme wie "Die Queen" (2006), "Victoria, die junge Königin" (2009) oder "The King's Speech" (2010) im Einzelnen auch sein mögen, in der Summe arbeiten sie am Denkmal einer quasi über alle Zeiten erhabenen Institution. Und dann diese Herrenhäuser in grüner Landschaft! Der Humorist P. G. Wodehouse hat 59 Jahre lang immer wieder aufgelegte und verfilmte Romane über den trotteligen Junggesellen Bertie Wooster geschrieben, den sein smarter Butler Jeeves vor heiratswütigen Ladys bewahrt. Die Zeiten mögen sich in diesen 59 Jahren geändert haben, diese Geschichten nicht. Wodehouse habe die Realität ignoriert, schrieb dessen Kollege Evelyn Waugh: "Er hat für uns eine Welt erschaffen, in der wir leben und in der wir uns vergnügen können."

Waugh selber reüssierte mit der melancholischen Variante des Herrenhaus-Romans, auch sein "Wiedersehen mit Brideshead" wurde mehrfach verfilmt. Die erfolgreichste Herrenhaus-Geschichte aber dürfte inzwischen die von "Downton Abbey" sein, in der vieles von dem zusammenkommt, was das Brexit-Gefühl ausmacht: glorifizierte Vergangenheit, Land und Landschaft, Adel und Dienstboten. Und so gut wie keine Ausländer. Mag die erste Staffel der Serie noch das Ende einer Ära andeuten, so sind die Fortsetzungen zur apologetischen Beschreibung eines England geworden, in dem alles noch seine Ordnung hatte. Fast unnötig zu sagen, dass Julian Fellowes, der zum Baron geadelte und im Oberhaus sitzende Schöpfer von "Downton Abbey", ein Brexit-Befürworter ist.

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6 Kommentare verfügbar

  • Horst Ruch
    am 09.07.2016
    Antworten
    ...@müller, stimme ihnen ausnahmsweise zu. Grenzenlos. Schlagbaumlos. Schamlos. Nachdem bei der EM, Deutschland ausgestiegen ist, sollten doch die Nationalhymnen und all der Quatsch im Sport abgeschafft werden. Es ist schon witzig mit wieviel "Inbrunst" die "ausländischen" Mitspieler und die…
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