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Kampf in der Dunkelkammer

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Die Regisseurin Claudia von Alemann stellt in ihrem Porträt die 1996 verstorbene Fotografin Abisag Tüllmann vor. Als langjährige Freundin bringt Alemann damit eine Frau ins Kino, deren Geschichte unser Filmkritiker aufs Wärmste empfiehlt. Eine Frau, die nie viel Wirbel um sich machte und doch die Bildergeschichte Deutschlands prägte – auch in Stuttgart.

Eine Handkamera streift langsam, fast zögerlich durch die Räume einer menschenleeren Frankfurter Wohnung. Ein suchender, ein tastender Blick, der Zettel und Bilder an der Wand einfängt, herumliegende Kleider und Bücher, einen unaufgeräumten Schreibtisch, eine Dunkelkammer. Die Fotografin Abisag Tüllmann (1935–1996) hat hier gelebt. Die Filmaufnahmen sind drei Tage nach ihrem Tod entstanden. Gedreht wurden sie von Claudia von Alemann, einer guten Freundin, die nun in ihrem Filmessay "Die Frau mit der Kamera" an Tüllmann erinnert und diese Szenen an den Anfang setzt.

Die Fotografin war schwer krank, sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Aber in dieser Wohnung wurde keine Bilanz gezogen, nichts einsortiert für die Nachwelt, nichts aufgeräumt für eine Trauergemeinde. Hier sind vielmehr Spuren des Lebens zu sehen, hier wurde bis zuletzt gearbeitet. Und diese Insignien der klassischen Moderne, der Breuer-Stuhl, die Wagenfeld-Lampe oder der Ulmer Hocker, sie stehen hier nicht repräsentativ herum, sie waren alle im Gebrauch. Tüllmann hat an der (Bilder-)Geschichte der Bundesrepublik mitgeschrieben, aber um sich selber hat sie wenig Aufhebens gemacht. So wenig, dass Alemanns Film zu einem Porträt wird, in dem die Porträtierte beinahe verschwindet, besser: ganz in ihrer Arbeit aufgeht.

An der Ulmer Hochschule für Gestaltung hat Alemann die Fotografin kennengelernt und war seit dieser Zeit mit ihr befreundet. In ihrem Film, in dem die Regisseurin aus dem Off erzählt, versucht sie in der Zeit weiter zurückzugehen, in die Kindheit und Jugendjahre von Abisag Tüllmann, deren Vater Zwangsarbeit leisten musste und schon 1945 starb, deren Mutter von den Nazis als Halbjüdin gebrandmarkt wurde, sodass sie sich mit ihrer Tochter in den letzten Kriegsjahren verstecken musste. Aber sehr viele Details aus diesen frühen Jahren kann Alemann nicht finden. Und auch nicht sehr viel über das Leben einer jungen Frau, die ein Tischlerpraktikum absolvierte, ein Innenarchitekturstudium abbrach, in den späten Fünfzigerjahren als Fotografin für die Frankfurter Zeitungen arbeitete und später auch für den "Spiegel" oder die "Zeit".

Vom Tischlerpraktikum zu "Spiegel" und "Zeit"

Einen Brief der jungen Abisag Tüllmann allerdings entdeckt die Regisseurin, in dem ein nur scheinbar privater und immer noch aktueller Konflikt angesprochen wird, der damals noch viel schwerer zu lösen war. Wenn sie sich zwischen ihrer Arbeit und einem Kind entscheiden müsste, schreibt sie da, würde sie sich wohl für ihre Arbeit entscheiden. Ganz lapidar erzählt Alemann dann von einer Beziehung der Fotografin und von einer Fehlgeburt, die "durch das Heben schwerer Kisten" verursacht wurde. Nein, nichts weiter. Ob sich Tüllmann mehr oder weniger bewusst gegen das Kind entschieden hat, bleibt offen. Dass sich ihre Freundin Claudia von Alemann aber bewusst dafür entschieden hat, diese Problematik in ihrem Film nicht zu verschweigen, muss man ihr hoch anrechnen.

Das war es in diesem Film aber schon mit dem Privatleben der Abisag Tüllmann. Denn alle, die hier zu Wort kommen – darunter, sehr warmherzig, die Fotografie-Kollegin und Freundin Barbara Klemm –, erinnern sich an sie in Zusammenhang mit ihrer Arbeit. Fünfhundert Fotos der "Frau mit der Kamera", fast alle schwarz-weiß, stellt Alemann in ihrem Film vor. Fotos vom Mai 1968 in Frankfurt zum Beispiel: Dutschke und Cohn-Bendit im Hörsaalgetümmel, ein bärtiger Joschka Fischer, der sich mit verwegener Arroganz eine Zigarette zwischen die Lippen gehängt hat. Politiker-, Philosophen-, Künstler- und Autorenporträts, zum Beispiel von Adorno, Bloch, Brandt, Kohl, Beuys, Böll oder Bernhard. Nie steif und festgefroren für die Ewigkeit, nie auf dem Podest und isoliert, sondern immer im Umfeld, im Moment und in Bewegung, sei es geistig oder körperlich. "Fotografieren heißt teilnehmen", so lautet der Leitspruch von Tüllmann.

Ereignisse, Emotionen, Atmosphäre: Regisseurin Claudia von Alemann, die ihren Film manchmal mit Neuer Musik des Komponisten José Luis de Delás unterlegt, spürt der vielfältigen Arbeit ihrer Freundin nach. Tüllmann dokumentiert die Gründung des Neuen Deutschen Films um Alexander Kluge und Co., den Kampf gegen den Abriss im Frankfurter Westend, den Beginn der Frauenbewegung, den Auschwitzprozess. Sie interessiert sich für "soziale Bewegungen im Entstehen", reist nach Südafrika und ist beim Streik der Minenarbeiter dabei. Sie fotografiert in Israel – auf jüdischem und palästinensischem Gebiet. Und sie wird, unter anderem durch ihre Bildbegleitung der Stuttgarter Peymann-Ära, zu einer großen Theaterfotografin.

Abisag Tüllmann hat so viele Interessen, sie ist nicht auf ein Thema festzulegen. Es sei denn, man würde dieses Thema sehr weit fassen: Fotos mit Menschen. Noch etwas pathetischer formuliert: Mitmenschen. Es genügt ja nicht, an den richtigen Orten zu sein, es gehört auch eine Haltung dazu, die sich ästhetisch mitteilt. Der Ausdruck "ein Foto schießen" ist ihr ein Gräuel, sie ist bei Ereignissen zwar dabei und oft mittendrin, drängt sich aber nicht vor, versucht eher, unsichtbar zu bleiben. "So schnell sein, dass man nicht wahrgenommen wird", sagt Barbara Klemm über sich und ihre Kollegin. Dass sich die Zeiten und Ansprüche der Medien ändern, dass etwa der "Spiegel" plötzlich auf Farbfotos drängt, dass "heute alles viel glatter, inszenierter" aussieht, auch das hat Tüllmann noch skeptisch registriert.

Fotos mit Haltung

Abisag Tüllmann selbst, diese zierliche Frau mit den großen, dunklen Augen, ist in Alemans Porträt übrigens nur selten zu sehen. Einmal kurz in einem Ausschnitt aus Helke Sanders Spielfilm "Die allseitig reduzierte Persönlichkeit" von 1977, einem Schlüsselwerk der Emanzipation. Da spielt sie eine Fotografin. In anderen kurzen Szenen wirkt sie sehr zurückgenommen, sehr uneitel, fast scheu. Und sie spricht sehr, sehr langsam. "Gerade ihr so bedächtiges Temperament, ihre jegliche Geduld prüfende Ruhe", so schrieb Claus Peymanns Dramaturg Hermann Beil in seinem "Theater heute"-Nachruf, "vermochten auf leichteste Weise jegliche Theatralik im Bild ,aufzuheben'".

Mit ihren Fotos vom Staatstheater hat sich die Fotografin auch in die Stuttgarter (Kultur-)Geschichte eingeschrieben. "In der Dunkelkammer kämpfte Abisag Tüllmann stundenlang um jenen richtigen Ausdruck des Moments", so noch einmal Hermann Beil, der Tüllmanns Bilder als "Befragung des Lebens und Ausdruck des Lebens" bezeichnet und die Fotografin selber nicht nur als Beobachterin, sondern als Mitwirkende sieht: "Mit ihren Theaterbildern dichtete sie eigentlich Aufführungen zu Ende." 

Beils Sätze kommen im Film nicht vor, dafür wird eine weitere Berühmtheit aus der Stuttgarter Kulturszene erwähnt, wenn auch in eher unrühmlichem Kontext. Der Buchhändler Wendelin Niedlich hat damals eine Ausstellung zu Peymanns "Faust"-Inszenierung gezeigt, mit Fotos von Abisag Tüllmann. Und er hat diese Fotos, wenn sie nicht in seine Rahmen passten, zusammengeschnitten und zurechtgestutzt – ohne zu fragen. Die nun im Film gezeigten Tüllmann-Bilder, darauf legt die Regisseurin Wert, sind unbeschnitten zu sehen und werden auch ohne Schwenks oder Zooms präsentiert.

 

Info:

Claudia von Alemanns "Die Frau mit der Kamera – Porträt der Fotografin Abisag Tüllmann" kommt am Donnerstag, den 23. Juni, in die deutschen Kinos. Welches Kino in Ihrer Nähe den Film zeigt, <link http: kinofinder.kino-zeit.de programmsuche die-frau-mit-der-kamera-portrait-der-fotografin-abisag-tuellmann external-link-new-window>finden sie hier.

Im Stuttgarter Verlag Hatje Cantz ist 2010 der Band "Abisag Tüllmann: 1935–1996 ‒ Bildreportagen und Theaterfotografie" erschienen.

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2 Kommentare verfügbar

  • Mac
    am 22.06.2016
    Antworten
    Also Frau Bosch - das nervt - der Film läuft die ganze Woche im Atelier am Bollwerk. Gehen sie hin, sonst ist er in einer Woche wieder verschwunden.
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