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Der unverstandene Künstler

Der unverstandene Künstler
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Über Giorgio De Chirico kann man viele Geschichten erzählen. Immer wieder hat sich der Künstler dem Zeitgeist quergestellt. Die Stuttgarter Staatsgalerie hält sich an die große Erzählung vom wegweisenden Pionier der Moderne.

Eine Fabrik wie diese hatte es in der Geschichte der Kunst vorher nicht gegeben. Eine riesige Vierflügelanlage, an der hinteren Ecke eine Batterie von Schornsteinen, auf der Straße ein paar verlorene, winzige Menschenfigürchen. Aber Giorgio De Chirico malt vor 100 Jahren nicht nur eine Fabrik. Er malt ein Gemälde von einer Fabrik, das gerahmt in einem Innenraum steht, umgeben von einer Heerschar von Linealen, Stäben und Winkeln.

Es handelt sich um die Fabrik der Fratelli Santini in Ferrara, ein Gemischtwarenunternehmen für Haushaltswaren, Espressokocher, Motorradschweinwerfer und allerhand Nippes. Als Christiane Lange, die Direktorin der Staatsgalerie Stuttgart, aus Ferrara die Anfrage bekam, ob sie das Bild für eine De-Chirico-Ausstellung ausleihen würde, zögerte sie nicht lange: Ja, wenn diese dann auch nach Stuttgart käme. Dieselbe Ausstellung ist es nun freilich nicht geworden: In Ferrara wurde der Meister vorwiegend italienischen Künstlern gegenübergestellt, in der Staatsgalerie vor allem deutschen.

De Chirico ist eine kontroverse Figur, wozu der Künstler selbst kräftig beigetragen hat. Im Lauf seines neunzigjährigen Lebens fühlte er sich oft missverstanden. Er scheute sich nicht, seine Kritiker hart anzugehen und mehrfach um 180 Grad die Richtung zu ändern. 1888 als Sohn italienischer Eltern in Griechenland geboren, studierte er in Athen und München, ging nach Mailand, Florenz und 1911 nach Paris und wurde, nachdem er sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs der Einberufung gestellt hatte, nach Ferrara versetzt. Auf seine Zeit dort, bis Ende 1918, konzentriert sich die Ausstellung.

Plätze als metaphysische Landschaften

Ursprünglich von Arnold Böcklin und Max Klinger ausgehend, entwarf De Chirico ab 1909 seine berühmten leeren Plätze mit den schattigen Arkaden, den klassischen Denkmälern, den halb versteckten Segelschiffen und Eisenbahnen, den verlorenen Figuren und Schlagschatten. Es sind wie bei Klinger und Böcklin letztlich alles offene Symbole, die aber unter dem Eindruck des französischen Kubismus deutlich an Prägnanz und Klarheit gewonnen haben.

Der Poet Guillaume Apollinaire bezeichnete diese Plätze als metaphysische Landschaften. Ein etwas problematischer Begriff: Die Metaphysik fragt danach, was hinter der greifbaren, physischen Welt liegt, nach den "ersten Gründen" und "letzten Fragen", für die in der abendländischen Tradition die Theologie immer Antworten parat hatte. Letzte Fragen will De Chirico nicht beantworten. Aber etwas bleibt ungreifbar auf seinen Plätzen – wie ein Geheimnis hinter den Dingen. Dem Maler gefiel der Begriff. Er sprach von da an auch selbst von metaphysischer Malerei.

In der Provinzstadt Ferrara – ein Schock nach Paris – war De Chirico ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Hier entstanden seine Interieurs mit Gliederpuppen, Winkeln und Dreiecken: eine in sich geschlossene Welt, aus der nur gemalte Blicke nach draußen führen. In Ferrara begegnete er Carlo Carrà, dem ehemaligen Futuristen, der von dem Versuch, Bewegung im Bild festzuhalten, abgekommen war und stattdessen nach einer plastischen Körperlichkeit suchte. Angeregt von den Kubisten hatten die Futuristen versucht, Bewegungsabläufe im Bild festzuhalten, indem sie Körper und Gegenstände in viele Facetten zerstückelten. Um die Zeitschrift "Valori plastici", die De Chirico und Carrà außerhalb Italiens bekannt gemacht hat, sammelte sich die Gegenbewegung. Giorgio Morandi, der am stärksten diese Richtung verkörpert, malte bevorzugt klar umrissene Vasen und Gefäße.

Am Ende seiner fünf Jahre in Ferrara hatte De Chirico seine erste große Einzelausstellung in Rom, die zu einem Reinfall wurde. Von der Kritik verrissen, konnte er nur das Bild seiner Verlobten verkaufen, das er freilich nur ausgestellt hatte, um zu beweisen, dass er auch "richtig" malen könne. Weil auf diese Weise keine Existenz zu gründen war, kam ihm dann auch noch die Verlobte abhanden.

Heftig schimpfte er auf die Kritiker – um noch im selben Jahr vor Gemälden Tizians eine Offenbarung zu erfahren. Gegenüber den alten Meistern sei alle moderne Malerei wertlos, behauptete er nun. Während so unterschiedliche Künstler wie Max Ernst und George Grosz in Deutschland De Chirico entdeckten, während die Surrealisten in Paris ihn zu ihrem großen Vorläufer erklärten, ging der Künstler selbst zu seinem bisherigen Schaffen immer mehr auf Distanz. Ab 1930 schließlich produzierte er nur noch barocke Schinken und schreckte auch nicht davor zurück, sich selbst in Ritterrüstung oder in einem Kostüm des 17. Jahrhunderts darzustellen.

Der Maler imitierte sich selbst – und kämpfte gegen Fälschungen

Als ihn die Biennale von Venedig 1949 für seine metaphysischen Bilder ehrte, protestierte er erneut und bekam Gelegenheit, auch sein so altertümliches neueres Werk auszustellen. Doch auf Dauer musste er wohl einsehen, dass so etwas nicht mehr gefragt war. So griff er schließlich in seinem letzten Lebensjahrzehnt die metaphysische Malerei wieder auf. Mittlerweile waren zahllose Fälschungen in Umlauf gekommen. Nun wiederholte De Chirico selbst frühere Themen, datierte die Werke sogar zurück und führte zugleich einen Feldzug gegen die Fälschungen – die sich indes von den Selbstimitationen oft kaum unterscheiden.

Damit umzugehen ist den Kunsthistorikern begreiflicherweise nicht leicht gefallen. Zweifellos sind es die Werke der ursprünglichen metaphysischen Periode, die den Ruhm des Künstlers begründen. Und ungeachtet aller Selbststilisierungen erscheint ziemlich durchsichtig, dass der Maler mit seinen Kehrtwenden nicht nur höheren Eingebungen, sondern vor allem den Wünschen des Publikums folgte.

Gleichwohl hat Wieland Schmied, der 2014 verstorbene größte Kenner De Chiricos, immer darauf bestanden, das Gesamtwerk als eine Einheit zu betrachten. Als Direktor der Kestner-Gesellschaft in Hannover veranstaltete er 1970 eine erste große Retrospektive, in der das Spätwerk ebenso vorkam wie in einer Ausstellung 1982 im Münchner Haus der Kunst, die in Zusammenarbeit mit dem Museum of Modern Art in New York und dem Centre Pompidou in Paris entstand.

Zu allem Überfluss gibt es auch noch eine De-Chirico-Stiftung. Die betreibt im Haus an der Spanischen Treppe in Rom, wo der Meister ab 1945 gelebt hat, ein Museum, verfügt in ihrer Sammlung aber nur über Werke, die nach 1930 entstanden sind. In den letzten Jahren gab es sogar Ausstellungen im Musée de la Ville de Paris und in der Frankfurter Schirn, die ausschließlich das Spätwerk gezeigt haben.

Die Stuttgarter Ausstellung hingegen präsentiert sich deutlich komplexitätsreduziert: Von einigen Vorläufern abgesehen, beschränkt sie sich ganz auf De Chiricos Zeit in Ferrara. Werke dieser Periode stellt sie denen berühmter Maler wie Max Ernst, George Grosz, René Magritte, Salvador Dalí oder Oskar Schlemmer gegenüber.

Dass vor allem Max Ernst und George Grosz geradezu eine De-Chirico-Phase durchlebt haben, bevor sie zu ihrer eigenen Kunst fanden, ist nun keinesfalls neu. Auch nicht, dass die Surrealisten ihn zu ihrem Vorbild erkoren. Schon bei Schlemmer ergibt sich der Kontakt allerdings nicht direkt, sondern über Carlo Carrá, der seinerseits kräftig bei De Chirico abgekupfert hat. Den Zusammenhang mit der Neuen Sachlichkeit wiederum, den die Ausstellung postuliert, lässt sich nur über Giorgio Morandi herstellen, der zwar ebenfalls zum Kreis der "Valori Plastici" gehört, aber mit der Rätselhaftigkeit der metaphysischen Malerei nichts am Hut hat.

Aber was ist damit besagt, wenn Maler aller Couleur einzelne Motive – Gliederpuppen, ein isoliertes Auge, gemalte Gemälde – übernehmen? Die Frage ist doch, was sie damit sagen wollten. Hier zeigt sich allerdings, dass der lustvolle Spott, den Ernst in der Lithografieserie "Fiat Modes Pereat ars" ("Es werde die Mode, die Kunst vergehe") betreibt, mit der Melancholie, die aus den Bildern De Chiricos spricht, ebenso wenig zu tun hat wie die beißende Sozialkritik von George Grosz, der den Menschen als mechanische Holzpuppe in eine feindliche Großstadt-Umgebung stellt.

Sehnsucht nach der Welt der klassischen Kunst

War De Chirico überhaupt ein moderner Maler? Ja und nein. Seine Bilder stellen eben die Frage nach dem Standort der Kunst – im ganz klassischen Sinne – in der modernen Welt. Sein Vater war Eisenbahningenieur, stammte aus einer Familie sizilianischer Barone. Als er 1905 starb, war De Chirico 17 Jahre alt. Seine Mutter, eine Opernsängerin, ließ die beiden Söhne von München über Mailand und Florenz bis Paris nie aus den Augen. Der Maler sehnte sich zurück nach dem Vater, nach seiner Kindheit, nach einem Italien, in dem er nie aufgewachsen war. Und nach der Welt der klassischen Kunst.

Danach fragen seine gemalten Gipsköpfe und Denkmäler, seine italienischen Plätze, die Fabrik mit den vielen Linealen und Winkelmaßen: Wo ist der Platz der Kunst in einer durch und durch vermessenen, rationalen Welt? Der Maler hat darauf im Lauf seines langen Lebens verschiedene Antworten gegeben. Ein Avantgardist, der das Alte umstürzen will wie die Futuristen, ist er allerdings nie gewesen. "Die Melancholie der Abreise" heißt ein berühmtes Gemälde aus der Londoner Tate Gallery, das nun in Stuttgart zu sehen ist.


Info:

Bis 3. Juli 2016, Öffnungszeiten Di–So 10–18 Uhr, Do bis 20 Uhr kann <link http: www.dechirico-staatsgalerie.de external-link-new-window>die Ausstellung in der Staatsgalerie besucht werden.

Vom 21.–23. April veranstaltet die Staatsgalerie ein <link http: www.dechirico-staatsgalerie.de news symposium.html external-link-new-window>Symposium zu den Selbstwiederholungen De Chiricos und anderer Künstler. Am 21. April, um 18.30 Uhr, eröffnet der Kurator der Ausstellung, Paolo Baldacci, das Symposium mit einem Vortrag.


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