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Dengler im Haifischbecken

Dengler im Haifischbecken
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Wolfgang Schorlau hat seinen achten Politthriller abgeschlossen. Seinen Ermittler schickt er mitten rein ins Feuer des NSU-Komplexes. Es geht um Rechtsradikalismus, internationale Geheimdienste und die Frage: Wer erschoss Michèle Kiesewetter? Kontext war mit Schorlau am Tatort auf der Heilbronner Theresienwiese.

Auf dem Frühstücksbrot liegen Apfelschnitze, die Kaffeetasse ist groß und voll, das Handy liegt griffbereit daneben. Es könnte ja noch eine Info kommen, eine heiße womöglich. Wolfgang Schorlau sitzt am Küchentisch in der Wohnung seiner Freundin, die nicht nur Rektorin der Kunstakademie ist, sondern als Journalistin auch gestrenge Erstleserin seiner Romane. Manchmal gibt er ihre Stuttgarter Altbauwohnung als seine eigene aus, "weil die schöner ist als meine", bekennt er. Ein jungenhaftes Grinsen wischt für einen kurzen Moment die Müdigkeit aus seinem Gesicht. Eine kleine Dosis Fiktion erleichtert den Alltag.

Der 64-Jährige hat eine harte Zeit hinter sich. In seinem neuesten Politthriller hat der Kriminalschriftsteller seinen Privatermittler Dengler in ein Haifischbecken geworfen, in dem die Haie ziemlich real und noch sehr lebendig sind. Er lässt den Stuttgarter Ex-BKA-ler zum "Nationalsozialistischen Untergrund", kurz NSU, ermitteln, während in München noch der Prozess gegen Beate Zschäpe läuft und in hessischen, nordrhein-westfälischen und baden-württembergischen Untersuchungsausschüssen versucht wird, die Wahrheit zum NSU-Komplex zu ermitteln. Am 12. November wird "Die schützende Hand" erscheinen.

Doch für Schorlau ist der Fall damit nicht abgeschlossen. "Wir gehen alle davon aus, dass wir in einem liberalen Land leben", sagt er: "Und dann wurde mir klar, dass wir wahrscheinlich in einem Land Leben, das in weiten Bereichen von den Amerikanern kontrolliert wird." Das steckt ein kritischer Zeitgenosse ebenso wenig weg wie die Erkenntnis, die er durch das Aktenstudium gewonnen hat: Dass die Ermittler den Bundestagsausschuss gnadenlos und schlecht angelogen haben. Dass der Verfassungsschutz mauert. Dass die Polizei schlampig ermittelt hat. Das riecht nach Vertuschung. Wer die Akten kennt, weiß, wo die Unwahrheit gesagt wurde. Dengler weist das akribisch nach.

Immer wieder schwappte die Realität auf Schorlaus Schreibtisch

In den vergangenen anderthalb Jahren, in denen Schorlau an seinem achten Politkrimi saß, sind immer wieder Zeugen gestorben, ganz plötzlich. V-Mann Corelli im Zeugenschutzprogramm an einer nicht erkannten Diabetes. Der rechte Aussteiger Florian Heilig in seinem ausgebrannten Auto. Dessen Ex-Freundin an einer Lungenembolie. Einen nicht abgeschlossenen Kriminalfall so tief nachzuermitteln, das hat noch kein Krimiautor gemacht. Immer wieder schwappte die Realität in die Fiktion und auf seinen Schreibtisch. Sie machte aus dem Schriftsteller einen Sachverständigen, der Anfang des Jahres vom NSU-Untersuchungsausschuss in Stuttgart gehört wurde - und dessen Vertrauen in den Rechtsstaat gelitten hat. "Zerfleddert" nennt Schorlau diesen Zustand. Es war seine bisher anstrengendste und verstörendste Recherche.

Ein letzter Schluck Kaffee, eine längere Suche nach seinem Schal, bis er unter den vielen bunten der Freundin seinen dunklen herausgefischt hat, und die Aufforderung: "Fahren wir zur Theresienwiese." Tatortbegehung mit einem Schriftsteller, der die Wahrheit sucht. Das Handy steckt er ein. Man weiß ja nie.

Es ist nicht das erste Mal, dass Wolfgang Schorlau gesellschaftliche Missstände zum Thema seiner Krimis macht. Er hat seinen Dengler durch die tier- und menschenfeindlichen Ställe der Fleischindustrie gejagt, er ließ ihn die bitteren Pillen der Pharmaindustrie schlucken oder die kriminellen Geschäfte mit Trinkwasser enthüllen. Sein Ermittler ist so politisch wie sein Autor, der immer genau weiß, worüber er schreibt. Es steckt viel Finden in Schorlaus Erfinden. Er ist ein Rechercheur, der nicht nur Spaß an der Jagd nach neuen Erkenntnissen hat, sondern sich auch hartnäckig in sein Sujet verbeißt.

Erstmals hatte er in dem langjährigen "Monitor"-Mitarbeiter Ekki Sieker einen investigativen Journalisten an seiner Seite. Der hat die Ermittlungsakten und Protokolle herbeigeschafft, durch die sich Schorlau gefressen hat. "Wie Ekki das gemacht hat, weiß ich nicht", sagt er am Heilbronner Neckar und guckt unschuldig durch seine zweigeteilte Brille, oben Weitsicht, unten Nahschärfe. Der Verlag hat alles rechtlich geprüft, die Fotos vom Inneren des Wohnmobils in Eisenach-Stregda, in dem Böhnhardt und Mundlos erschossen aufgefunden wurden, die Ermittlungsprotokolle. Das Handy schweigt beharrlich in der Jackentasche. 

Von keinem Geheimdienst der Welt lässt er sich die Lebenslust stehlen

Herbstliche Nebel steigen vom Neckar hoch auf die Theresienwiese, legen einen grauen Schleier über das verzweifelte Bunt der Bäume. An dem Transformatorenhäuschen nahe dem Ufer stand das Polizeiauto, hier wurde die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen. Inzwischen ziert ein lachendes Graffiti die Wand. Schorlau schlägt den Kragen hoch. Dort oben an der Böschung fuhr ein Zeuge auf dem Rad vorbei, weiter unten am Ufer wurde einer gesehen, der sich das Blut abwusch. Der Stuttgarter NSU-Ausschuss hat sich im Sommer vor Ort ein Bild gemacht. Viel schlauer ist er nicht geworden. Ein Ermittler hat Schorlau gesagt: "Ein Zufall ist ok. Zwei machen misstrauisch. Und bei drei Zufällen stimmt was nicht." Im Fall Kiesewetter gibt es mehr als drei Zufälle. Und bei Wolfgang Schorlau machte sich Erkenntnisfurcht breit: Was kommt da noch alles?

Nun ist dieser Mann keiner, der sich so schnell ängstigt. Mit Morddrohungen hat er nur nach seinem ersten Dengler zu tun. "Du denkst, dass dir der Grimme-Preis angeboten wird, und dann das", sagt er mit einem Augenzwinkern. Nein, sein Telefon knackst heute nicht mehr als sonst, er sieht nicht hinter jedem Baum einen Schlapphut und Paranoia ist auch nicht sein Ding. "Ich bin ja nicht größenwahnsinnig", sagt er: "An dem Thema sind drei Dutzend brillante Journallisten dran, da werden die sich doch nicht ausgerechnet vor einem Kriminalschriftsteller fürchten. Aber vielleicht sollte ich mal im Rauchmelder nachschauen?" Den Humor und die Lebenslust will er sich von keinem Geheimdienst der Welt stehlen lassen.

Da greift er lieber zur Gegenwehr. Bevor Recherchen zur Depression führen, geht er mit netten Menschen - ganz wie sein private eye - gut essen und trinken in der Weinstube Vetter, wo er gern gesehener Stammgast ist. Bevor ihm am häuslichen Schreibtisch die Decke auf den Kopf fällt oder er mehr Joghurts aus dem Kühlschrank holt, als Wörter in den Computer hackt, flüchtet er in die bibliophile Disziplin der Landesbibliothek. Aber selbstverständlich kennt er auch die dortige Cafeteria ganz gut. "Einmal hieß ein Drink sogar Schorlanowska", erzählt er, "eine teuflische Mischung." Das Rezept verrät er nicht, es ist davon auszugehen, dass Alkohol mit im Spiel ist.

Seinen letzten Dengler-Satz ("Sie geben nicht auf, sie machen immer weiter") hat er erst vor Kurzem im Urlaub in den Bergen geschrieben, da sollte sein Manuskript schon längst beim Verlag sein. Doch wie immer hat Schorlau großzügig um den Abgabetermin herumgeschrieben, ein kreativer Schluri, der sich zu helfen weiß, voller Vertrauen in sich und seine Freunde, dass alles schon irgendwie klappt.

Tiefere Erkenntnis schließt tiefen Staat nicht aus 

Hat es auch immer. Etwa, als er mit Ende 40 den sicheren Job als IT-Manager hinschmiss, um sich ganz auf's Schreiben zu konzentrieren. Die Mutter war entsetzt, die Freunde hielten ihn für verrückt, aber sie haben ihn unterstützt. Es hat schon in Freiburg alles irgendwie geklappt, als Schorlau mit elf Jahren ins Waisenhaus kam und seine selbstgeschriebenen Groschenromanen für ein paar Pfennige an Mitschüler verkaufte. Es hat auch irgendwie geklappt, als er in den 70er-Jahren beim "Kommunistischen Bund Westdeutschland" die Welt verändern wollte, aber vor allem an der sexuellen Revolution interessiert war. So hat er sich charmant und kunstvoll durchs Leben geschlängelt, das Herz immer auf dem rechten linken Fleck.

Den Rebellen hat die Herausforderung gereizt. Der ehemalige KBW-Aktivist erkannte früh, dass einiges nicht stimmte in diesem Land. Als Lehrling demonstrierte er in Freiburg gegen die Erhöhung der Fahrpreise und verkaufte vor den Werktoren die "Kommunistische Volkszeitung". Und für seinen NSU-Krimi wollte er mehr herauszukriegen als all die vielen NSU-Ausschüsse. Ein ambitioniertes Projekt. Aber so ist das nun mal bei ihm. So sucht und findet er seine Plots - sie müssen ihn packen. Er hat lange geschwankt zwischen dem NSU und dem Tod von Bin Laden.

Dabei mutet er sich einiges zu. Aber auch seinen LeserInnen. Seitenlange Aktenzitate etwa. Fotos vom ausgebrannten Wohnmobil in Stregda. Fußnoten zur Erklärung. Und nicht zuletzt die Geschichte hinter der Geschichte. Die zweite Geschichte. Die tiefere Erkenntnis, die auch einen tiefen Staat nicht ausschließt. "Er sehnte sich nach seinem früheren unschuldigen Glauben an die Demokratie zurück", schreibt Schorlau einem thüringischen Ermittler zu. Nun haben in Berlin alle Fraktionen einen zweiten NSU-Untersuchungsausschuss beantragt, auch in Baden-Württemberg wird es weitergehen. Der Schriftsteller mit dem scharfen Blick auf die Wirklichkeit freut sich.

Das Handy klingelt erst auf der Rückfahrt nach Stuttgart. Das Gespräch dauert lange, erst leise, dann lauter tönt es vom Rücksitz: "Alle Waffen waren durchgeladen... ok. Ja. Hab' lange mit meinem Verfassungsschutzinformanten gesprochen... Ja. Hm. ... Der hat denen nicht erzählt, dass er beim Ku Klux Klan ist. ... Nein... Ich bin sicher, dass die Amis ihn umgedreht haben, aber das ist Spekulation ... Fokussieren. Gut. Ja." Es war nicht der Verlag. Es war der Regisseur Lars Kraume, der schon den ersten Dengler-Krimi verfilmt hat. Keine Spur mehr von Müdigkeit bei Wolfgang Schorlau. "Das wird der dritte Fernseh-Dengler", sagt er. Hat doch mal wieder geklappt.

In der nächsten Kontext veröffentlichen wir einen Vorabdruck aus Wolfgang Schorlaus "Die schützende Hand".

 

Info:

Am 12. November kommt "Die schützende Hand" in den Buchhandel. Vormittags von 10 bis 12 Uhr ist Wolfgang Schorlau Gast bei SWR-Leute, abends um 20 Uhr stellt er sein Buch im Stuttgarter Hospitalhof vor.

Am 15. November liest und diskutiert er ab 11 Uhr mit Gregor Gysi im Deutschen Theater in Berlin.

Weitere Lesungen gibt es am 16. November 2015 in Eberswalde, am 18. November 2015 in Herrenberg und am 19. November in Tübingen.


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9 Kommentare verfügbar

  • Barolo
    am 10.11.2015
    Antworten
    Hallo Gela, ich glaube wir sind gar nicht so weit auseinander. Ich habe nur langsam eine Allergie, wenn ich im Zusammenhang mit dem Polizistenmord, den Dönermorden und dem NSU von Fehlern, Versagen, Problemen etc lese.
    Die Menge an Weglassen, Nichtermitteln, Aktenmanipulation, Aktenverschwinden,…
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