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Wolf satt

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In Jean-Jacques Annauds "Der letzte Wolf" soll das Raubtier ausgerottet werden. In der Mongolei und auf Befehl Pekings. Ganz anders hier: Der Nabu will ihn mit Ahuuu begrüßen. Kein Widerspruch, sondern eine Frage von Zeit und Perspektive, meint unser Filmkritiker.

Der Nabu feiert die Rückkehr des Raubtiers. "Ahuuuu – Sagen Sie Willkommen Wolf! Kümmern wir uns gemeinsam darum, dass der Wolf in Deutschland eine sichere Heimat findet", liest man auf der Homepage. Dass diese Rückkehr – und inzwischen streifen immerhin schon 31 Rudel in Deutschland herum! – in der Bevölkerung auch auf "Skepsis und Verunsicherung" stößt, und dies nicht nur bei Schäfern, gibt der Naturschutzbund zu.

Was kann nun der Film "Der letzte Wolf" von Jean-Jacques Annaud, der diese Woche ins Kino kommt, zur Debatte beitragen? Diese chinesische 3-D-Produktion basiert auf einem 2004 erschienenen Bestseller des Wirtschaftsprofessors Lü Jiamin, der darin erzählt, wie der junge und von Mao begeisterte Student Chen Zhen (Shaofeng Feng) in die innere Mongolei geschickt wird, um den Nomaden Lesen und Schreiben beizubringen – und wie er bald fasziniert ist vom Leben in der Steppe und insbesondere von den Wölfen. Der Autor, der diese Geschichte zunächst unter einem Pseudonym herausgebracht hat, schildert hier seine eigenen Erinnerungen. In diesen zwei Jahren als Rotgardist entfernt er sich ideologisch immer mehr von den rigorosen Ideen der Kulturrevolution, revoltiert schließlich im Jahr 1989 mit seinen Studenten auf dem Tianmen-Platz, wird zu 18 Monaten Haft verurteilt und darf nicht mehr veröffentlichen. Dass sein Buch im China des 21. Jahrhunderts erscheinen konnte, wertet er nun als "Beweis, dass sich in meinem Land etwas verändert hat". Und auch der Regisseur Annaud erklärt, dass die Zensur seinen Film fast ungeschoren ließ.

Aber zurück zum Wolf: Er ist für die Mongolen ein Totemtier, das gleichzeitig bewundert und gefürchtet wird. Schon Dschingis Khan habe vom Wolf gelernt, Kriege zu führen, sagt der weise Alte Bilig (Basen Zhabu), dessen Sippe Chen zugeteilt wird. Der junge Chinese tritt als Lernender nomadischer Sitten und Gebräuche auf, galoppiert mit Begeisterung durch die Natur. Einmal sieht er sich plötzlich umkreist von Wölfen, die schon die Reißzähne blecken, sich mit den Zungen übers Maul lecken und vorfreudig zu speicheln beginnen. Chen aber kommt noch mal davon und wird dann bald Zeuge, wie das intelligente Raubtierrudel bei einbrechendem Winter auf Gazellenjagd geht, wie es dabei eine Strategie entwickelt und die Beute in einen zufrierenden See hetzt, sodass sie dort feststeckt als gekühlter Fleischvorrat für den Frühling.

Die Bilder wirken, als könne man in sie hineinreiten

Mit welcher Wucht Annaud solche Szenen inszeniert und mit welch epischer Erhabenheit er die Weite des Graslands und die großen Himmel geradezu zelebriert, das ist grandios. Ja, er hat dabei auch mit dem Computer nachgeholfen, aber er hat diese archaische Welt nicht komplett erfunden, sondern ist tatsächlich in die mongolische Steppe gereist und hat auch mit echten Tieren gearbeitet. Insgesamt überwiegt der Eindruck des Authentischen, wirken die Bilder also so, als könne man in sie hineinreiten. Und es gilt für diesen Film auch das, was der verstorbene Harry Rowohlt 1988 lobend über Annauds Drama "Der Bär" schrieb, man muss nur das eine Raubtier durch das andere ersetzen: "Wenn man also ins Kino geht, weil dort ein Film gegeben wird, der 'Der Bär' heißt, und man verspricht sich davon einen Film mit viel Bär, so ist man in 'Der Bär' im richtigen Film. Bär satt." Und nun also: Wolf satt.

Aber das Leben im Einklang mit der Natur geht in diesem Film zu Ende, aus Weideland werden Felder, und jene Nomaden, die sich nicht zu Bauern umerziehen lassen, verlieren ihren Lebensraum. Ein Verdrängungsprozess, dem auch der Wolf zum Opfer fällt. Aus Peking kommt der Befehl, alle Welpen des Rudels töten zu lassen, und dann rücken auch noch die Bauern mit ihren Traktoren aus und ziehen die gefrorenen Gazellen aus dem See, um sie sich selber einzuverleiben. So rast das hungrige Rudel in seinen letzten Kampf, attackiert nachts einen Pferch mit Militärpferden, richtet ein großes Blutbad an – und wird dann unerbittlich per Jeep gejagt. Ein Wolf aber, der letzte des Filmtitels, ist noch da. Es ist der, den Chen als Welpe aus einer Höhle gerettet und trotz aller Warnungen aufgezogen hat. "Gute Nacht, du kleiner Volksfeind!", sagt er mal zu dem kleinen Tier, das aber großes Aggressionspotenzial hat und Chen sogar beißt. Nein, einen Wolf kann man nicht wirklich zähmen, das wissen die Nomaden, und das muss am Ende auch Chen akzeptieren.

"Schreib über uns, wie wir wirklich sind, denn die Geschichte der Mongolen haben unsere Feinde geschrieben", fordert Bilig. Chen respektive Lü Jiamin hat diesen Wunsch erfüllt, sein in China immens erfolgreiches Buch gilt dort als großes Inititationswerk in Sachen Natur und Ökologie. Aber ist diese Geschichte nun pro oder kontra Wolf? Falsche Frage. Der Film blickt ja zurück auf die letzten Tage einer Welt, in welcher der Wolf noch seinen natürlichen Platz hatte, die heute aber nicht mehr existiert – nicht in der Mongolei und schon gar nicht in Deutschland. Zudem nähert sich Annaud diesem Tier nicht nur dokumentarisch, der Wolf ist für ihn nicht einfach ein Wolf, sondern auch ein mythisches Wesen. Und dieser Mythos Wolf zieht sich über die Jahrhunderte hinweg durch Erzählungen in all jenen Ländern hindurch, in denen er zu Hause war oder ist.

Die Angst vor dem Wolf ist größer als die vor dem Wildschwein

Der gute Wolf zum Beispiel war Pate der Stadt Rom, er hat die Stadtgründer Romulus und Remus gesäugt. Der böse oder jedenfalls gefährliche Wolf, der mehr ist als bloß ein Tier, kommt weitaus häufiger vor, auch im Kino. In Joe Carnahans düsterem Thriller "The Grey" (2012) werden Überlebende eines Flugzeugunglücks von Tieren gejagt, die wie die schwarzen Seelenschatten der Menschen wirken; in Neil Jordans psychoanalytisch aufgeladener Rotkäppchen-Variante "Die Zeit der Wölfe" (1984) wird das Raubtier als das aggressiv Maskuline gedeutet; in Rob Marshalls Filmmusical "Into the Woods" (2014) taucht dann Johnny Depp als lüsterner Wolf auf; und in Mike Nichols modernem Horrorfilm "Wolf" (1994), in dem Jack Nicholson als zurückhaltender Verleger nach einem Tierbiß alle Hemmungen verliert – auch die sexuellen! –, verrät schon der Zusatztitel, worum es geht: "Das Tier im Mann." Dieses heulende Aus-der-Haut-Fahren des zum Werwolf werdenden Mannes! Der Trieb, die Gier und die Gewalt, eben das ganze Antizivilisierungsprogramm! Der Wolf ist in diesen Filmen oft auch ein erotisch konnotiertes Tier, das so etwas wie Lust an der Angst auslöst.

Um nun den Bogen zurück zur Wiedereingliederung des realen Wolfs in Deutschland zu schlagen: Auch wenn der Nabu sich ganz sachlich geben will, hat er es in dieser Diskussion doch mit Emotionen zu tun, die so alt und sozusagen eingesessen sind, dass sie nicht einfach durch banale Aufklärung verschwinden. Auch wenn die Begegnung mit einem Wildschwein gefährlicher sein mag als die mit einem Wolf: Die Angst vor dem Wolf ist größer. Was zur Frage führt: Steckt in dem Willkommensgruß an den Wolf nicht auch die romantische Vorstellung, Deutschland wieder zum Sagen- und Märchenland zu machen? Anders gefragt: Ist der Wolfswunsch für den Nabu, der zwischen Tieren eigentlich nicht werten will, nicht doch ausgeprägter als der nach der Wiedereingliederung irgendeiner verdrängten Stechmückenart?

Aber bevor es nun polemisch wird, noch ein praktischer Tipp: Sollten Sie, liebe Leser, dem ersten Wolf in Baden-Württemberg begegnen, dann verhalten Sie sich nach Nabu-Rat folgendermaßen: "Beobachten Sie das Tier ruhig. Wenn Sie sich unwohl fühlen, richten Sie sich auf und machen Sie sich groß. Lautes Rufen oder Klatschen kann den Wolf vertreiben. Ziehen sie sich langsam zurück und melden Sie Ihre Beobachtung an den zuständigen Wolfsberater oder an die zuständige Behörde im Landratsamt." In diesem Sinne: Ahuuuu!!!

 

Info:

In Deutschland kommt "Der letzte Wolf" am 29. Oktober in die Kinos. In Stuttgart läuft er im Delphi: Do-Fr um 15:15 und um 20 Uhr, Fr um 14:45 und um 20 Uhr, sowie Sa um 15:45 und 20:30 Uhr. <link http: kinofinder.kino-zeit.de programmsuche external-link-new-window>Welches Kino in Ihrer Nähe den Film zeigt, finden Sie hier. 

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1 Kommentar verfügbar

  • Blender
    am 28.10.2015
    Antworten
    @Die Angst vor dem Wolf ist größer als die vor dem Wildschwein

    Vor Wildschweinen muss man auch keine Angst haben. Unvermittelt stand am Wegesrand (Schönbuch) eine Rotte mit mehreren ausgewachsenen Wildschweine mit Frischlingen (insg. ca. 20 Tiere) 10 Meter von mir entfernt. Sie trotteten…
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