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"Sauf, du Sack!"

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Der 170. Cannstatter Wasen geht diesen Sonntag zu Ende. Passend dazu hat die Tübinger Kulturwissenschaftlerin Claudia Bosch Bierzelte beforscht. "Fest und flüssig" heißt ihre Ethnografie – 340 Seiten über Reihentanz und Komasaufen. Für Kontext hat sie ihre Forschungsergebnisse skizziert. Na denn prost.

Schunkeln, Polka, Dirndl, Lederhose – "volkstümlicher" könnte man sich die Bierzeltausgelassenheit kaum vorstellen, die diesen Herbst einmal mehr auf dem Cannstatter Volksfest zelebriert wird. Allabendlich besingen Tausende die Gemütlichkeit, die Stuttgarter Bierzelte gleichen überdimensionierten Bauernhöfen, die eher auf einer Alm stehen könnten als in unmittelbarer Nähe zu Gaskessel und Stadtautobahn.

In wissenschaftlichen Abhandlungen zum Volksfest ist immer noch von Erlebnisfolklore, behäbigem Schunkelbrüdertum oder stereotypen Kameradschaftsabenden zu lesen. Dabei ist die Realität mittlerweile ganz anders.

Vielfältige Inszenierung uniformen Ausdrucks

Feierpraktiken sind lebendig, und sie modifizieren sich fortlaufend. So ist seit dem ersten Volksfest 1818 die Huldigung des Württemberger Königs verschwunden und das schwäbische Landwirtschaftsfest ins Abseits gerückt. Stattdessen zelebrieren heute jedes Jahr vier Millionen Besucherinnen und Besucher ein internationales, urbanes Spektakel. Kontinuitäten und Diskontinuitäten überlagern sich dabei.

Bestes Beispiel für einen Dauerbrenner in sozialer Veränderung ist das Lied "Ein Prosit der Gemütlichkeit": 1899 erschallte es zum ersten Mal im Zelt von Georg Lang auf dem Oktoberfest. 30 Jahre später gehörte es zum Standardrepertoire, und die Beliebtheit ist beim Festzeltpublikum bis heute ungebrochen.

Von Betreiberseite wird das "Prosit der Gemütlichkeit" sogar fest ins Programm eingeplant. Das kann bis zu 20 Mal oder mehr an einem Volksfestabend sein. Rein rechnerisch spielt dann eine Band alle 15 Minuten das Kurzlied und kurbelt – wie schon zu Langs Zeiten – den Bierumsatz an.

Darüber hinaus aber fördert das "Prosit", dass eine festive Gemeinschaft im Zelt entsteht. Eine kollektive Bierseligkeit, in der die Einzelnen im synchronen Singen, Anstoßen und Trinken aufgehen. Daran hat sich seit 1899 nichts geändert. Doch am Liedchen selbst ist die Zeit nicht unmerklich vorbeigegangen. Es ist ausgefeilter, wechselseitiger und komplexer geworden.

In Stuttgart wird so nicht nur "Zicke-Zacke, hoi, hoi, hoi" angehängt, sondern zum Frage-und-Antwort-Spiel von Bandleader und Mittelschiff gehören auch "Danke – bitte" (und umgekehrt), "Prego – grazie" oder "Sauft, ihr Säcke – sauf, du Sack". Die Entwicklung des Trinkliedchens reflektiert soziale Veränderungen des letzten Jahrhunderts. Das Wir ist pluraler und ausdifferenzierter geworden: ein Neben- oder Miteinander vielfältiger Inszenierung und uniformem Ausdruck.

Neue plurale Feierpraktiken? Motorisch anspruchsvolle Reihentänze!

Die Feiernden gehen zwar im größeren Ganzen auf, aber doch nicht unter. Das gilt sowohl für Dirndl und Lederhosen, die es heute in hundertfacher Ausführung, diversen Schnitten und Materialien gibt, als auch für das Tanzen im Festzelt. Einheitlichkeit und Ausdifferenzierung verschränken sich und lassen Raum für Individualität. Das "enge", uniforme Schunkeln ist auf dem Cannstatter Wasen "schon seit über einer Dekade passé", sagt ein Wasenwirt, und durch motorisch anspruchsvollere Reihentänze ersetzt.

Zum Titel "Komm, hol das Lasso raus" werden bis zu zwanzig verschiedene Bewegungen auf den Bänken durchgeführt. Dies geschieht synchron in der Masse, während die Feiernden dabei – anders als beim Schunkeln – unverbunden allein tanzen. Einzelne Gäste können so ihr körperliches Geschick zeigen, weil die Line Dances rhythmisch akzentuierter sind als das moderate Schunkeln, bei dem die Eigenständigkeit komplett verloren geht.

Das Schunkelbrüdertum ist also ein Relikt der Vergangenheit, sowohl hinsichtlich der Form als auch der Akteure, zu denen heute mehr Frauen denn je zählen. Von aufgesetzter oder unechter Traditionspflege keine Spur, vielmehr bedienen sich die neuen pluralen Feierpraktiken der alten Muster. Sozusagen wird "Neues in Altes" gefüllt: Die Line Dances erinnern an Massenfreiübungen, wie sie Turner in den 1920er–Jahren machten. Oder Altes geht in Neuem auf: Das Lied von der "Wanderlust des Müllers" wird mit dem Festzelt-Hit "Allee, Allee" vermischt, zum Prosit ein "Grazie" gefügt, und Frauen in Lederhosen singen lauthals "Y-M-C-A" und vollführen einen internationalen Reihentanz. Dort, wo vor zwanzig bis dreißig Jahren ab und zu Blasmusik zum Besten gegeben wurde, erklingen heute englische Hits (wie "Highway to Hell" von AC/DC) und deutsche Schlager (sei es "Atemlos" oder "Sie hatte nur noch Schuhe an").

Soziale Beziehungen werden auf- und umgebaut, wenn die Anwesenden zusammenrücken, gemeinsam das "Prosit der Gemütlichkeit" proklamieren und sich betrinken. Die Feiernden werden zu einem Wir. Diese Gemeinschaft bezieht sich nicht nur auf das Zelt, sondern sie verortet sich im symbolischen Raum der Heimat und gesellschaftlich in der Gegenwart.

Auf das Hier und Jetzt verweist der anglisierte Sprachgebrauch, wenn von einer Party in den Zelten und weniger von einem Fest gesprochen wird. Mit Gaydelight, einem schwul-lesbischen Festzeltabend, der allen offensteht (die schnell genug reservieren), präsentiert sich das Stuttgarter Festzelt als Ort einer inklusiven und integrativen Feierkultur. Internationale Musiktitel, zusammen von Einheimischen und ausländischen Touristen gesungen, verhindern einen Kameradschaftsabend. In der heißen Phase ist im Mittelschiff die Gemeinschaft grenzenlos – um dazuzugehören, muss man nur dabei sein.

 

Claudia Bosch promovierte in empirischer Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen über das Feiern im Festzelt als Cultural Performance. Sie lebt mit ihrer Famile an der US-Ostküste, wo sie Soziologie lehrt.

Info:

Mehr ist in der <link http: tvv-verlag.de publikationen fest-und-fluessig-das-feiern-im-festzelt-als-cultural-performance _blank external-link-new-window>Ethnografie "Fest und flüssig. Das Feiern im Festzelt als Cultural Performance" zu lesen. Erschienen ist die Bierzelt-Forschung bei TVV. Das Buch kostet 25 Euro.


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4 Kommentare verfügbar

  • by-the-way
    am 10.10.2015
    Antworten
    @ Philippe Ressing

    Sie beschreiben die erbärmlichen Zustände exakt!
    Das ist schon beängstiend, wie sich die Leute verhalten.

    Noch beängstigender war allerdings ein Erlebnis am "Tag der Deutschen Einheit" in Stuttgart 2013":

    ich stand, mit einigen anderen Stuttgart21-Gegnern vor der…
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