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Wohnen statt unterbringen

Wohnen statt unterbringen
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Flüchtlinge werden zuerst in Sammelunterkünften von der Gesellschaft isoliert, in die sie sich anschließend integrieren sollen. Das muss nicht sein, meint Andreas Konrad, der über die geplante Erstaufnahmeeinrichtung in Freiburg seine Diplomarbeit geschrieben hat.

Es war Lothar Späth, der sich 1980 so über die heutige Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) in Karlsruhe äußerte: "Die Zahl der Asylbewerber ist erst gesunken, als die Buschtrommeln signalisiert haben: Geht nicht nach Baden‐Württemberg, dort müsst ihr ins Lager." Das erste Asylanten-Sammellager, wie die Einrichtung damals genannt wurde, machte bundesweit Schule als Abschreckungsmaßnahme. Flüchtlinge, die heute von Lagern sprechen, übertreiben nicht: Die Sammelunterkünfte sollten von Anfang an diese Assoziation wecken.

Andreas Konrad hält das für falsch. Er ist einer von fünf jungen Architektinnen und Architekten, die dieses Jahr im Fachgebiet Stadtquartiersplanung am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) über die geplante neue LEA in Freiburg ihre Diplomarbeit geschrieben haben. Ihr Professor Markus Neppl stellte ihnen folgende Aufgabe: "Es ist zu überprüfen, ob diese vermeintlich schnelle und günstige Lösung an diesem Standort sinnvoll ist. Es ist infrage zu stellen, ob der bisherige oft pragmatische Umgang der Politik in der Flüchtlingsaufnahme langfristig mit den städtebaulichen Zielen in den Stadtquartieren vereinbar ist."

Konrad hat sich die bestehenden Erstaufnahmeeinrichtungen in Karlsruhe, Mannheim, Meßstetten und Ellwangen angesehen. Nur die überbelegte LEA in Karlsruhe wurde eigens für diesen Zweck gebaut. Fast alle anderen sind ehemalige Kasernen, in der Regel weit vom Stadtzentrum entfernt oder wie in Ellwangen durch einen Zaun und die Lage des Eingangs von der angrenzenden Wohnbebauung getrennt.

Die im Freiburger Stadtteil Haslach geplante Aufnahmeeinrichtung liegt nur zwei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Die bisherige Polizeiakademie sieht allerdings auch aus wie eine Kaserne: In Reih und Glied stehen die nüchternen, dreigeschossigen Gebäude hinter dem stacheldrahtbewehrten Zaun. Dazu kommt, was Konrad als Insellage bezeichnet: "Trotz eigentlich städtischer Lage weist das Quartier", zwischen Bahndamm und einer vierspurigen Straße, "Randlagencharakter auf". Wie es aussieht, wird das Viertel vorwiegend von Autofahrern aufgesucht.

Integration vom ersten Tag an

Unmittelbar neben der zukünftigen LEA befindet sich die 1951 erbaute ECA-Siedlung (Economic Cooperation Administration). Die städtische Wohnungsgesellschaft Stadtbau will abreißen, die Mieter protestieren, die Stadt Freiburg hat eine Bewertungskommission eingesetzt. "Bedingt durch die Einrichtung der Landeserstaufnahmestelle (LEA) auf dem Gelände der Polizeiakademie steht das Areal auf absehbare Zeit nicht für den Wohnungsbau zur Verfügung", steht im Protokoll der Kommission vom 12. März 2015. Flüchtlinge sollen untergebracht werden, aber nicht wohnen. Diese den Erstaufnahmestellen zugrunde liegende Logik hat sich die Kommission unreflektiert zu eigen gemacht.

Andreas Konrad hält nichts davon, Flüchtlinge zu kasernieren und von der Gesellschaft abzuschotten. Er möchte die "Integration in der Gesellschaft schon vom ersten Tag an ermöglichen". Er kann sich durchaus vorstellen, auf den obligatorischen Stacheldrahtzaun zu verzichten, der vorgeblich dem Schutz der Flüchtlinge dient, nach außen hin aber suggeriert, dass von ihnen eine Gefahr ausginge. Denn: "Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Wahl eines Gebäudes und der Akzeptanz, Duldung oder Ablehnung der darin lebenden Personen." Konrads Analyse deckt sich mit derjenigen der Architektenkammer Baden-Württemberg, deren Präsident Markus Müller kürzlich einen "Perspektivenwechsel in der Flüchtlingsunterbringung" gefordert hat.

"Zuwanderung hat Tradition", stellt Müller fest. In der Tat hat die Zahl der Neuankömmlinge zwar akut stark zugenommen: Bereits im Juli war das Niveau des Vorjahrs erreicht, Tendenz steigend. So viele waren es zuletzt nach der Wende um 1990, als jährlich bis zu 90 000 so genannte Spätaussiedler und 50 000 Asylsuchende, vorwiegend aus den Balkanländern, nach Baden-Württemberg kamen. Doch auch vorher hat es eine beständige Zuwanderung gegeben: Der Zuzug der "Gastarbeiter" war ökonomisch gewollt. Dass sie nach getaner Schuldigkeit in ihre Heimatländer zurückkehren sollten, erwies sich als weltfremd.

Aus Sicht der Wirtschaft, die nach qualifizierten Arbeitskräften und Auszubildenden sucht, sind die heutigen Migranten ebenfalls erwünscht. Im Vergleich zur Nachkriegszeit sind es immer noch wenige: So soll die Stadt Esslingen bis Ende des Jahres 2015 ungefähr 900 Flüchtlinge aufnehmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste sie zeitweise 6000 Letten sowie dauerhaft 17 000 deutsche Ostvertriebene unterbringen.

Zum 65. Landesgeburtstag 65 günstige Wohnungen an 65 Standorten

Die Antwort war Wohnungsbau. "Das Problem der Flüchtlingsunterbringung deckt strukturelle Defizite des Wohnungsbaus auf", sagt der Präsident der Architektenkammer. Was fehlt, sind preisgünstige Wohnungen: Die Zahl der Rentner mit niedrigen Einkommen wird bald sehr stark zunehmen. Dazu kommen Studierende und Zuwanderer: "Die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum wird also dramatisch steigen. Dem steht ein strukturelles Defizit im Wohnungsangebot gegenüber." Wie Müller feststellt, "laufen die derzeitigen Finanzierungsmodelle für den sozialen Mietwohnungsbau ins Leere". Er betont: "Der Markt wird es nicht richten."

Der Vorschlag der Architektenkammer: Das Land soll bis zum 65. Landesgeburtstag im Jahr 2017 an 65 Standorten jeweils 65 kostengünstige Wohnungen schaffen und dabei auf die Unterscheidung zwischen Wohnbauförderung und Wohnraum für Flüchtlinge verzichten. Müller setzt auf "städtebauliche Prozesse mit Wettbewerben unter Einbeziehung der Freiräume" und eine "Nachbarschaftsorientierung als Ökonomie der Genügsamkeit und des Teilens". Er will einen Perspektivwechsel: "Wohnen statt Unterbringung."

Genau das ist es, was Andreas Konrad in seiner Diplomarbeit durchspielt: Er geht aus von den städtebaulichen Anforderungen an das Quartier, in dessen Entwicklung er die Flüchtlinge vom ersten Augenblick an einbeziehen will. Die zentrale Achse, die Lörracher Straße, möchte er zu einem "Stadtboulevard" ausbauen. Gleich nebenan befindet sich die angesagte Vaubansiedlung, ein Vorzeigebeispiel der Konversion, hervorgegangen aus einer französischen Kaserne: ökologisch vorbildlich, viele Häuser von Familien in Baugemeinschaften errichtet. Konrad schlägt vor, die Straßenbahnlinie, die derzeit dort endet, durch die Lörracher Straße in die Innenstadt zurückzuführen. 

Ohne öffentlichen Raum keine Begegnung

Im Moment ist das Gebiet um Lörracher Straße und Schildackerweg wenig attraktiv. Konrad sieht vor, entlang des Stadtboulevards weitere Läden anzusiedeln und die Gewerbenutzung zu intensivieren. So könnte das Quartier auch Bewohner angrenzender Areale anziehen.

Ohne öffentlichen Raum gibt es keine Begegnung. Und ohne Begegnung keine Integration. Wichtig sind auch Schulen, Kulturinstitutionen und Sportvereine. Gerade in solchen Einrichtungen können Flüchtlinge ohne Arbeitserlaubnis eine erste Betätigung finden. In dem Gebiet gibt es einige Sportvereine; es gibt ein Kunst-Ausstellungshaus, das Morat-Institut; es gibt die Haufe-Akademie für berufliche Weiterbildung. Einen zur Polizeiakademie gehörigen Sportplatz würde Konrad auf jeden Fall erhalten.

Schließlich, so stellt sich der Architekt in seiner Diplomarbeit die weitere Entwicklung vor, ließe sich die Bebauung sowohl auf dem Grundstück der Polizeiakademie als auch der ECA-Siedlung weiter verdichten: Durch Anbauten an die Kleinwohnungen erhöht sich die Wohnfläche. Der "muffige Charme der Kaserne" soll "in moderne Wohnungen transformiert werden". Breite Laubengänge dienen nicht nur als Erschließungsfläche: Sie sind Orte der Freizeitgestaltung und der Begegnung. Querflügel verbinden die anonymen Zeilen der Siedlung und der LEA zu offenen Höfen. Diese wachsen im Lauf der Zeit zu Nachbarschaften zusammen, deren Bewohner, Flüchtlinge oder nicht, sich mit dem Quartier, ihrem alten oder neuen Zuhause, identifizieren. Integration wäre keine Forderung mehr, die an die Asylanten gestellt werden muss. Sie entstünde aus der richtigen Planung. 


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4 Kommentare verfügbar

  • Kalle
    am 18.09.2015
    Antworten
    Warum verwendet ihr immer noch den Begriff "Asylanten" der ist diskriminierend?
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