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Ein Mann und eine Frau

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In Andrew Haighs "45 Years" durchleben Charlotte Rampling und Tom Courtenay eine schwere Ehekrise. Unser Filmkritiker Rupert Koppold über ein exzellentes Ehedrama.

Das englische Norfolk im Winter. Flaches Land mit braunen Äckern und kahlen Bäumen. Eine schlanke ältere Frau (Charlotte Rampling) in Stiefeln und mit Steppjacke geht mit ihrem Hund spazieren, begegnet dem jungen Postboten, der sie als "Mrs. Mercer" begrüßt, und sie antwortet ihm lächelnd: "Sagen Sie Kate zu mir, wir sind nicht mehr in der Schule!" Sie kehrt nun zurück in ihr großes, aber nicht protziges Landhaus, ein behaglich-solide eingerichtetes Heim mit vielen Bildern und Büchern. In der Wohnküche sitzt ihr Mann Geoff (Tom Courtenay) und liest Zeitung. Seine Haare sind grau und etwas struppig, die Stoppeln im Gesicht eher Zeichen für Rasierunlust als für modischen Dreitagebart. Überhaupt wirkt er ein bisschen älter, legerer und langsamer als seine Frau, aber keinesfalls verwahrlost.

Dieses kinderlose Paar hat sich nach dem Arbeitsleben gut eingerichtet in freundlicher Routine. Die pensionierte Lehrerin Kate fährt mit dem Wagen noch ins propere Städtchen und trifft ihre Freundin, der Exmanager Geoff, der sich trotzdem als Linker versteht, bleibt lieber zu Hause, weil ihn die Fragerei nach seinem Befinden ärgert. Bei seiner Frau lässt er sich fürsorgliche Kontrolle eher gefallen. Als er sich beim Versuch, das Klo zu reparieren, den Daumen einklemmt, wird er von ihr nachsichtig-liebevoll verbunden. In einer Woche feiern sie ihren 45. Hochzeitstag, eigentlich sollte dieses Fest schon zum vierzigsten Jubiläum steigen, aber da kam, man erfährt es in diesem subtilen Kammerspiel eher beiläufig, seine Bypass-Operation dazwischen. Nun scheint das Leben von Kate und Geoff wieder unaufgeregt und in geordneten Bahnen zu verlaufen. Bis ein Brief aus der Schweiz kommt und Geoff sagt: "Sie haben Katya gefunden!"

Und plötzlich ist in Andrew Haighs exzellentem Drama nichts mehr, wie es war. Denn Katya ist die Frau vor Kate, eine Deutsche, die vor fünfzig Jahren bei einer Gebirgstour mit Geoff in eine Gletscherspalte stürzte und deren Leiche das Eis erst jetzt freigegeben hat. Sie wird wohl noch immer so aussehen wie damals, vermutet Geoff, und eine Zeitlang erinnert "45 Years" nun an Johann Peter Hebels Geschichte "Unverhofftes Wiedersehen", in welcher eine alte Frau den konservierten Körper ihres jungen Bräutigams sieht und eine Liebe über den Tod hinaus spürbar wird. Nein, Geoff könne nicht in die Schweiz fahren, sagt Kate, er sei nicht mehr fit genug für die Berge – und er akzeptiert das. Dennoch reißt in dieser Ehe etwas auf, bricht Ungesagtes und Verschwiegenes hervor, schnurren Jahrzehnte zusammen, wird die Vergangenheit ganz gegenwärtig. "Hättest du sie geheiratet?", will Kate wissen, als sie nebeneinander und nun doch jeder für sich im Bett liegen. Er mag die Frage nicht, aber sie insistiert, und so sagt er doch das Wort, das sie fürchtet: "Ja."

War Kate nur zweite Wahl? Sind 45 Jahre Ehe plötzlich wertlos geworden? Sie ist irritiert, sie ist erschüttert – und eigentlich zu intelligent, um rückgreifend eifersüchtig zu sein. Doch sie kann ihre Gefühle nicht unterdrücken, dieses andere und imaginierte Leben von Geoff will für Kate einfach nicht im Konjunktiv bleiben, es wird zum emotionalen Präsens. Das Fundament einer Ehe beginnt zu bröckeln – auf sehr spannende und doch eher stille Weise. Nein, hier werden die Konflikte nicht als skandinavisches Schreiduell à la Bergman ausgetragen, hier werden auch nicht schwitzig-exzessiv Lebenslügen aufgedeckt wie bei Tennessee Williams oder Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?". Es bebt hier ja in der wohltemperierten englischen Mittelschicht, die über ein großes Arsenal gefühlsdämpfender Manieren verfügt. Immerhin: Der aufgewühlte Geoff fängt wieder zu rauchen an, erst nur eine Zigarette und nur im Garten ("Nimm's mir nicht übel!"), später sogar im Auto und mit Kate am Steuer. Aber er sagt auch: "Ich bin müde." Und sie antwortet: "Ich bin auch müde."

"Ich denke oft, dass es bei der Melancholie, die wir angesichts der Vergangenheit empfinden, eher um die Enttäuschungen und das Versagen in der Gegenwart geht", sagt der Regisseur Andrew Haigh, der auch das Drehbuch geschrieben hat. "45 Years" ist ein Film mit älteren Menschen, aber kein Film über das Alter. Oder höchstens in dem Sinne, dass Kate und Geoff nicht mehr so viele Jahre vor sich haben. Wie kostbar hier die Zeit ist, zeigt sich gerade daran, dass die Inszenierung sie quasi verlangsamt. In langen, konzentrierten Einstellungen entfaltet sich dieses Drama und lässt dabei Details und Nuancen spür- und sichtbar werden, die sonst schnellen Schnitten zum Opfer fallen. Dass der Regisseur auch bei den Dialogen auf das Schuss-Gegenschuss-Verfahren verzichtet, die Protagonisten lieber gleichzeitig erfasst oder zwischen ihnen hin- und herschwenkt, kann natürlich nur mit guten Schauspielern funktionieren. Und Charlotte Rampling und Tom Courtenay, beide bei der Berlinale ausgezeichnet, sind großartig!

Schon in den Sechzigerjahren sind Rampling und Courtenay zu Ikonen des britischen Kinos geworden, sie etwa in "Georgy Girl" als glamourös-erotisches Versprechen des Swinging London, er als Underdog und proletarischer Rebell in "Die Einsamkeit des Langstreckenläufers". Hier sind sie beide so präsent, dass sie es nicht nötig haben, den Partner an die Wand zu spielen. Sie untertreiben ihre Kunst eher, gehen wunderbar aufeinander ein, bilden ein sorgfältig ausbalanciertes Duett. Und im Film bilden sie ein Paar, das sich vielleicht verlieren wird. Kate schleicht mal die wacklige Ausziehtreppe zum Dachboden hoch, in Geoffs Erinnerungsraum, in dem sie tatsächlich Dias mit Katya findet. Geoff selber, der sich manchmal fast greisenhaft bewegt hat, wirkt nun auf einmal wacher, aufmerksamer, spürt ihre Krise, tanzt mit ihr nachts, bis beide außer Atem sind und trotzdem die euphemistische Frage ausgesprochen wird: "Gehen wir nach oben?" Und am Ende wird in dieser Zeit der Winterstürme noch ein Fest gefeiert, und Geoff muss eine Rede halten. Eine Rede, die den Bruch einer Ehe besiegeln könnte. Oder eine Rede, nach der Geoff und Kate mit verhaltenem Optimismus weiterleben könnten.

 

Info:

In Deutschland kommt "45 Years" am Donnerstag, 10. September, in die Kinos. In Stuttgart läuft der Film im Atelier am Bollwerk um 17.45 und um 20.45 Uhr, am Sonntag nur um 17.45 Uhr. Welches Kino in Ihrer Nähe den Film zeigt, <link http: kinofinder.kino-zeit.de programmsuche external-link-new-window>finden Sie hier.

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