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Glückliche Gesichter

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"Kulturelle Bildung" steht als Schwerpunktthema im Koalitionsvertrag der südwestdeutschen grün-roten Landesregierung. Die Landesstiftung stellt sogar Geld dafür bereit. Eine Stuttgarter Künstlerinitiative fragt nun: Quo vadis, kulturelle Bildung?

Ulrike Stortz und Scott Roller sind projekterfahren. Ihr Schulprojekt Open_Music besteht seit 2005. Beide, sie Violinistin, er Cellist, sind profilierte Musiker auf den Gebieten der neuen und improvisierten Musik. Sie bietet Schulklassen und Schülern aller Altersgruppen und Schularten Gelegenheit, nicht nur Noten vom Blatt zu spielen, sondern sich selbst einzubringen. Seit 2008 bringen sie außerdem zusammen mit weiteren Künstlern aus Bereichen wie Tanz, Theater und bildender Kunst jährlich ein großes Programm mit oft weit mehr als 100 Schülern auf die Bühne. Der Titel: "Jetzt!" Ein großer Erfolg, der 2012 mit einer Auszeichnung der Initiative "Deutschland – Land der Ideen" sowie einer institutionellen Förderung vonseiten der Stadt Stuttgart honoriert wurde.

Auch die Politik ist an der kulturellen Bildung des Nachwuchses interessiert. Die Landesregierung hat sie sogar als Schwerpunktthema im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Via der Landesstiftung Baden-Württemberg stellte sie kürzlich sogar für die kommenden drei Jahre jeweils 400 000 Euro ab für kulturelle Bildung – für Schulen und Kultureinrichtungen. Zumindest über mangelndes Interesse am Thema an sich kann sich kaum einer beklagen.

In der Praxis sieht es derweil ganz anders aus: Das Projekt Open_Music droht von Mal zu Mal hinter das bereits Erreichte zurückzufallen. Arbeiteten Roller und Stortz anfangs vor allem mit Gymnasialklassen, wo viele Schüler bereits über beachtliche Instrumentalkenntnisse verfügten, so hatten Oberstufenschüler nach Einführung des achtjährigen Gymnasiums immer weniger Zeit, sodass an ihre Stelle zunehmend Grund-, Haupt- und Förderschulklassen traten. 

Hier sind Instrumentalkenntnisse eher die Ausnahme, selbst der normale Musikunterricht in der Schule fällt zu 80 Prozent aus. Grundschüler sind immerhin mit Begeisterung bei der Sache, während es sich mit Hauptschülern anders verhält: "Sie haben wenig Selbstachtung und können sich kaum vorstellen, etwas Positives auf die Bühne zu bringen", resümiert Ulrike Stortz ihre Erfahrungen. Man sieht es in den Gesichtern: Ein wenig geniert, sind sich manche am Tag der Aufführung immer noch nicht sicher, ob sie zu dem, was sie vorführen, stehen können. Wenn dann allerdings der Beifall aufbrandet, fühlen sie sich auf überwältigende Weise bestätigt.

Künstler werden zerrieben zwischen Anspruch und Realität

Allerdings ist damit für viele auch schon wieder alles vorbei. Für die Schüler verheerend, die mit ihrer einmaligen positiven Erfahrung nichts weiter anfangen können. Und für die Künstler unbefriedigend, wenn sie das Gefühl haben, nicht in ihrer Fachkompetenz als Künstler, sondern als Sozialklempner gefragt zu sein. Oder als Lückenbüßer für ausgefallenen Musikunterricht. Generell zerrieben zu werden zwischen Erwartungen und der Realität.

Erfahren, wie es anderen Künstlern geht, die in anderen Sparten arbeiten, und im von Kultur- und Bildungspolitikern dominierten Diskurs den Stimmen der Künstler Gehör zu verschaffen: dies war für Stortz und Roller die Motivation zur Gründung der Initiative "Quo vadis, kulturelle Bildung?" 

Die beiden Musiker haben sich zum Ziel gesetzt, mit weiteren Künstlern aus anderen Disziplinen Erfahrungen auszutauschen und Kriterien zu entwickeln, wie kulturelle Bildung gelingen kann. Beteiligt sind an der Initiative unter anderem die Choreografin Nina Kurzeja, die auch schon an "Jetzt!"-Programmen mitgewirkt hat, die Schriftstellerin Sudabeh Mohafez, die Schauspielerin Ismene Schell, die Tänzerin Sonia Santiago-Brückner und der Künstler Tobias Ruppert.

2013 hat das Projekt begonnen und endet im Sommer 2015. Bis dahin erarbeitet die Künstlergruppe Vorschläge, unter welchen Bedingungen kulturelle Bildung für alle Seite zufriedenstellend vermittelt werden kann. Zum Projekt gehören Pilotprojekte mit zwei Schulen. Außerdem haben sie externe Experten eingeladen, um Impulse und Ideen zu sammeln: Felix Ensslin war da, Professor an der Stuttgarter Kunstakademie. Er wies auf die Rolle hin, die Künstlern als Kreativen in der neoliberalen, flexibilisierten Arbeitswelt zugesprochen wird. Eingeladen war auch Eckart Liebau, der Vorsitzende des Rates für kulturelle Bildung, eines bundesweiten Beratungsgremiums mit Sitz in Essen.

"Anders als bisher müssen in diesem Prozess auch die den Künsten eigenen Wahrnehmungs- und Ausdrucksweisen als besondere Qualitäten auf allen Ebenen mitgedacht werden", heißt es im ersten Bericht des Rates: Wasser auf die Mühlen der Initiative. Denn in der Praxis erleben die Künstler immer wieder, dass sie in der Ganztagsschule nur die Nachmittagsstunden angeboten bekommen, wenn die Schüler zu nichts zu gebrauchen sind. Lehrer bekommen sie oft kaum zu sehen. Im Extremfall stellt sich die Frage nach dem Sinn des eigenen Tuns. Was ist denn kulturelle Bildung eigentlich? Und wie muss sie aussehen?

Viele Akteure teilen sich in diesem Bereich das Feld: Schulen, Museen, Theater, Orchester, Künstler aus verschiedenen Sparten und viele andere mehr sind im Bereich der kulturellen Bildung tätig. Sie haben sich an verschiedenen Orten zu Netzwerken zusammengeschlossen: in Hamburg, der Oberlausitz, in Freiburg oder Berlin. Plätze für ein freiwilliges soziales Jahr vermittelt in Baden-Württemberg die Landesvereinigung kulturelle Jugendbildung. Es gibt bereits seit 1986 eine Bundesakademie und seit zwei Jahren einen Rat für kulturelle Bildung.

Dieser hat soeben unter dem Titel "Schön, dass ihr da seid!" eine zweite Denkschrift herausgegeben: "eine sehr gute und stets auch gut lesbare Darstellung von Theorie, Politik und Empirie", wie Max Fuchs, der langjährige Präsident des Deutschen Kulturrats, meint. Das klingt auf den ersten Blick gut. Aber der Teufel steckt wie immer im Detail.

Spagat zwischen sozialer Abgrenzung und Qualität

Denn Kultur ist ein schwammiger Begriff, der oft direkt zu handfesten Streitfragen führt. "Kultur" kann sehr elitär sein, wenn die "Hochkultur" gegen die "Kulturindustrie" Front macht. Eine zweischneidige Diskussion, denn es geht auf der einen Seite um Qualitätsansprüche, auf der anderen um soziale Abgrenzung. Der Begriff der Kultur wird aber auch auf Herkunftsgemeinschaften angewendet, die eben "verschiedenen Kulturen" angehören. In der Vision einer "multikulturellen Gesellschaft" sollten diese friedlich miteinander auskommen. Unterschiedliche Auffassungen von Kultur wirken sich auch auf das Konzept der kulturellen Bildung aus. Sollen Menschen "mit Migrationshintergrund" sich an die deutsche "Leitkultur" anpassen oder in ihren eigenen kulturellen Äußerungen ernst genommen werden?

Dies sind Debatten von gestern, die allerdings in den letzten fünfzig Jahren einen erheblichen Lernprozess bewirkt haben und bis in die Gegenwart hineinwirken. Denn die sozialen und kulturellen Gegensätze sind nicht verschwunden. Der Begriff kulturelle Bildung erscheint, wenn man die Debatten verfolgt, fast wie ein Universal-Heilmittel, ein Mantra gegen alle einschlägigen Probleme.

Auf der einen Seite steht die Situation an den Schulen: Zum Fanal wurde 2006 der Fall der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln. An der Grund- und Hauptschule mit 90 Prozent Migrantenanteil meinten die Lehrer, nicht länger unterrichten zu können. Seit 2009 ist die Rütli-Schule Gemeinschaftsschule mit einem breiten, freiwilligen Nachmittagsangebot, darunter Computerkurse, Instrumentalunterricht und Theater. Das Motto lautet: "Eine Schule für alle! Kein Schüler bleibt zurück."

Der Ruf nach kultureller Bildung ertönt aber auch noch von ganz anderer Seite: Museen und Theater stellen fest, dass ihr Publikum immer älter wird. Junge Menschen, gleich welcher Herkunft, in ständiger Reizüberflutung aufgewachsen, können mit der bedächtigen Atmosphäre in einem Museum, mit einer rein akustisch vorgetragenen, differenzierten Musik häufig kaum noch etwas anfangen. Wenn nichts geschieht, so die Befürchtung, stirbt den Kultureinrichtungen ihr Publikum weg.

Und wo bleiben die Künstler?

Es ist also kein Zufall, dass das Programm der Landesstiftung zuerst Schulen und dann Kultureinrichtungen anspricht und ein neues, am Kulturamt der Stadt Stuttgart angesiedeltes Netzwerk kulturelle Bildung (kubi-s) sich bei näherem Hinsehen als Zusatzangebot des museumspädagogischen Diensts (mupädi) erweist. Der Rat für kulturelle Bildung definiert diese allerdings als "Allgemeinbildung in den Künsten und durch die Künste." Bildung durch die Künste: das will wohl besagen, dass sich die Schüler selbst künstlerisch betätigen und dabei von Künstlern betreut werden. Zwischen Bildungseinrichtungen und Kulturinstitutionen, wo bleiben da die eigentlich Agierenden, diejenigen, auf denen die Hoffnung ruht, alle angesprochenen Probleme zu bewältigen: die Künstler? 

"Quo vadis" möchte ihnen eine Stimme geben. 

Bis dahin droht aber schon von anderer Seite Gefahr, denn es geht das Gerücht um, dass die Künstler künftig vorher ihre pädagogische Befähigung nachweisen sollen. Die an der Initiative Beteiligten sind seit Jahren erfolgreich in diesem Bereich tätig – aber nicht alle haben einen Pädagogik-Schein. Ein bürokratisches Monster, das die "den Künsten eigenen Wahrnehmungs- und Ausdrucksweisen" zu nivellieren droht? Die "Quo vadis"-Künstler wollen auch Qualitätskriterien zu entwickeln. Doch wie misst man den Erfolg eines Schulprojekts? "Der Nachweis", sagt Sonia Santiago-Brückner, "sind die vielen glücklichen Gesichter."

 

Am 11. November lädt die Initiative erstmals zu einer <link http: open-music.eu _blank>öffentlichen Veranstaltung im Ost, der Spielstätte der freien Szene. Angesprochen sind Künstler, die in der kulturellen Bildung arbeiten, und alle am Thema Interessierten. Nach einem Statement vonseiten des Kulturamts und einem Vortrag von Scott Roller über seine zwanzigjährigen Erfahrungen wird es verschiedene kleinere Workshops mit den beteiligten Künstlern geben. Wegen der begrenzten Platzzahl wird um Anmeldung gebeten. 

Kulturelle Bildung – wo stehen wir? 11. November 2014, 17.30–21.30 Uhr Ost – freie Szene im Depot, Landhausstr. 188/1, Stuttgart. Anmeldung unter: ninakurzeja@web.de.


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3 Kommentare verfügbar

  • Kornelia
    am 05.11.2014
    Antworten
    Es gibt mehrer fiese Krankheiten in dieser Gesellschaft: Fassadendemokratie, Empathie-Mangel und Projekteritis- und StatistikeritisDiarrhö!!!
    und die viele social responsibillityScheinfassaden!!

    Einerseits wird im Sozialen also Geld gespart wo nur geht und dann "kostengünstig" mit ein bisschen…
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