KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Vagabunden des Protests

Vagabunden des Protests
|

Datum:

Sie haben in Hamburg einen Schattensenat aus Flüchtlingen zusammengestellt. Sie haben in Madrid die Demos gegen Enteignung begleitet. Nun suchen die beiden Künstlerinnen Wanja Saatkamp und Tanja Krone in Stuttgart das Widerborstige, den Stachel, das Echte.

Tanja Krone und Wanja Saatkamp sind Wanderinnen. Unterwegs, überall, um aus der Welt das Authentische herauskratzen und es der Bürgerschaft als appetitliches Soufflé zu servieren. In Berlin hat Wanja Saatkamp "Das Supermenü" aus Schulkantinenküchen gekürt, in Hamburg einen Schattensenat aus Flüchtlingen entworfen, Tanja Krone hat mit russischen Kindern Songs über Glaube, Liebe, Hoffnung und die Phantasmen der Jugend gedichtet, in Südafrika hat sie für das Goethe-Institut die Frage gestellt: "Wie wollen wir eigentlich leben?" Zwei bunte Frauen, 37 und 39 Jahre alt, die eine mit grün-grau mellierter Strickmütze und Parka, die andere mit buntem Schal, zerzausten schwarzen Haaren und ebenso schwarzem Mantel. Sie sind Theatermacherinnen, Drehbuchschreiberinnen, Performance-Künstlerinnen, Berliner Boheme. Und sie suchen das Widerborstige, den Sand im Getriebe.

Im Juni werden sie das Stuttgarter Theater Rampe, einen kleines und experimentelles Theater-Labor, mit dem "Vagabundenkongress 2014" besetzten. Sie werden "die Lücke" suchen. Den Ort außerhalb des Systems. "Und dann schauen wir, wie es dort ist", sagt Tanja Krone, sie kuratiert den Kongress. Wanja Saatkamp ist Partnerin und Projektmanagerin.

An einem gewöhnliche Donnerstag im März sitzen beide in einem Stuttgarter Café, trinken Pflaumenschorle mit Strohhalm in der Frühlingssonne. "Was", fragt Tanja Krone und rauft sich die kurzen, dunklen Haare, "machen so viele Leute an einem Mittwochnachmittag auf der Königstraße?" Und wenn man diese Frage verschriftlicht, sollte man das mitschwingende Entsetzen eigentlich mit fünf Fragezeichen versehen. Ja, was machen die da? "Sie sind die Rädchen", sagt Tanja Krone, "die Rädchen im System, damit das gut geschmiert ist, müssen alle shoppen gehen." In einer der Lebensadern dieser Stadt, die das Cholesterin in den Wirtschaftskreislauf zurückpumpt. Die Königstraße ist innersystemisch. Die Oberfläche. Die beiden bunten Frauen aber wollen an die Eingeweide. Sie wollen nicht von außen schauen, sondern von innen, sie wollen die Stadt umkrempeln und in eine Protestskulptur verwandeln. 

Tausende Landstreicher waren auf den Straßen unterwegs

Sie haben ihre Veranstaltung in der Rampe "Vagabundenkongress 2014" getauft, weil der hier schon einmal war, vom 21. bis zum 23. März 1929. Sie wollen eine Antwort finden auf die noch offenen Fragen aus den Zwanzigern.

Rund 600 Landstreicher und Künstler haben sich damals am Killesberg im Stuttgarter Norden versammelt. Sie sitzen langbärtig und rasiert, abgerissen und herausgeputzt im Gras und debattieren – über die Revolution, die Kunst, das Leben, das Elend. Hätte die Polizei eine weniger erfolgreiche Gegenpropaganda gestartet, wären es Tausende mehr geworden. Der Kongress ist der Höhepunkt einer Bewegung in der von Arbeitslosigkeit zerrütteten Weimarer Republik kurz vor der Weltwirtschaftkrise. Tausende Menschen sind auf den Straßen unterwegs, auf der Suche nach Arbeit und Unterkunft. Es sind Landstreicher, sogenannte Kunden, Menschen, die jahrhundertelang verfolgt wurde, sozial Ausgestoßene.

In Bad Urach treffen sie sich, in Balingen und Stuttgart sind die Zentren der Wandernden. Arbeitslose zuerst, Gelegenheitsdiebe Huren, Säufer und Gesindel, dann freiwillig Sinnsuchende, Künstler, Dichter, die in der Matrix des Vagabundierens eine Protestform und oftmals sich selbst finden. Wie viele es waren, weiß keiner so genau, einige Chronisten dieser Bewegung behaupten, es seien irgendwann 450 000 gewesen, die über und durch die Straßen zogen.

Ihr "König" wurde Gregor Gog, aus der Kriegsmarine geworfen wegen Meuterei und antimilitaristischer Propaganda, Gärtner in Pforzheim, dann Reisender, zeitweilig sesshaft in Stuttgart-Degerloch, Anarchist, Freidenker. 1927 gründete er mit einem Künstlerkolleg die "Bruderschaft der Vagabunden".

Ein Jahr später wird er Herausgeber der Zeitschrift "Der Kunde". Blassgrüne, rote und blaue Heftchen, die in Notunterkünften, Pennen und Arbeitsämtern von Hand zu Hand derer gingen, die durch das Netz der Gesellschaft gefallen waren. "Kunde sein heißt: erlösungsdurstig auskosten Schmerzen und Wonnen des Verstoßenseins. ... verstoßen und doch auserwählt, Bettler und König zugleich", schreibt er in Nummer eins.

Die Vagabunden als Vorkämpfer für eine bessere Zukunft

Wandernde Dichter schreiben für den "Kunden", Literaten und normale Landstreicher. Beschwerden über unverschämte Herbergsleute, geizige Wohlfahrtsämter, Lieder und Gedichte von der Straße für die, die auf und mit ihr leben, zwischen Boheme und Selbsterhalt. Austausch und Plattform. Der Kunde soll "den Widerstandswillen gegen die verrottete Gesellschaft stärken". Gog sucht die Herausgefallenen, für ihn sind sie die Vorkämpfer einer neuen Zukunft, aus Gescheiterten sollen Streikende werden. Für das Wahre, Echte, außerhalb des Systems, das sie zwingen will. Das Vagabundieren wird Protestform. Und Gregor Gog, der "König der Vagabunden", versucht, die Massen auf der Straße zu einer gesellschaftlichen Gegenbewegung zu bündeln. Mit Erfolg.

Der erste Vagabundenabend findet in Stuttgart statt am 14. April 1928 und ist so erfolgreich, dass welche in Berlin, Mannheim, Hamburg und Dortmund folgten. Die Kunden sind in ganz Europa unterwegs. Die Anarchisten finden Gefallen an den Umherschweifenden und die Umherschweifenden an den Anarchisten.

Gregor Gog schafft auf der Straße eine Gemeinschaft, eine geistige "Herberge für alle" in der heimatlosen Vagabondage. Ein Besetzten der öffentlichen Wege und Plätze mit einer neuen Lebensform, einer neuen Gegengesellschaft, die das Echte, das wahre Leben außerhalb aller Zwänge gefunden zu haben scheint. Die Lücke im Damals, die Tanja Krone und Wanja Saatkamp im Heute suchen.

Drei Wochen lang. Mit Künstlern aus Belgien, Ägypten und Rumänien, sie werden singen, tanzen, diskutieren, an Installationen arbeiten, an Performances, mit und ohne Publikum, diskutieren mit einer Reihe eingeladener Wissenschaftler, tags und nachts, mit Künstlern und Bürgern, Musik, Film, Video, drinnen und draußen in der Stadt, sie werden durch Stuttgart ziehen und Kaffeekränzchen in den S-Bahnen veranstalten und über die Königstraße mit ihren eifrigen Einkäufern schwindlig tanzen.

Was können Kunst und Protest heute noch erreichen? 

Die beiden Frauen sind im Moment dabei, sich zu vernetzen mit dem widerborstigen Stuttgarter, mit PlentyEmpty, die Räume zur Zwischennutzung anbieten, oder mit den White Rabbits, einem Haufen Hasen für die urbane Alternativkunstszene. Den  Bewegungen gegen das Establishment. Mit all denen wollen sie eine Antwort verfassen auf die Streitschrift von Gregor Gog, das Manifest der Vagabundenbewegung, das Fundament des Vagabundenkongresses 1929: "Was will die Bruderschaft der Vagabunden?" Und: Was kann sie heute erreichen?

Denn die Formen des Vagabundierens haben sich verändert, sie wurden zu Flucht, Migration, Heimat- und Obdachlosigkeit. Die Mobilität, die einmal Boheme war, ist heute geforderter Alltag. Wo ist Heimat? Wo ist die Position, in der der Mensch nicht vereinnahmt wird? Braucht es Krise, um die Lücke zu finden? 

Die Krise ist draußen an den Grenzen zu Deutschland. Mit der Band Maiden Monsters hat Tanja Krone die Krise in Europa dokumentiert Tag 8, Madrid, Demo gegen Enteignung, zwischen Mengen von leer stehenden Häusern. Welchen Profit bringen leere Häuser? Und die Krise kommt übers Meer: Wanja Saatkamp hat vor Kurzem ein Projekt gemanagt: einen Schattensenat für Hamburg aus gestrandeten Flüchtlingen aus Ghana, Burkina Faso und Mali. "Ist Europa das lang ersehnte Paradies, eine Beauty-Queen, ein sexy Dream oder doch eher die Bitch, die nur auf Diamanten und Kupfer aus ist?" Manchmal sind es gerade die schlichten Fragen, die schwer zu beantworten sind. Sie werden gestellt im Juni im Theater Rampe, wenn es zur Protestskulptur wird, zur Lücke im System, zur Nullebene.

Auf die Krisen müsse man ein Auge haben, sagt Tanja Krone.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!