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Auf der Straße

Vampire

Auf der Straße: Vampire
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Überall in den Straßen rieche ich verbrannte Erde. Womöglich hat es in diesem K.-o.-Schweißtropfen-Sommer noch weniger Sinn als sonst, sich an seinen Computer zu setzen und etwas aufzuschreiben. "... im Sommer hat ein Mensch mit einer minimalen Restsensibilität sowieso kaum eine Überlebenschance", notierte mal der Schriftsteller Franz Dobler in einer Story mit dem richtungsweisenden Titel "Doof".

Ich will nicht ganz so weit gehen wie der Franz, der in seiner Geschichte bereits beim Blick auf einen Biergarten an Selbstmord und Mord denkt. Auch wenn ich dazu mehr Recht hätte als er. Als er "Doof" geschrieben hat, gab es weder Corona noch den Krieg in der Ukraine, es war einige Jahre vor der AfD-Gründung und lange vor dem Sommerdrama der deutschen Fußballerinnen. Mit etwas Glück hat damals noch nicht jeder Biergartenrülpser Killerfantasien ausgelöst.

Tatsache aber ist, dass auch meine Überlebenschance in diesem Sommer sinken, womit ich nicht großkotzig behaupten will, über eine minimale Restsensibilität zu verfügen. Es ist drei Uhr morgens, als mich wildes Geraschel in meinem Schlafzimmervorhang weckt. Scheiße, sage ich, ihr doofen Nachtfalter werdet immer doofer und fetter. Das beeindruckt sie aber nicht, weshalb ich mich aus dem Bett quäle.

Stuttgart ist seit jeher ein Fressen für Vampire

Der Sommer meines Lebens ist längst vorbei, und an Geistergeschichten und gefährliche Begegnungen habe ich mich gewöhnt. Von dem Philosophen Charles Pépin habe ich gelernt, dass in dem Wort "Begegnung" das Wörtchen "gegen" steckt, es deute, sagt er, auf die Kollision mit einer "Andersheit" hin. Dieses Aufeinanderprallen kann alles Mögliche auslösen, oft sogar Liebe, aber an diese Art Begegnung denke ich nicht, als mein Vorhang raschelt. Vermutlich ist nach dem Biergartenbesuch ein Mörder durch mein Fenster eingedrungen.

Meine Fenster sind einladend gekippt, ich will die da draußen nicht ausgrenzen. Ich schalte die Deckenstrahler ein. Eine dumme Idee, denn augenblicklich schwirrt ein Geschwader mir unbekannter Kampfflugkörper durch mein Schlafzimmer, so schnell, dass ich nicht mal die Chance habe, sie zu zählen. Es sind verdammt viele, aggressiv wie Hitchcocks Vögel, mit beängstigender Eleganz kreisen sie knapp über meinem Kopf. Einige scheren aus und zischen in mein Wohnzimmer, weil ja kein anständiger Single nachts seine Schlafzimmertür schließt.

Seltsamerweise versetzt mich diese Begegnung mit der Andersheit in eine Art Kältestarre, als hätte ich meine letzte Restsensibilität verloren. Mir fällt ein, wie mir vor Jahren eine Freundin von einer Fledermausplage in der Stadt berichtete. Eine Fledermaus habe sie im Schlaf unsittlich gestreift und traumatisiert. Ich habe diese Geistergeschichte damals als sexuelle Fantasien Freud'scher Prägung abgetan, wurde aber bei meinen Ermittlungen eines Besseren belehrt. Tatsächlich waren Heerscharen von Fledermäusen in Wohnungen unserer Stadt eingedrungen. Was mich nicht wunderte. Stuttgart ist seit jeher ein Fressen für Vampire; die meisten dieser Spezies sind allerdings nicht den Fledermäusen, sondern den Immobilienhaien zuzurechnen.

Jedenfalls sagt mir die Erinnerung an die alte Geschichte, dass ich es mit Fledermäusen zu tun habe, zum ersten Mal in meinem Leben. Ich denke nach, während die Geschosse fliegen. Dann habe ich eine Erleuchtung und hole sehr lässig eine LP von Black Sabbath aus dem Regal. Ich drehe "Paranoid" voll auf und brülle in die Nacht: Hört mal zu, ihr verfickten Drecksmäuse, hier steht Ozzy Osbourne. Ich bin bereit für einen bestialischen Mord. Doch kein Schwein zieht das Genick ein. Die Eindringlinge sind anscheinend doof. Haben trotz ihrer phänomenalen Ohren nie davon gehört, dass Ozzy mal mitten im Konzert einer Fledermaus den Kopf abgebissen hat. Eine unwoke kulturelle Einverleibung.

Fledermäuse auf der Suche nach einem besseren Leben

Meine häusliche Flugshow geht weiter. Vor Jahren habe ich mal eine Fliegenklatsche mit einem abgebildeten Fußball auf dem Lappen geschenkt bekommen und sie in einen Stiefelschaft gestellt. Ich finde sie und bringe mich in Stellung. Ich ziele präzise und schlage hart, produziere aber nur heiße Luftlöcher. Deprimierend. So muss sich King Kong gefühlt haben, als er auf dem Empire State Building versuchte, die angreifenden Kampfflieger vom Himmel zu holen. Ich bin noch erfolgloser als King Kong. Meine Überlebenschance in diesem Sommer sinkt auf Null, gut dreißig Grad unter der Zimmertemperatur.

Ich setze mich aufs Sofa und überlege. Dieser Krieg ist nur digital zu gewinnen, auch wenn die technische Überlegenheit von Armeen immer wieder sträflich überschätzt wird. Was zählt, ist nicht der Computer, sondern die Kampfmoral. Und ich habe keine.

Ich greife zum Taschentelefon, beim Googeln erfahre ich, dass Fledermäuse vorzugsweise in großen Formationen in Wohnungen einfallen. Ein gekipptes Fenster reicht. Aber es interessiert sie einen Dreck, wenn du deine Fenster sperrangelweit öffnest, um sie loszuwerden. Offensichtlich habe ich es mit Zwergfledermäusen zu tun, in puncto Geschmeidigkeit sind sie unschlagbar. Es gibt für den Angegriffenen allerdings eine strategische Finte, auf die er nicht selber kommen kann, in einem Sommer, in dem dir beim Anblick eines Biergartens das Messer in der Tasche aufgeht, selbst wenn du keins hast.

Laut Google muss ich das Licht löschen. Ein merkwürdiger Rat. Warum soll die Fledermaussippe zurück in die Nacht fliegen, wo sie doch aus der Nacht gekommen ist, auf der Suche nach einem besseren Leben in meinem weltoffenen Schlafzimmer. Und sie muss ja bemerkt haben, dass ich unfähig bin für einen Pushback. Inzwischen spiele ich sogar mit dem Gedanken, den Tieren meine Wohnung zu überlassen, selbst wenn es in der Stadt der Immobilienhaie unmöglich ist, eine neue zu finden.

Fledermäuse verstehen etwas vom Überleben. Seit 50 Millionen Jahren herrschen sie über den Luftraum. Irgendwann haben sie ihre Aktionen vom Tag in die Nacht verlegt, um ihren Feinden aus dem Weg zu gehen. Die Fledermaus wird vierzig Jahre alt und schafft sechzig Kilometer in der Stunde. In meiner Schnarchbude sogar hundertachtzig. Zwar hat sie heute ein Kopfproblem mit den Windrädern, doch auch diese Gefahr wird sie eines Tages umsegeln. Und dann glaubt ein geistiger Flattermann wie unsereiner, er könne diese wandlungsfähigen Säugetiere mit der Fliegenklatsche stoppen.

Alle Geschichten sind Geistergeschichten

Zu sagen bleibt, dass ich in der Nacht der Dämonen nach langen Google-Studien hoffnungslos das Licht ausknipste, als wäre es mein Leben. Die Fledermäuse flogen grußlos hinaus in die Welt, und ich begann zu singen: I am the Batman …

Einige Tage später kaufe ich mir in einem türkischen Allzweckladen einen kleinen Rollkoffer. Ich habe nicht vor zu fliegen, aber ich werde mein Leben ändern, vor allem nachts. Zu lange war ich zu doof zu begreifen, dass selbst im eigenen Bett das Leben lebensgefährlich ist in diesen verfluchten Zeiten. Wir müssen Geschwader voller Sensibilität bilden, um unsere Überlebenschance zu wahren.

Ich weiß, verehrte Leser:innen, eine Fledermaus-Ballade bringt keine Klicks im blutigen Kolumnen- und Meinungsgeschäft. "Alle Geschichten" aber, schreibt James Sallis in seinem Roman "Sarah Jane", "sind Geistergeschichten: über verlorene Dinge, verlorene Menschen, Erinnerungen, Heimat, Leidenschaft, Jugend, über Dinge, die darum ringen, von den Lebenden gesehen und anerkannt zu werden."

Ich wünsche allseits eine gute Nacht, bevor man uns den Kopf abbeißt.


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1 Kommentar verfügbar

  • Claudia, auch Kernerviertelbewohnerin
    am 11.08.2022
    Antworten
    Tja, das hat schon was mit Wohnungsmangel zu tun. Allerdings sind die Flattermänner vor allem deswegen auf der Suche nach einer ebensolchen, weil sie ihrer angestammten - gerne beim beliebten Ausbau der Dachgeschosse - ihrer ursprünglichen Unterkunft beraubt werden. Kann übrigens richtig Kohle…
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