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Auf der Straße

Der Platz des Unholds

Auf der Straße: Der Platz des Unholds
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Ich kam gerade aus Kassel zurück, hatte ein wenig von der Welt gesehen und mir geschworen, so schnell wie möglich wieder zu verschwinden. Raus aus Stuttgart, egal, wohin. Und dann stecke ich doch wieder mittendrin, bei übler Julihitze an der Schwabstraße, wo sich pro Tag 13.000 Autos durch den Westen kämpfen. Alle gleichzeitig, denke ich, als ich vor dem Café Fragola auf dem Bismarckplatz sitze.

Der Name Otto hat es zuletzt in der Jugendsprache zu neuem Ruhm gebracht. "Du Otto" ist die Reaktion auf die Brain Performance eines IQ-reduzierten Mitmenschen. Dass diese Beleidigung mit ihren coolen O-Tönen auch schon wesentlich früher in Mode war, weiß ich aus Erfahrung. Nicht selten war ich selbst der Otto, allerdings ohne dabei jemals an den Otto Eduard Leopold von Bismarck (1815 bis 1898) zu denken. Diesen Sprung leistet mein Hirn erst im Klimakatastrophenfieber vor dem Fragola, wo ich mit dem Werbeprofi Rainer Benz plaudere. Er engagiert sich in seiner Freizeit für ein vernünftiges Leben im Viertel.

Dreimal in der Woche ist Markt auf dem Bismarckplatz vor der Kirche St. Elisabeth. Beim Blick auf die Kundschaft, sagt Rainer, sehe man deutlich die Gesichter der Gentrifizierung. Ein Zufall, dass ich ihn an dem Tag treffe, an dem er abends mit Geistesverwandten zur Gründung eines Bismarckplatz-Vereins verabredet ist. Sie wollen mitsprechen, auch was den Namen des Platzes angeht. Seit Jahren gibt es Pläne der Stadt, den Ort neu zu gestalten. Ende 2023 soll damit begonnen werden.

Ein bedeutender Platz für eine starke Frau

Als Beispiel virtuoser Stadtplanung gilt der Radweg entlang der Außenbewirtung des Cafés. Ein geübter Strampler würde es schaffen, in voller Fahrt ein volles Glas von unserem Tisch zu schnappen, sofern er nicht vorher ein spielendes Kind überfährt. Die Gäste würden "Du Otto" brüllen, auf die Polizei aber pfeifen, weil sie schon froh sind, dass auf der einstigen Rennstrecke Schwabstraße inzwischen Tempo 40 nicht nur für Fahrräder gilt.

Neu ist die Initiative "Ein Platz für Betty Rosenfeld". Im Politverein Die AnStifter entstanden, macht sie sich dafür stark, Ottos Gedenkort umzubenennen. So soll die mutige jüdische Krankenschwester Betty Rosenfeld aus Stuttgart gewürdigt werden: endlich ein bedeutender urbaner Platz für eine starke Frau.

1907 geboren, lebte Betty mit ihrer Familie in der Breitscheidstraße im Westen. Während des Nazi-Terrors schloss sie sich als Kommunistin den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg an. Sie wollte etwas tun. 1942 wurde sie in Auschwitz ermordet. In diesem Jahr ist, mit Unterstützung der AnStifter, Michael Uhls Biografie "Betty Rosenfeld – zwischen Davidstern und roter Fahne" (Schmetterling Verlag) erschienen.

Hieße der Bismarckplatz nach seinem Umbau Betty-Rosenfeld-Platz, gäbe es trotzdem noch reichlich Otto-Souvenirs in der Stadt. Etwa die Anfang des 20. Jahrhunderts vom Ortsbauamt eigenmächtig so benannte Bismarckschule in Feuerbach. Oder den Bismarckturm am Killesberg. Nicht zu vergessen das Bismarckhaus am Platz. Als der Mitbesitzer und glühende Otto-Fan Albert Oertel 1908 bei Bismarcks Witwe bettelte, dass "Durchlaucht gütigst gestatten wolle, diesem Gebäude den Namen Bismarckhaus beilegen zu dürfen", hatten die Stadtoberen längst die obere Schloßstraße in Bismarckstraße umgetauft.

"Von Rathausweisheit nicht erleuchtetes Hirn"

Ein Bürger beschwerte sich darüber 1885 im liberalen "Beobachter": "Allerlei Fragen sind hiebei in meinem von Rathausweisheit leider nicht erleuchteten Gehirn aufgetaucht." Er wehre sich dagegen, "einer Stadt einen Straßennamen aufzuoktroyieren, für welchen nur bei einem kleinen Bruchteil der Einwohnerschaft die Sympathie den Siedepunkt überschritten hat", während sie bei einem viel größeren "tief unter dem Gefrierpunkt liegt". Was "würden wohl unsere Mucker dazu sagen, wenn eine hiesige Straße Straußstraße, Dulkstraße oder gar Lassalle genannt werden sollte?"

Mit den "Muckern" waren Fromme wie die Pietisten gemeint, mit Strauß der rebellische schwäbische Philosoph und Theologe David Friedrich Strauß, mit Dulk der lange in Stuttgart lebende Dichter und Revolutionär Albert Dulk, mit Lassalle der SPD-Urvater Ferdinand Lassalle. Der Kritiker schrieb weiter: "Längst geht in den Kreisen der Haute volée und finance der Klingelbeutel herum für ein in hiesiger Stadt aufzustellendes Bismarck-Denkmal." Wenn "die Bismarckanbeter" das Bildnis "ihres Angebeteten in einem eigenen Tempel (etwa im oberen Museum oder in der Liederhalle) aufstellen wollen, so ist dagegen nicht das Geringste einzuwenden. Aber gegen das Aufstellen desselben an einem öffentlichen Platz protestiere ich energisch, und ich bin überzeugt, dass Tausende unter den hiesigen Einwohnern ganz ebenso gesinnt sind". So gesehen ist es überfällig, dem heiligen Bismarck seinen Platz streitig zu machen. Adios, du Otto.

1890 wurde dem ausschweifenden Säufer und Sozialistenfresser der Stuttgarter Ehrenbürgerbrief verliehen. Bis heute ist der ehemalige Reichskanzler in der Stadt so stark präsent, wie der Historikerstreit um staatsmännisches Renommee und reaktionäre Rücksichtslosigkeit des "Blut und Eisen"-Provokateurs andauert.

Da ging noch was in den Medien

Wenig bekannt ist die Geschichte des Ferdinand Cohen-Blind. 1844 wird er in Mannheim geboren, sein Stiefvater ist der Demokrat Karl Blind, seine Mutter Friederike Cohen. Nach der gescheiterten 48er-Revolution fliehen sie ins Exil nach Paris und London. 1862 kommt Ferdinand zurück, ist erst Gasthörer an der Tübinger Uni, dann Student der Landwirtschaftlichen Akademie Hohenheim. Nach seinem Abschluss fasst er den Plan, Bismarck zu töten, um Kriege zu verhindern.

Am 7. Mai 1866 gibt er in Berlin, Unter den Linden, fünf Schüsse auf den preußischen Ministerpräsidenten ab. Drei Kugeln streifen den fettleibigen, wegen einer Erkältung dick Vermummten, zwei prallen an seinen Rippen ab. Der Attentäter wird verhaftet. Im Polizeipräsidium schneidet er sich die Halsschlagader durch und stirbt, 22 Jahre jung. Bismarck erholt sich rasch.

In Württemberg ist der rüde Chauvinist bei vielen verhasst. Auch König Karl, seit 1864 auf dem Thron, findet Otto gar nicht gut. Der preußische Zyniker hat mit Blick auf die Homosexualität des Königs gespottet, Karls Frau Olga sei der "einzige Mann am württembergischen Hof". Cohen-Blind wird auf dem Berliner Nikolai-Friedhof verscharrt und in Stuttgart als Held gefeiert. Das Parteiblatt der württembergischen Demokraten schreibt: "Es wird sich niemand getrauen, den jungen Mann für einen schlechten Deutschen zu erklären, der sein Leben daran gegeben hat, um das Vaterland von einem solchen Unhold zu befreien." Seinerzeit ging noch was, in den Medien.

Vom Unhold Otto bleibe bitte nur der Bismarckhering

Im Zweiten Weltkrieg blieb der Bismarckplatz von den Bomben der Alliierten weitgehend verschont. Von geheimnisvollen Hintergründen erzählte mir mal Helmut Schneider, ein Stuttgarter Musiker, der schon in den Sechzigern in der Politrockband Hotzenplotz um den späteren ARD-"Rockpalast"-Moderator Albrecht Metzger Posaune spielte. Als Kind verbrachte er die Ferien bei seinen Großeltern, der Familie Brutsch, im Haus Nummer 3 am Bismarckplatz.

In einer der Bombennächte, berichtet Schneider, war der Sohn Robert Brutsch als Wehrmacht-Funker auf Heimaturlaub und konnte hören, wie britische Funker im Nachbarhaus der Royal Airforce Informationen sendeten. Nur deshalb, glaubten Schneiders Großeltern, habe man den Bismarckplatz nicht bombardiert. Robert kam später an der Front ums Leben.

Besagtes Haus Nummer 3 ist auf der kleineren Seite des Bismarckplatzes, der von der Schwabstraße tranchiert wird. In der Nähe steht ein Toilettenhäuschen, das laut Stadtplanung ein Café werden soll. Wie auch immer die Geschäfte im Westen verrichtet werden: Hoffen wir, dass vom Unhold Otto nur die Bismarckheringe am Marktstand bleiben. Sofern sie nicht, wie einst in der DDR, klassenbewusst in "Delikateßheringe" umgetauft werden.


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