Jetzt steht man, drei Spieltage vor Saisonende, auf Platz 16, mit deutlichen vier Punkten Rückstand auf den ersten Nichtabstiegsplatz und mickrigen zwei Pünktchen Vorsprung auf Platz 17, der den direkten Abstieg bedeutet. Mit einer Leistung wie in Berlin wird die Mannschaft eher keinen einzigen Punkt mehr holen – deshalb würde Arminia Bielefeld auf Platz 17 ein Sieg aus drei Spielen reichen, um den VfB direkt wieder in die zweite Liga zu befördern. Kein Wunder, sah Sportchef Mislintat nach dem Spiel beim Interview aus, als habe er vor lauter Sorgen seit Wochen nicht mehr geschlafen.
Alles in Trümmern beim VfB
Aber: So verständlich die Empörung der Leute ist über den Auftritt der Mannschaft am Sonntag – dass der VfB sich im Kampf gegen den Abstieg befindet, ist grundsätzlich keine Überraschung. Man hat sich in Stuttgart auf ein Projekt eingelassen, das gleichermaßen als Versprechen für die Zukunft daherkommt und als lebenswichtige Einnahmequelle in Zeiten, da der VfB nicht nur sportlich, sondern auch finanziell eher zu den Kleinen gehört als zu den Großen. Zweimal abgestiegen seit 2016, deshalb viel weniger Fernsehgeld und andere Einnahmen, gute Spieler wollen erste Liga spielen und international, nicht Abstiegskampf und Erzgebirge Aue. Die einst so renommierte Nachwuchsarbeit lag nach den Sünden der Vergangenheit in rauchenden Trümmern, die Gremien voller böser grauer Männer, das war alles nicht prickelnd beim größten Sportverein Baden-Württembergs.
Dass man mit einer neuen sportlichen Führung und einem häufig lachenden statt böse dreinschauenden Präsidenten wieder erstklassig spielt, war schon kein Selbstläufer, zumal auch die neue Führung in personam Thomas Hitzlsperger lieber das eigene Ego anstatt die Zusammengehörigkeit befeuerte.
Es mussten Spieler her, die gut genug für den Aufstieg waren, aber unbekannt genug, nicht von anderen Clubs gekauft zu werden. Und jung sollten sie sein, mit viel Potential. Denn nicht nur das sportliche Überleben musste (und muss weiterhin) mit ihnen gesichert werden, sondern auch das finanzielle, sprich: billig kaufen, teuer verkaufen. So ist es, und so wird es auch noch eine Weile sein.
Und jetzt, was haben sich die Leute gedacht? Dass der VfB mit bisher eher zweitklassigen Japanern und einem Haufen minderjähriger Unbekannter vorne mitspielt? Dass die Mannschaft jedes Jahr mit Fünf zu Eins bei Borussia Dortmund gewinnt, Champions League, wir kommen? Waren wir nicht vor wenigen Jahren schon mal Siebter, gewannen gar beim FC Bayern, und im Jahr drauf ging es wieder runter?
Stabil ist eigentlich nur die Instabilität der Mannschaft
Wenn alle Leistungsträger immer an Bord gewesen wären, dann wäre der VfB jetzt vielleicht im hinteren Mittelfeld der Tabelle. Platz 13 oder 14. Dann wäre der Abstieg weniger wahrscheinlich. Weil aber etliche Leistungsträger verletzt ausfallen oder seuchenbedingt nicht spielen können, ist das halt mal wieder Spitz auf Knopf. Denn wenn diese Mannschaft voller junger, unerfahrener Leute eines kontinuierlich auszeichnet, dann ist es ihre spielerische Instabilität. Und diese Instabilität wird man umso schwerer los, wenn ständig wichtige Leute ausfallen.
Mehrmals in dieser Saison konnte man nicht nur die Defizite, sondern auch das Potential sehen, das in den Spielern steckt. Und das der Trainer und sein Team fördern und entwickeln. Mehrere Spieler haben mittlerweile Marktwerte im zweistelligen Millionenbereich – sie werden verkauft werden müssen, um nötige Einnahmen zu erzielen und Kredite zu bedienen. Und um weitere junge Spieler mit Potential nach Stuttgart zu holen. Um immer ein klein wenig stabiler zu werden.
Seien wir froh, dass Talente wie Silas, Coulibaly, Sankoh, Ito, Ahamada und Co identifiziert werden und zum VfB kommen, wo sie weiterentwickelt werden. Nehmen wir in Kauf, dass Sportdirektor Mislintat bei den vielen Transfers auch mal daneben liegt. Hassen wir die Truppe für manch miserablen Auftritt – aber stellen wir nicht das ganze Projekt in Frage, fordern den Kopf des Trainers drei Spiele vor Saisonende, was soll das bringen? Hatten wir das nicht neulich schon mal, mit Trainer Hannes Wolf und Sportchef Schindelmeiser?
Da hilft nur weiterzittern, bruddeln, fiebern, hoffen
Etliche unsinnige 180-Grad-Wenden in der Vergangenheit haben den VfB dahin gebracht, wo er grade steht. Jetzt gilt es, die vielbesungene Kontinuität auch mal durchzuziehen und nicht die nächste Kehrtwende zu fordern. Wird ja auch niemand behaupten wollen, mit Sven Mislintat und Pellegrino Matarazzo und Alex Wehrle und Thomas Krücken seien hier nur Nichtskönner am Werk. Zittern wir also weiter wie Espenlaub bis zum letzten Spieltag. Fiebern wir mit, schimpfen und bruddeln, feiern vielleicht auch mal wieder ein Tor und hoffen, dass das Versprechen auf die Zukunft nicht in der zweiten Liga endet. Und selbst, wenn es das tut: „Lebbe geht weider“, sagte Dragoslav Stepanovic einst, als er mit Eintracht Frankfurt abgestiegen war. Und jetzt gewinnen die beim FC Barcelona.
Natürlich geht nicht nur das Leben sondern auch das Fußball-Business weiter. So krank es auch sein mag, mit nochmals einer enormen Steigerung der Spielergehälter in der ersten Liga zuletzt, trotz zweier Corona-Jahre und stark sinkender Transfererlöse. Da ist es ja vielleicht auch gar nicht so schlecht, dass der VfB Stuttgart nicht mit den ganz Großen mitstinken kann und wenigstens ein bisschen sein eigenes Ding machen muss. Wenn sie arbeitsverweigernde Auftritte wie jetzt bei Hertha BSC künftig weglassen, kann man das auch weiterhin richtig sympathisch finden.
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Uli T.
am 27.04.2022