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Auf der Straße

Der Mensch braucht die Nadel

Auf der Straße: Der Mensch braucht die Nadel
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Als ich diese Zeilen tippe, dringt schon die heillose Stille des Heiligabends durchs Fenster, und ich habe Bammel, diese unfröhliche Weihnachtsseligkeit könnte einen Text beeinflussen, der erst nach den Festtagen erscheinen wird. Zu einer Zeit also, da in ausgedünnten Lockdownregalen schon die ersten Osterhasen herumlungern, während die Tannenbäume sterben. Vor mir liegt ein Notizbuch mit dem Eintrag: "Sinatra geht durch die Decke". Das habe ich hingekritzelt, als ich durch die Ladenpassage unter den Stuttgarter Bahnhofstrümmern stiefelte und von oben mit Frankies Version von "Santa Claus Is Coming To Town" beschallt wurde. Ich ging an der BW-Bank vorbei, wo eine Menschenschlange nicht aufs Christkind, sondern auf eine Coronaspritze wartete. Holy shit, dachte ich, nicht nur Tannen, auch Menschen nadeln.

Solche Aufschriebe trage ich mit mir herum, weil ich an einem Notizbuch- und Schreibstiftwahn leide, seit ich vor Jahren bei Paul Auster gelesen habe, wie er als Bub nach einem Spiel der New York Giants seinem Baseball-Gott Willie Mays begegnete. Mit der Courage des aufgeregten Kindes bat er ihn um ein Autogramm. Mr Mays wollte ihm eins geben, doch Paul hatte nichts zum Schreiben dabei. Seit diesem Tag, erzählt Auster, sei er nie mehr ohne Stift und Papier aus dem Haus gegangen. Und deshalb Schriftsteller geworden.

Nun ist unsereiner kein Schriftsteller geworden, hat aber wegen seines Kritzelwahns ganze Berge nahezu leerer Notizbücher angehäuft, da er für jede vergessene Kladde unterwegs eine neue kauft. Dass deshalb ganze Wälder abgeholzt werden, ist absurd, da ich "Sinatra geht durch die Decke" auch in mein Taschentelefon tippen könnte. Aber wer einen Knall hat, hat einen Knall. Ein Notizbuch wäre erst gerechtfertigt, wenn demnächst aufgrund des Personalmangels in der Pandemiekrise so lange der Strom ausfällt, bis auch keine Powerbank mehr mein Mobiles boostern kann. Dann herrscht in unserer Digitalexistenz Killall- und Shutdown-Alarm, und niemand sollte sich darüber lustig machen, wenn uns schon jetzt Katastrophenpolitiker batteriebetriebene Radios als Volksempfänger für die Apokalypse empfehlen.

Ich habe keine Ahnung, was noch alles auf uns zukommen wird, ob es sinnvoll ist, mir einige Säcke Reis und Nudeln und einen Esbitkocher fürs Überleben zuzulegen, falls ich das Überleben dann noch erstrebenswert finde. Um solche Dinge zu klären, steht seit Jahren auf meinem Schreibtisch Sitting Bull, mit dem ich mich regelmäßig unterhalte. "This is a good day to die. Follow me", sagt er. Generell ist es vernünftiger, einem tönernen Medizinmann zu folgen als all den tolldreisten Youtube-Schamanen.

Ein Blackout hätte den Vorteil, dass keine unschuldigen Passantenohren mehr mit Weihnachtsliedern angegriffen werden. Andererseits würden viele vor Verzweiflung sterben, die noch nicht "The Beatles: Get Back" zu Ende gesehen haben. Seit Peter Jacksons achtstündige Doku über die finale Phase der Band als dreiteilige Serie läuft, ist mehr als fünfzig Jahre nach dem Ende des Quartetts eine neue pandemische Seuche namens Beatlemania ausgebrochen. Ich kenne so gut wie niemanden mehr, der nicht von diesem Film des "Herr der Ringe"-Regisseurs redet.

Der eine oder andere Bildschirm-Junkie ist längst nicht mehr Herr der Sinne, darunter auch unsereiner, der allein wegen dieses Marathons aus der Beatles-Werkstatt den Disney-Kanal abonnierte. Mit dem schwachsinnigen Argument, zu Weihnachten dürfe man sich was gönnen. Als ob Weihnachten dazu da wäre, stundenlang zuzuschauen, wie Paul McCartney spricht und Yoko Ono schweigt. Nur um hinterher wie alle anderen behaupten zu können, ich hätte im Geiste selber mit im Studio gesessen und meine Kippe in eine Gitarrensaite gesteckt, obwohl ich gar nicht rauche. Und dann begegne ich jeden Tag jungen Frauen und Männern, die ihre Instrumentenkoffer zur Musikhochschule in meiner Straße schleppen, als wären sie auf dem Weg zum Schafott. Die Beatles haben nie studiert, rufe ich ihnen zu. I am the eggman, brüllt einer zurück.

Dass Peter Jackson 60 Stunden Rohmaterial auf acht Stunden eingedampft hat, heißt im Übrigen nicht, dass wahre Beatles-Fans nicht 60 Stunden vor dem Bildschirm sitzen, um sich die Doku entspannt siebeneinhalbmal hintereinander anzuschauen. John Lennon hatte recht, als er 1966 sagte, die Beatles seien populärer als Jesus. Nicht mal der Papst zur Weihnachtszeit schaut sich heute noch eine ähnlich lange Jesus-Doku an. Dabei ignoriert Jackson, wie der Satiriker Oliver Maria Schmitt in der FAS zurecht monierte, die existenzielle Frage, "wieso die vier Pilzköpfe auf Englisch nicht 'mushroom heads' hießen, sondern 'mop tops', also Wischmoppköpfe". Kein Wunder, wenn die Briten heute eine Putzwollerübe als Premierminister beschäftigen.

Vermutlich war es die Heiligabendschwermut am Schreibtisch, die mich zur Flucht aus dem Corona-Elend hinter die Schallmauern der Popmusik trieb – und mein Blick des ehrbar Vernadelten auf die unbelehrbar Vernagelten in ihrer braun gefärbten Heilsbewegung.

Wie andere zukunftsorientierte Zeitgenossen besitze ich nicht erst seit den vielen Konzertabsagen neben einem Fernseher auch einen Plattenspieler: Der Mensch braucht die Nadel. Meine Platten kaufe ich übrigens nie gezielt. Von Zeit zu Zeit rufe ich bei Second Hand Records in der Stuttgarter Leuschnerstraße an und bestelle bei meinem Sachbearbeiter eine "Wundertüte". Der Mann weiß, was gemeint ist, und stellt mir ein paar Scheiben zusammen: verschiedene Genres, alte und neue Musik. Ein paar Tage später hole ich die Ware ab – und habe ein Rückgaberecht, das ich so gut wie nie in Anspruch nehme. Wenn mir eine Platte nicht gefällt, heißt das ja noch lange nicht, dass sie nicht gut ist. Es wäre sehr dumm, mich bei der Beurteilung der Welt ausgerechnet auf meinen eigenen Geschmack zu verlassen. Das überlässt man besser Stuttgarter Gemeinderatsmitgliedern, wenn sie die Finanzierung unbekannter Kunstprojekte "von Weltruf" beschließen.

Besagter Plattenladen, einer der größten, wenn nicht der größte der Republik, erregte unlängst Aufsehen, als er von der neuen Staatsministerin für Kultur, Claudia Roth, auf ihrer Stuttgart-Visite heimgesucht wurde. Die hatte zuvor schon die bahnbrechende Erkenntnis verbreitet, "nicht nur Oper und Theater, sondern auch der Plattenladen und der Club" seien Kultur. Yeah. "A record store is culture", hat vor langer Zeit schon Sitting Bull gesagt. No, sorry, das war Teodor Currentzis, der griechische Stardirigent.

Bedauerlich, dass Frau Roth ähnlich revolutionäre Elemente unserer Gegenwartskultur in ihrer Auflistung ignorierte: so die morgendliche Dusche, keine Butter unter Nutella und die bedingungslose Akzeptanz frisch gefüllter Vinyl-Wundertüten. Eingefädelt hatte die Connection übrigens ein treuer Stammkunde des Plattenladens: der bayerische MdB und Grünen-Kultursprecher Erhard Grundl, ein Ehrenmann. Der wurde, so zitiert ihn Wikipedia, schon als Neunjähriger "mit dem Radio unter der Bettdecke" Fan von Bob Dylan. Damit ist klar, dass wir uns dringend ein batteriebetriebenes Radio zulegen müssen. Robert Zimmerman geht nicht durch die Decke.


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