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Auf der Straße

Frankie goes to Hollywood

Auf der Straße: Frankie goes to Hollywood
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Nachdem ich die dritte Corona-Spritze kassiert hatte, schmierte ich meinen linken Oberarm mit Pferdesalbe ein. Rosskuren sind angesagt in Seuchenzeiten. Viele aufgeklärte Zeitgenossen bekämpfen das Virus zurzeit mit Entwurmungsmitteln für Gäule, womöglich auch in der Hoffnung, ein Schweif könnte ihnen wachsen wie dem Teufel. Der Plan, mit angemessenem Schwanz und Huf die Weltherrschaft zu erobern, ist allerdings umstritten. "Die Welt stand mir offen", schreibt Bob Dylan am Ende seines Buchs "Chronicles – Volume one". "Von Gott wurde sie zwar nicht regiert, aber auch nicht vom Teufel."

So bleibt uns für dieses Amt nur noch Frank Nopper. Stuttgarts Oberschultes, von einer Minderheit der Stadt mehrheitlich in den Randbezirken gewählt, spielte neulich The God of hell fire. Erst erlaubte er als weithin bekannte Rummelplatz-Koryphäe den üppigen Weihnachtsmarkt. Wenig später, als schon Sternenstaub die aufgebauten Buden unseres Glühweindorfs zierte, sagte er das Christkinder-Fest kompromisslos ab. Die Abbrucharbeiten beobachtete der Chef der ehrenwerten Buchhandlung Erlkönig; Thomas Ott berichtete später, ihm falle kein richtiges Wort für das Szenario mit all den aufgebrachten und deprimierten Menschen ein: "Surrealistisch? Kafkaesk?" Auf jeden Fall, notierte er auf Facebook, "wurde geweint": "Ich habe noch nie in meinem Leben (nicht mal auf Youtube) weinende japanische Touristen gesehen, heute schon." Weinen sei ansteckend, und so habe er "einfach mitgeweint".

Solche Gefühlsregungen kann ich mir nicht leisten, seit ich als Dorf-Cowboy mit Hang zu Hollywood-Filmen Richard Harris als "Ein Mann, den sie Pferd nannten" verinnerlicht habe (daher meine Salbe).

Unser Oberschultes wiederum ist seit seinem Stallwechsel von Backnang nach Stuttgart fortwährend in einer rührend-komischen Nummer zu sehen, die mich an den Namen einer Popkapelle der Achtziger erinnert: Frankie goes to Hollywood. Das Posing, das er – umrahmt von den Event-Gewändern seiner Gemahlin – bei internationalen Großereignissen wie Stuttgarter Varietéshows oder Kneipeneröffnungen für die C-Promi-Paparazzi leistet, ist erste Sahne. Da erst begreife ich, was mit einem unterirdischen Werbeslogan im Breuninger-Schaufenster gemeint sein könnte: "Wünsche werden Warenhaus."

Und nachdem du die Nopper-Klan-Fotos im Internet gesehen hast, verstehst du den Oberschultes, wenn er Journalisten sagt, er könne sich nicht "25 Stunden am Tag" um die Pandemie kümmern. Immerhin reagierte seine Verwaltung sekundenschnell auf die Folgen seines Weihnachtsmarkt-Managements mit christlicher Gnade: "Die Stadt Stuttgart wird keine Standgebühren für die Stände verlangen, die auf dem vorgesehenen Areal für den Weihnachtsmarkt aufgebaut wurden."

Auch ich bin durch das tote Budenquartier gestiefelt, muss aber zugeben, dass mich in Stuttgart der Anblick einer Geisterstadt kaum noch bewegt. Das hat auch ein wenig mit der Seuche zu tun, die mich nicht nur in Lockdowns zum Training des Alleinseins zwingt. Dann reise ich, nahezu bewegungslos, in Büchern herum. In Julian Barnes Roman "Der Lärm der Zeit" über Schostakowitschs surreales Leben unter Stalin schnappe ich diese Redewendung auf: "Das Leben ist kein Spaziergang übers Feld." Richtig, Russe, entfährt es mir: Das Leben ist ein Spaziergang durch Stuttgart. Nur nicht so grausam.

Erst weiter hinten im Buch sagt uns der Autor, dass es sich bei dem Spaziergang-Zitat um die letzte Zeile von Pasternaks Gedicht "Hamlet" handelt – und die Zeile davor lautet: "Ich bin allein; alles um mich versinkt in Falschheit." Diese Worte persönlich zu nehmen wäre mit Blick auf die Geschichte auch dann anmaßend, wenn ich erlebe, wie Freundschaft zur Heuchelei verkommt. Wenn mir zum Heulen ist, lege ich Schostakowitschs Leningrad-Sinfonie auf um durchzuhalten. Viel lieber würde ich wie die Bühnenfigur Josef Hader breitbeinig und mit einem Glas in der Hand der Welt empfehlen: "Trinke, was klar ist / sage, was wahr ist / schnaksel, was da ist."

Das Alleinsein führt oft zu sinnlosem Umherschweifen in der Dunkelheit, sobald sich der Bewegungsdrang gemeldet hat. In meiner noch neuen Nachbarschaft am Kernerplatz, wo ich im Lockdown des versifften März 2021 gelandet bin, stehe ich vor dem Haus mit den Büros des Landesverbands der Schausteller und Marktleute Baden-Württemberg e. V.. Irgendwann muss ich mich hineintrauen und fragen, wie es um das Weinen steht. Ein paar Meter weiter, in der Kernerstraße 8, lese ich auf einem Schild, in diesem Gebäude, im damaligen Wirtshaus Zum Becher, sei 1893 der FV Stuttgart, der ältere der beiden Vorgängervereine des VfB, gegründet worden. Herrgott noch mal, altes Haus, sage ich: Hat das denn sein müssen? Fußball beim VfB?

Die Gaststätte Zum Becher findet man heute in der Urbanstraße, ihr Name klingt etwas vertrauter als der des umgetauften Etablissements in unserer Townhall: Es heißt jetzt THE Ratskeller. Ein Geniestreich der Vermarkter unseres Landstrichs, den sie dem Rest der Welt als "The Länd" andrehen wollen: Der englische Artikel "The" vor "Ratskeller" führt unweigerlich zu der Übersetzung "Rattenloch". (In ähnlich weltläufigem Geist wurde vor Kurzem ein Stuttgarter Café neu betitelt: Statt "Graf Eberhard" heißt es jetzt "Earl Eberhard". Ganz earlich.)

Bei günstiger Ampel-Schaltung schaffe ich es von zu Hause in 15 Minuten zum Leonhardsplatz, wo mich zum schwäbischen Mittagessen im Brunnenwirt ein Schlager von Milva aus dem SWR-Radio empfängt: "Hurra! Wir leben noch! / Was mussten wir nicht alles überstehn? / Und leben noch! / Was ließen wir nicht über uns ergehen? / Der blaue Fleck auf unserer Seele geht schon weg / Wir leben noch!" Etwas griffiger hat diese Botschaft Dostojewski als Schlusssatz seines Romans "Der Spieler" formuliert: "Morgen, morgen wird alles zum guten Ende kommen."

Das Leonhardsviertel mit seinem käuflichen Sex wurde, wie die gleichnamige Kirche, nach dem heiligen Leonhard benannt, einem adligen Multitalent aus Franken. Gefragt war der Herr als Helfer bei Geistes- und Geschlechtskrankheiten, worunter heute weiß Gott nicht nur das Rotlichtviertel unserer Stadt leidet. Vornehmlich verehrt aber wurde er als Schutzpatron von Viehzüchtern, Stallknechten und Obsthändlern. Man nannte ihn "Bauernherrgott".

Damit ist unser Leo wie kein anderer prädestiniert als politischer Hirte des VfB-Fans Cem Özdemir aus Bad Urach, einem Ort am Fuß der Schwäbischen Alb, dessen Name von Auerochsenbach hergeleitet wird. Allein schon vor diesem Migrationshintergrund musste der Transatlantiker zwingend Bundeslandwirtschaftsminister werden. Fachleute feiern das grüne Ampelmännchen bereits als ihren Herrgottsackbauern. Das ist ärgerlich, denn nicht nur als Pferdesalben-User und Schweifträger, sondern vor allem wegen seines Nachnamens wäre für dieses Amt auch unsereiner qualifiziert gewesen.

Aber das Leben ist kein Spaziergang übers Feld. Ich bleibe auf the Straße. So wahr wie Schostakowitsch staatlich geprüfter Fußballschiedsrichter war.


Unser Kolumnist ist Initiator der KünstlerInnensoforthilfe Stuttgart, die seit 16. März 2020 aktiv ist, und bittet angesichts der Pandemie-Entwicklung um Spenden.


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2 Kommentare verfügbar

  • Güdemann
    am 02.12.2021
    Antworten
    Hey Joe, sicher hast Du am Neckartor die Zugabe von "Schlechtmensch" zur Anglisierung von the Ländshauptstadt Stutt gesehen: Eländ.
    Schöne Jahresendzeitflügelfigurzeit wünscht
    Cordula
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