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Fußball-EM

Freude trotz Sportswashing?

Fußball-EM: Freude trotz Sportswashing?
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Die Kleinen um Kuntz sind Europameister, die Großen um Löw müssen zunächst die Gruppenphase der Euro 2021 überstehen. Doch neben Fußball geht's beim Fußball auch um Pandemie. Und um Menschenrechte.

Der Fußball natürlich schon starker Einfluss, keine Frage. Die Pandemie mit ihren Auswüchsen, die Politiker mit ihren Unzulänglichkeiten, die Diktatoren mit ihren Untaten – von allen Seiten zerrt man an unseren Nerven. Tatsächlich (neues Modewort, by the way) freue ich mich aber trotzdem auf die EM, auf die Euro 2020, die jetzt Euro 2021 heißt. Und um ein Haar hätte ich unserer Mannschaft trotz Todesgruppe mit Frankreich und Portugal sogar etwas zugetraut. Die Bayernleute allesamt relativ erholt, die Chelsealeute mit einem Selbstbewusstsein, dass es grade so rattert, der Jogi auf der Zielgeraden seiner Bundestrainer-Laufbahn ziemlich entspannt, vom BVB außer dem mittlerweile zum nervigen Ballack-Wiedergänger verkommenen Hummels und dem seit Anbeginn überschätzten Can keiner dabei – fast könnte man der Truppe Titelchancen zugestehen, trotz allzu eklatanter Schwächen auf den hinteren Außenbahnen. Irgendwie unbeschwert kamen sie alle daher, ein bisschen wie die Dänen 1992, nur ohne noch Cheeseburger-Reste in den Mundwinkeln zu haben und natürlich viel leichter. Sie erinnern sich, die Dänen '92 quasi übergewichtig, weil vollgestopft mit Bier und Fastfood, aus dem Urlaub zum Turnier angereist, nachnominiert für kriegstreibende Jugoslawen. Und im Finale 2:0 gegen Deutschland gewonnen.

Nach dem Testkick letzte Woche gegen ausgerechnet Dänemark war allerdings hinsichtlich Leichtigkeit, Unbeschwertheit und daraus abzuleitender deutscher Titelchancen nicht mehr gar so viel übrig – schnell waren wieder die üblichen ernsten Mienen und biedere Nüchternheit eingekehrt. Und im letzten Test vor dem Turnier, Montagabend gegen Lettland, naturgemäß auch keine wirklich neuen Erkenntnisse, Gegner zu schwach. Gehen wir halt wieder mit Disziplin und Einsatzwillen und Ordnung ins Turnier, genauso wie fast immer. Genauso wie die allermeisten anderen Länder uns auch sehen.

Glamour verbreitet eher unsere männliche U21-Nationalmannschaft. Das 1:0 von Florian Wirtz im Halbfinale der Nachwuchs-EM gegen Holland hielt nicht nur der geschätzte Kollege Oliver Wurm für das geilste Tor seit Mario Götze 2014, und der Siegtreffer im Finale durch Lukas Nmecha erinnerte einige an ein Tor des Spaniers David Villa bei der EM 2008 im Spiel gegen Russland. Torschütze Nmecha steht bei Manchester City unter Vertrag, war zuletzt an den RSC Anderlecht ausgeliehen und wurde 2017 schon mal Europameister – mit der englischen U19. Tolle Sache das alles, der Triumph an sich, und auch die kleinen Details rund um das Team machen richtig Spaß.

Volle Zuschauerränge wichtiger als Menschenrechte

Und während die fantastischen Jungs der U21 nach ihrem Sieg und den darauffolgenden Feierlichkeiten wahrscheinlich noch immer nicht wieder ganz nüchtern sind, richten sich die Scheinwerfer auf die EM der Großen. Aber so stark der Einfluss des Fußballs auch sein mag, so leicht es ihm fällt, den meisten ihn begleitenden Themen allzu oft die Öffentlichkeit zu entziehen, als wäre er ein großer Baum, der den anderen Pflanzen um ihn herum das Sonnenlicht nimmt – ganz vergessen sollte man doch nicht, dass der Fußball nicht völlig frei ist von Verbindungen, oder besser: von Verantwortung auch für Themen, die eben nicht glamourös sind. Die eher schlechte Laune machen. Auch wenn man bei der UEFA kurz vor Turnierbeginn natürlich keinen Bock auf schlechte Laune hat.

Themen wie die anfangs schon erwähnten: Pandemie, Diktatoren, Menschenrechte. Und genau hierzu darf man ruhig immer mal wieder darauf hinweisen, wie die UEFA als Veranstalter der Euro 2021 agiert. Dass sie zum Beispiel der Stadt Dublin die EM entzieht, weil die irische Regierung wegen der Pandemie nicht garantieren wollte, dass Zuschauer ins Stadion dürfen. Dass sie die ursprünglich für Dublin geplanten Spiele nach St. Petersburg verlegt, in ein Stadion, an dessen Bau nordkoreanische Zwangsarbeiter mitgewirkt haben.

Auch in Baku, Aserbaidschan, wird bei der Euro 2021 gespielt (Sonntag war da noch Formel 1). Womit die UEFA nichts anderes tut, als die Sportswashing-Strategie (Diktaturen täuschen durch Sportförderung über Menschenrechtsverletzungen hinweg) des Regimes von İlham Əliyev zu unterstützen. Der geschätzte Kollege Dietrich Schulze-Marmeling wirft immer wieder ein Auge auf diese und weitere unschöne Seiten des großen und kleinen Fußballgeschäfts. In der Frage der Austragungsorte der Euro 2021 zitiert er Gyde Jensen (FDP), die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Bundestags: "Wer sich die Menschenrechte als Leitplanken in die Charta schreibt, macht sich unglaubwürdig, wenn der Eindruck entsteht, dass die auf einmal zweitrangig werden, wenn ein Land mit desolater Menschenrechtsbilanz volle Zuschauerränge und damit tolle Bilder fürs das Fernsehen verspricht." Schade, dass neben Schulze-Marmeling nicht auch noch zahlreiche weitere Autoren mit solchen Zitaten Erwähnung finden. Schade, dass ab dem 11. Juni, wenn die Spiele beginnen, alles andere in den Hintergrund tritt. Schade eigentlich, dass ich, dass viele sich auf dieses Turnier freuen, obwohl es so viele unschöne Details mit sich bringt. Aber wie gesagt: Der Fußball eben immer starker Einfluss.

Seelenverwandt: Sportfunktionäre und Diktatoren

Vorgeblich haben FIFA und UEFA die Menschenrechte durchaus weit oben auf ihren jeweiligen Agenden stehen, auch wenn man auf den entsprechenden Webseiten ziemlich tief eintauchen muss, um zum Thema zu gelangen. Die reale Menschenrechtspolitik der beiden Verbände besteht aber vor allem darin, Spiele auch in autokratisch oder diktatorisch regierten Ländern zu ermöglichen. Da wird dann von den kleinen und größeren Reformen geredet, von positiven Veränderungen, die durch den Fußball angestoßen werden – und wahrscheinlich ist das auch gar nicht so falsch. Stichwort Katar 2022: Haben wir hierzulande über die Situation der Menschenrechte in Katar geredet, bevor die FIFA die WM dorthin vergeben hat? Oder haben wir eher nicht darüber geredet und vielmehr die Bundesligateams angefeuert, die direkt oder indirekt durch Katar oder noch fragwürdigere Emirate finanziert werden? Es ist eben doch sehr kompliziert, das mit den globalen Verwicklungen.

Andererseits ist aber leider nur allzu offensichtlich, dass ausgerechnet autokratische Regimes die Lieblingspartner der Fußballverbände FIFA und UEFA sind. Autor Schulze-Marmeling bezeichnet internationale Sportfunktionäre und Autokraten sogar als "Seelenverwandte". Wer mittels des Sports die Überlegenheit seiner Regierungsform demonstrieren möchte (Russland, China) und/oder Sportswashing betreibt (Katar, Aserbaidschan), ist zu hohen Investitionen bereit – sehr zur Freude der internationalen Verbände. Auch springen autokratische Regimes den Verbänden zur Seite, wenn es finanziell eng wird. 2017 griff zum Beispiel Qatar Airways der kriselnden FIFA unter die Arme und ersetzte die staatliche aserbaidschanische Ölgesellschaft SOCAR als Sponsor der UEFA Euro 2021. Den Ölmenschen schlug der fallende Erdölpreis negativ zu Buche, da ließen sie sich einfach von der Sponsorenliste streichen, auf die sie zuvor nur allzu gerne aufgenommen worden waren – für das Versprechen, im Falle einer Vergabe von Spielen nach Baku knapp 100 Millionen Euro an die UEFA zu zahlen.

Wir sollten diese dunklen Seiten der großen Turniere nicht vergessen, auch wenn wir uns über die Spiele freuen. Die Österreicher freuen sich noch heute über Cordoba 1978, geradezu "narrisch" werden die, und bei vielen Deutschen steht "Buenos dias Argentina" von Udo Jürgens und der Nationalmannschaft bis heute im Plattenschrank. Obwohl sie damals die politischen Gefangenen aus den Hubschraubern ins Meer warfen, die Unmenschen. Irgendwie muss das möglich sein, dass wir uns über den Fußball freuen und trotzdem nicht aufhören, vielfältige Verbesserungen zu fordern. Und vielleicht ist es sogar möglich, dass die deutsche Mannschaft die Vorrunde übersteht. Und dann? Turniermannschaft, Sie wissen schon ...


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