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Dann hau ihn auf den Hut

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Es ist keine Marotte, wenn ich diese Zeilen mit einem Stetson auf dem Kopf schreibe, und schon gar keine Attitüde, weil mich in meiner Bude ja niemand sieht. Der weiche Wollhut, den ich für diese Kolumne gewählt habe, hilft beim Denken. Das Gedächtnis vieler Nationen, habe ich mal gelesen, beruhe auf Vergessen. Das persönliche Gedächtnis dagegen befinde sich in einem einzigen Kampf gegen das Vergessen. Ich behaupte: Ein Hut auf dem Kopf hält die Hirnspeicher intakt und konserviert die Dinge im Gedächtnis. Ein Hut hält Erinnerungen warm und schärft den Blick auf die Gegenwart. Das hat mit der besseren Durchblutung zu tun. Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker: Der Kopf an sich ist ein äußerst empfindliches, sehr schlecht isoliertes Körperteil, weshalb viele sorgsam darauf achten, auf keinen Fall ihr Hirn zu strapazieren.

Ich will mich in dieser Kolumne nicht der Kulturgeschichte des Herrenhuts widmen. Da hätte ich viel zu tun angesichts der Tatsache, dass seine größte Zeit ein Jahrhundert zurückliegt und er beim Einsteigen ins Auto stört. Ich sage auch ich nicht: My home is where I hang my hat. Es gibt ja kaum noch Hutständer. Ich erzähle von meinen eher zufälligen Begegnungen mit dem Hut, der bis heute recht häufig erwähnt, aber sträflich ignoriert wird. Dauernd kommen welche daher, denen, blabla, der Hut hochgeht, die einen alten Hut beklagen oder ihren Hut in den Ring werfen, obwohl sie nie einen getragen und erst recht keinen Ringstaub geschluckt haben.

Fällt mir Gustav Knuth ein. Am 2. Juli 1939 besucht der Schauspieler in der Adolf-Hitler-Kampfbahn (heute Mercedes-Benz-Arena) zu Stuttgart-Bad Cannstatt das Duell um den Europameistertitel im Schwergewicht zwischen Max Schmeling und Adolf Heuser. Zu Beginn bückt sich Knuth nach seinem Hut, der ihm im Trubel vom Kopf geflogen ist. Als er wieder hochkommt, brüllen die 80.000 Zuschauer bereits wie verrückt: Schmeling hat seinen Gegner nach 72 Sekunden k. o. geschlagen.

Der Hut schreibt Geschichten

Nach meinen Erfahrungen fliegt ein guter Hut, sofern korrekt aufgesetzt, auch in stürmischen Situationen nicht davon. Deshalb war auch der Dichter Wilhelm Müller selbst schuld an seinem Missgeschick, das er in seinem Gedicht mit den Anfangsworten "Am Brunnen vor dem Tore" reimte: "Die kalten Winde bliesen mir grad ins Angesicht, / der Hut flog mit vom Kopfe, ich wendete mich nicht ..."

Die tollsten Hut-Zeilen aller Zeiten aber hat Hitlers Propagandachef Joseph Goebbels in seinen völkischen Kopfgeburten gedichtet: "Die Sonne lacht in voller Pracht / In meinem Kämmerlein mitten hinein. / Ich greife Stock und Hut / nehm meinen tollen Hut / Und stürme hinaus aus dem Haus" (aus einem Werk namens "Morgen im Mai").

Wem bei solch schwachsinnigem Schwulst der Hut hochgeht, der tröste sich mit Bertolt Brechts "Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens": "Der Mensch ist gar nicht gut / Drum hau ihn auf den Hut. / Hast du ihm auf den Hut gehaun / Dann wird er vielleicht gut. / Denn für dieses Leben / ist der Mensch nicht gut genug / Darum haut ihm eben / Ruhig auf den Hut!"

Trotz der Verlockung, Hutträger als Hau den Lukas zu malträtieren, wähne ich mich mit Krempe unter engelhaftem Schutz. Ich besitze ein halbes Dutzend Hüte für die kühlen und kalten und noch mehr für die warmen und heißen Tage. Ohne eines dieser Exemplare auf die Straße zu gehen fühlt sich an, wie nackt auf dem Balkon zu stehen. Der Hut verschafft mir nicht nur eine den ganzen Körper durchströmende Wärme. Auf Spaziergängen verleiht er mir auch Flügel, und es kratzt mich nicht, wenn ich unter all den hutlosen Losern von heute wirken muss, als hätte ich einen Propeller auf der Rübe. Weit schmerzhafter ist doch, auf Schritt und Tritt coolen Selbstoptimierten zu begegnen, die sich ein Vogelnest in die Frisur gewurstelt haben, als erwarteten sie Geiers Sturzflug. Kommando Dutt statt Hut.

Unsereiner ist ohne Vorsatz unter den Hut gekommen. Weil sich meine Halbglatze bei sommerlicher Sonne binnen Minuten rot färbt und mich aussehen lässt wie ein Streichholz, setzte ich mir zunächst wie viele Pfeifen eine Baseballkappe auf. Irgendwann aber hatte ich keine Lust mehr, für die New York Yankees Reklame zu laufen. Also suchte ich das sehr alte Stuttgarter Hutgeschäft Louis Lenz in der Alten Poststraße auf, um mir eine würdige Sommermütze zu besorgen. Als ich mich an sie gewöhnt hatte, kaufte ich mir Mützen für die anderen Jahreszeiten – bis mich eines Tages in diesem Laden die Gier überkam, auch einen der Hüte um mich herum zu greifen. In diesem Moment war ich so fiebrig wie seinerzeit, als ich mir im Plattenladen ständig CDs kaufte, bevor ich mir, angefixt vom der Umgebung, Vinyl grapschte. Es brauchte also für den Hut kein Vorbild wie Udo Lindenberg oder Joseph Beuys, dessen politische Fragwürdigkeit mit dem Etikett "Der Mann mit dem Hut" gedeckelt wird, als gebäre schon ein Kopffilz einen Mythos.

Der Hut und die Liebe

Dass der Hut weniger Symbol- als Gebrauchswert besitzt, begriff ich bei den Eingangszeilen von Ross Thomas' Kriminalroman "Der Fall in Singapur" (1969): "Er war wahrscheinlich der einzige Mann, der an diesem Tag Gamaschen trug. Perlgraue, die unten aus der aufgeschlagenen Hose seines Anzugs herausragten, der so dunkel war, dass er fast schwarz schien. Er trug eines weißes Hemd und eine sauber geknüpfte, blassgraue Krawatte, die sich etwas aufblähte, bevor sie unter einer Weste verschwand. Und da war ein Hut, aber das war nur ein Hut."

Verstehst du: nur ein Hut. Über Frank Sinatras Lebensstil gibt es ein Buch von Bill Zehme mit dem Titel "My Way oder die Kunst, einen Hut zu tragen". Da antwortet Sinatra auf die Frage, woran ein Mann erkennt, dass er den passenden Hut trägt: "Wenn niemand lacht."

Und jetzt wird es ernst. In einer Novelle von Christoph Hein, 1982 in der DDR unter dem Titel "Der fremde Freund" und 1983 in der BRD als "Drachenblut" veröffentlicht, erzählt einer diese Geschichte:

"Sie waren in einer Kneipe gewesen, um ein Bier zu trinken. Ein paar Jugendliche spotteten über Henrys Hut. Die beiden ließen sich nicht stören. Dann griff einer der Jungen nach dem Hut, was ihm Henry verwehrte. Es entstand eine Rangelei. Henry bot dem Jungen Prügel an, und sie gingen hinaus. Zuvor gab Henry seinen Hut dem Kollegen. (…)

Henry tänzelte professionell, und die Jungen lachten über ihn. Er machte ein paar Schläge in die Luft, als ob er sich warm machen wollte. Dann schlug der Junge zu. Henry fiel um. Er fiel steif wie ein Stock nach hinten. Der Junge musste etwas wie einen Schlagring benutzt haben."

Henry mit dem Hut war tot.

Noch trauriger ist Erich Kästners Gedicht "Sachliche Romanze": "Als sie einander acht Jahre kannten / (und man darf sagen: sie kannten sich gut), / kam ihre Liebe plötzlich abhanden. / Wie andern Leuten ein Stock oder Hut."

Da ich den Hut aber nicht als Totenkopfzierde zurücklassen will, verabschiede ich mich, meinen Stetson lüftend, mit einem Lied von Helge Schneider: "Du bist sehr schön / Ich liebe Dich und Du liebst mich. / Du streichelst meinen Hut ich finde es gut / Mit dem blauen Hut der blaue Hut / Deine blauen Augen wie ein blauer Hut / Hey Leute mir geht es gut / Hey mir geht es gut / … Ohne Hut geht es nicht mehr / Ohne Hut ..."


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