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Stuttgart, die Nachtmetropole

Herrenwitz am Pissoir

Stuttgart, die Nachtmetropole: Herrenwitz am Pissoir
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Chronik eines Trauerspiels um den Stuttgarter "Nachtbürgermeister" und ein Dorf, das gerne eine coole Großstadt wäre, die in Sachen Kultur und Nachtleben international ganz vorne mitspielt.

Als den StuttgarterInnen vergangenen Donnerstag nach vielen Wochen Funkstille wie aus dem Nichts in einem Facebook-Post des Pop-Büros zwei junge Männer entgegengrinsten, staunten sie nicht schlecht: "Macht euch bereit für die Koordinierungsstelle Nachtleben!" Da war sie wieder: Die große Verwirrung. Hä? Was jetzt? "Nachtbürgermeister"?, "Nachtmanager:in"?, "Koordinationsstelle Nachtleben"?, WTF? Und was macht der zweite Typ, der im großen Verwirrspiel um den zahnlosen Tiger, aka "Night Mayor" bislang überhaupt nirgends in Erscheinung getreten ist? Während sich das Pop-Büro der Wirtschaftsförderung Region Stuttgart trotz brav durchgegenderter Website letztlich zwischen zwei Frauen und einem Mann für den Mann als "Nachtmanager" entschied, besetzte auch die Stadt die Stelle des "verwaltungsinternen Mitarbeiters" in der "Koordinierungsstelle Nachtleben" mit einem Mann. Zwei Männer, die sich um die Belange des Nachtlebens und damit auch um die Sicherheit seiner NachtschwärmerInnen kümmern sollen!

In einer Welt, in der Frauen auf dem Weg nach Hause Angst haben müssen, dass sie verletzt oder getötet werden. In einer Welt, die Projekte wie "Ist Luisa hier?" notwendig macht – ein Code, den Frauen in Clubs, Kneipen und Bars gegenüber geschultem Personal nutzen, wenn sie Hilfe brauchen, weil sie bedrängt oder sexuell belästigt werden. In einer Welt, in der viele Männer nachts von sich aus die Straßenseite wechseln, weil sie Frauen nicht das Gefühl geben möchten, dass von ihnen Gefahr ausgeht. In einer Stadt, die viele Angsträume hat, die gerade in der Nachtkultur noch bedrohlicher sind als tagsüber.

In dieser Welt wäre die "Implementierung" einer Frau in die "Koordinationsstelle Nachtleben" wenigstens noch ein Zeichen gewesen, dass vielleicht ein Funken Awareness in Stadt und Pop-Büro flackert, und man nicht nur zur besseren Selbstvermarktung gendert. Doch das Ergebnis dieser Verwaltungs-Farce ist ein schlechter Herrenwitz am Pissoir. Ein Mittelfinger für Vielfalt in Kultur und Politik, der eine provinziell-patriarchale Struktur einer Stadt vorführt, in der die strukturellen Benachteiligungen von Frauen und ihre Unterrepräsentation in Führungspositionen offenbar kein ernstzunehmendes Problem ist.

Das riecht eher nach Lindners Achselhöhle

Glaubt wirklich noch irgendwer, dass berufliche Qualifikation das alleinige Kriterium für Männer in Führungspositionen in Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik ist und dass die Männer, die jetzt die Stuttgarter Nächte managen tatsächlich "besser qualifiziert" sind für die Stellen als die beiden Frauen? Besser qualifiziert? Für einen Job, den es in Deutschland bislang genau einmal gibt und dessen Qualifikationskriterien sich faktisch an nichts bemessen lassen, außer am Kulturverständnis des Pop-Büros und der städtischen Wirtschaftsförderung?

Schade, dass Kontext keine Facepalm-Emojis in Texten zulässt. Willkommen im Vorstand der Deutschen Bank.

Es ist wirklich mal wieder zu geil, was in Stuttgart rund um das verkorkste Projekt "Nachtmanager" abging. So geil, dass man sich gleich zehn verschiedene Gin-Sorten in einer kultigen Bar in die Rüstung römern möchte, um zu vergessen, wie unwillig diese Stadt ist, ernst zu machen mit zeitgemäßer Kulturpolitik. Dabei hatte alles eigentlich ganz vielversprechend begonnen: Nach viel Gerede unter Szene-Leuten, dass Stuttgart nach internationalem Vorbild wie etwa New York einen "Night Mayor" anstellen wolle, der sich um die Organisation des Nachtlebens kümmert und Nachtkultur nach außen hin repräsentiert, wehte ein elektrisiertes Lüftchen durch die bleierne Motorenstadt. Selbst die größten Bruddler bekamen auf einmal spitze Ohren. Muss ja nicht für immer alles scheiße in Stuttgart bleiben. Theoretisch.

Doch als sich der anfängliche Terminus "Nachtbürgermeister" plötzlich auf seltsame Weise in den neoliberalen "Nachtmanager" verwandelte, ahnten nicht nur die Nachteulen, dass "Nachtmanager" mehr nach Christian Lindners Achselhöhle als nach schwülen Partynächten riecht. Als dann noch bekannt wurde, dass der Manager der Nacht gar nicht bei der Stadt, sondern bei einem Wirtschaftsunternehmen angesiedelt werden sollte, war klar, dass der Traum von einem "Bürgermeister", also einer politischen Institution mit Macht, schneller verpufft ist als Oberbürgmeister Noppers Vorfreude auf den Fassanstich zum diesjährigen Volksfest.

Und jetzt die Boxen in der Dorfdisko auf Vollgas

Analysiert man das städtische Vorhaben "Nachtmanager" nüchtern, stellt man fest, dass Macht für das Stuttgarter Nachtmeierle niemals vorgesehen war. Hätte die Stadt nämlich tatsächlich ein aufrichtiges Interesse daran, Nachtkultur einen höheren Stellenwert zu geben, hätte sie ihren Nachtbürgermeister ganz oben ins Kulturamt gepflanzt. Ganz oifach. Doch wenn sich erst 60 Gemeinderatsmitglieder auf den Impuls eines Interessenverbands der Club- und Barszene hin mit dem Thema beschäftigen müssen, einen Antrag stellen, den über zehn Parteien in endlosen Sitzungen erst ausdiskutieren, bevor er im Ausschuss für Wirtschaft und Wohnen irgendwann beschlossen wird, damit er über ein Jahr später umgesetzt werden kann, dann kommt eben statt eines Nachtbürgermeisters die sogenannte "Koordinierungsstelle Nachtleben" der Stadt Stuttgart raus: Ein Verwaltungs-Frankenstein, bei dem niemand mehr so richtig weiß, wo hinten und vorne ist.

So erzählen die verklausulierten Protokolle und Beschlüsse des Gemeinderats zur "Koordinierungsstelle Nachtleben" die traurige Geschichte der schieren Unmöglichkeit einer klaren Definition dessen, was mal ein Nachtbürgermeister hätte werden sollen.

"NachtbürgermeisterInnen-Modell" hier, "Implementierung der Koordinierungsaufgabe" durch einen "verwaltungsinternen Mitarbeiter" da, die dann mit dem superduper "Person-Environment-Fit" den "Erfolg der Maßnahme" garantieren soll. Und dann geht es plötzlich um eine "Fachkraft beim Pop-Büro", die "die Belange Nachtökonomie, Nachtkultur und Nachtsicherheit" zusammen mit einem zweiten "Mitarbeiter der städtischen Wirtschaftsförderung" verwalten soll. Uff.

Gerne an dieser Stelle den vorigen Absatz nochmal lesen, zur Sicherheit. Denn jetzt dreht die Bürgermeisterin der guten Laune die Boxen in der Dorfdisko auf Vollgas bis die Fontanellen im Dunkeln leuchten: "Fachkraft beim Pop-Büro", hä? "Mitarbeiter der städtischen Wirtschaftsförderung", what? "Person-Environment-Fit"? Was zum Teufel habt ihr für ein Monster erschaffen? Und warum geht es dabei plötzlich um zwei Stellen? Was ist das Pop-Büro? Wer bin ich eigentlich –  und wenn ja, weshalb liegt hier überall Stroh? Ich weiß es auch nicht! Ich weiß nur, dass die Implementierung von Gehirn bei der Implementierung des bürgermeisterlichen Party-Managers in den hyperbürokratischen Filz der Stadtverwaltung keine Rolle gespielt hat.


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8 Kommentare verfügbar

  • Struppi
    am 06.04.2021
    Antworten
    Bei allen Interesse einzelner, habe ich immer häufiger den Eindruck, dass manche Aktivisten demokratische Prozesse als störend empfunden. Natürlich kann nicht jeder sein Interesse ohne andere einzubeziehen und Verwaltungsvorgänge zu ignorieren durchsetzen.

    Das ganze dann auf den vermeintlich…
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