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Die Stuttgart-Depression

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Die ersten zehn Kolumnen für Kontext habe ich hinter mir. Das heißt aber nichts. Der Titel "Auf der Straße" lässt eine gewisse Unendlichkeit befürchten. Als Stofflieferant ist die Straße unerschöpflich wie der Drogenmarkt, vielleicht nicht ganz so gefährlich, aber nicht weniger vergiftet und berauschend.

Da der Erfolg von Medientexten nicht an der Schritt-Menge des Autors, sondern an den Klick-Zahlen des Publikum gemessen wird, wäre es ergiebiger, mich im Ballungsraum vergänglicher Buchstaben mit Lichtgestalten wie Donald Trump, Lisa Eckhart oder Lothar Matthäus zu befassen. Nicht mit Kilometersteinen.

Wenigstens einer aber, denke ich, sollte noch den Straßenköter spielen. Schließlich ist der Asphalt nicht nur ein gutes Pflaster für konsumfreie Unterhaltung. Er bietet auch subversive Schlaglöcher, sobald man den Hurenstrich der Likes-Geilheit verlässt.

Als ich einst mit der Spaziergängerei begann, dachte ich nicht an Flaneure wie Franz Hessel oder Walter Benjamin; ich leide nicht an Größenwahn. Mir war nur aufgefallen, dass in den sogenannten Lokalteilen von Zeitungen die Stadt als Welt so gut wie nicht vorkam. Das war kein Stuttgarter Phänomen. Las ich in Hamburg, Berlin oder Paderborn beim Frühstück im Hotel die Lokalzeitung, wunderte ich mich immer wieder: Warum steht da nichts drin über das Leben in der Stadt, in der ich gerade bin? Die Rathausberichte aus St. Pauli unterscheiden sich ja nicht so sehr von den Polizeiberichten in Paderborn.

Die Herumgeherei fing ich auch an, weil ich nicht wusste, womit man Kolumnen füllen kann, außer mit Kretschmanns Bürstenfrisur-Rhetorik oder Eisenmanns Geistesblitz, mitten in einer Seuche mehr schwäbischen Schofseggl-Dialekt im Schulunterricht zu fordern.

Meine Art Beschäftigung mit der Umgebung wird oft als "Heimatkunde" missverstanden. Mir selbst bereitet die "Heimat" schon einige Zeit Bauchschmerzen, auch weil sie zu oft als nostalgische Folklore bei der lokaljournalistischen Vergangenheitssuche herhalten muss. Höchst selten wird dabei die Frage behandelt, was die Gegenwart mit der Vergangenheit zu tun hat. Und umgekehrt. Warum alte Nazis abgehakt werden, als gäbe es keine neuen. An meiner "Heimat"-Allergie ändert auch nichts der übliche Konter, selbst Kurt Tucholsky, Ernst Bloch und Hannes Wader hätten alles getan, die "Heimat" in ein humanes Umfeld "zurückzuholen". Vergiss es. Die Rechten haben sie vereinnahmt.

Spazierengehen ist paradox: Je tiefer ich in die Stadt hineingehe, desto weiter führt sie mich aus ihr hinaus. Das Zufußgehen ist die beste Möglichkeit, aus seinem Kaff in die Welt abzuschweifen. Die Straße ist ein Spielfeld für Gedankensprünge. Wie ein guter Fußballspieler bei der Ballannahme musst du nur den Blick heben, dann reihen sich auch durcheinandergewürfelte Bilder im Kopf aneinander wie in einem präzise geschnittenen Film.

Stiefle ich im Porsche-Stadtteil Zuffenhausen durch die Edisonstraße, taucht aus dem nächstbesten Abgasrohr der Geist Teslas auf. Ich muss nicht extra zum Tesla-Showroom in den protzigen Breuninger-Bauten gehen, um in den USA zu landen. Ich erinnere mich an Paul Austers Roman "Mond über Manhattan". Da erzählt uns der steinalte Wunderling Thomas Effing: "Als Tesla nach Amerika kam, versuchte er Edison seine Idee zu verkaufen, aber das Arschloch in Menlo Park hat ihn abgewiesen. Glaubte, dann wär‘s mit seiner Glühbirne aus ..."

Um Tesla, lesen wir weiter bei Auster, entstand zeitweise ein Kult, der viele glauben ließ, er sei ein Außerirdischer, zur Erde geschickt mit dem Auftrag, der Menschheit die Geheimnisse der Natur zu lehren und Gottes Wege zu offenbaren. Und wie's der Teufel will, lese ich dann in der FAZ, dass auch der Erfinder der Tesla-Autos wie der Messias auf Brandenburgs göttlich getränkter Investorenerde erwartet wird: Elon Musk, "Visionär" und "Prophet". Der heilige Stuhl ist jetzt elektrisch.

Garantiert habe ich mir beim heimischen Gedankenspringen nach und nach einen Sprung in der Schüssel eingehandelt. Hätte ich aber immer nur mein eigenes Kaff vor Augen, würde ich gerade jetzt, in der Pandemie, alles falsch machen. "Die Gemeinschaft, um die wir uns sorgen müssen, ist nicht die unseres Viertels oder unserer Stadt. Es ist keine Region und auch nicht Italien oder Europa. In Zeiten der Ansteckung ist die Gemeinschaft die Gesamtheit aller menschlichen Lebewesen", schreibt der Physiker und Schriftsteller Paolo Giordano in seinem Büchlein "In Zeiten der Ansteckung". Und er warnt: Angesichts vieler Krankheiten wie Ebola oder Malaria, "die vom Klimawandel profitieren könnten", sei die Welt dabei, "sich vollzuscheißen".

Diesen Geruch in der Nase, flüchte ich mich am helllichten Tag in den einzigen Biergarten der Stadt, über dem noch nie die Sonne aufgegangen ist. Mir gefällt diese von Plastikpflanzen abgeschirmte Oase, wo ich noch nie jemanden habe sitzen sehen – außer mich selbst beim Selfie-Knipsen. Ich rede vom Steinplattengarten der Kneipe Wikinger in der U-Bahn-Station Charlottenplatz, einem chaotischem Bauwerk mit dem Soundtrack rollender Räder, quietschender Bremsen und hoffnungsvoller Versprechen: "Achtung, U 12 nach Dürrlewang fährt ein ..."

In diesem Vorhof der unterirdischen Lüste lasse ich mich auf einem roten Sitzkissen nieder und hole mir als Vollgesichtsmaskierung im benachbarten Kiosk wieder eine FAZ. Diesmal allerdings habe ich verficktes Pech. Meine Lektüre führt mich nicht hinaus aus meinem Kaff, sondern mitten hinein in die Katastrophe: In einer Buchrezension schildert der Kritiker Jan Wiele seine "unheimliche Ahnung, dass Stuttgart der richtige Ort für Depressive ist, oder schlimmer, dass Stuttgart deren Depression begünstigt". Es geht um Michael Wildenhains neuen Roman "Die Erfindung der Null", die Geschichte eines mordverdächtigen, in Stuttgart lebenden Mathematikers.

Nach der Zeitungslektüre verlasse ich zügig mein Epizentrum der Seelenverdunklung und besorge mir "Die Erfindung der Null". Beim ersten Blättern stelle ich fest, dass der Autor im selben afrikanisch-asiatischen Laden an der U-Bahnhaltestelle Bopser eingekauft haben muss wie ich neulich, als ich mir in größter Not frische Guaven holte. Der Geruch von Guaven ist so raumgreifend und betörend, dass er meine Stuttgart-Depression vertreibt. So wahr, wie wir noch um Likes betteln werden, wenn wir die Welt schon vollgeschissen haben.


Joe Bauers Flaneursalon, die Lieder- und Geschichtenshow, gastiert am Sonntag, 18. Oktober, um 19 Uhr im Theaterhaus Stuttgart. Karten hier.

 


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