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Leichen

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Ich bin mir sicher, dass es in Schlossparks genauso spukt wie in Burgen und Schlössern. Also rechne ich mit allem, als ich mich an einem heißen Junitag aufmache, den Schlossgarten zu durchqueren.

Seit den Stuttgarter Krawallen in der Nacht zum 21. Juni 2020 ist es Staatsbürgerpflicht, vor jeder Bemerkung zu den Ausschreitungen den Untertanen-Eid abzulegen, auf keinen Fall "Gewalt" zu "entschuldigen" oder zu "rechtfertigen". Und so erkläre auch ich hiermit, dass ich Randale für gesundheitsgefährdend halte wie Atombomben, Stadtautobahnen oder Schlachthöfe.

Die von einem Lokalblattpoeten nach den Krawallen beschriebene "Blutspur vom Hauptbahnhof bis zur Marienstraße" kann ich nicht finden, weshalb ich unbefleckt zum Eckensee vor die Oper marschiere, hinein in die subkulturelle Sommernachtstraumkulisse, in der junge Menschen aus aller Welt abhängen, teils abgehängt und von der Polizei gegängelt. Politisch wurde dieses Leben im Park ignoriert, obwohl direkt am Schlossgarten das Ministerium für Migration steht. Kaum aber aus dem Dorfschlaf geweckt, verbreiten Google-Front-erfahrene Parteisoldaten die Mehrzweck-Phrase von "bürgerkriegsähnlichen Zuständen". Zu den Waffen! Es ist Wahlkampf.

Auch wenn der Vergleich heftiger hinkt als ein halbstarker Spaziergänger, erinnert mich die Entladung im Kessel an einen längst vergessenen Roman, den 1986 der Stuttgarter Jurist Albert Gerhardt geschrieben hat. Sein Buch "Münchner Freiheit" beginnt mit dem 21. Juni 1962: "Es lag etwas in der Luft." Das folgende Gewitter nannte man später "Schwabinger Krawalle". Ein paar junge Leute hatten im Abendlicht zur Gitarre russische Lieder gesungen, ehe kurz nach zehn die Polizei anrückte, um sie zu verjagen. Die Folge: fünf Nächte Randale. Als man die Rebellen Jahrzehnte danach fragte, wofür sie gekämpft hätten, sagten sie: für ein besseres Leben, für mehr Musik und mehr Liebe.

Musik und Liebe sind lebensgefährlich. Mit dieser Erkenntnis stehe ich wieder mal am Schicksalsbrunnen vor der Oper: Karl Donndorfs Skulptur mit der Schicksalsgöttin, die 1914 zum Gedenken an Anna Sutter aufgestellt wurde. Die berühmte Sopranistin hatte sich auf eine Affäre mit dem Hofkapellmeister Aloys Obrist eingelassen. Da lag etwas in der Luft, ich wollte ihr noch zurufen: "Never fuck your own company!" Zu spät. Kaum hatte sie ihrem Lover aus der Hochkultur mehr Liebe verweigert, erschoss er sie am 29. Juni 1910 mit einer Handfeuerwaffe. Danach brachte er sich operngerecht selbst um. Zur Beisetzung des Mega-Stars auf dem Pragfriedhof kamen mehr als zehntausend Fans.

Die E-Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist berühmt für ihre wilde Event- und Partyszene. Als drei Jahre nach Anna Sutters Abgang Igor Strawinskys Ballett "Le Sacre du Printemps" in Paris Premiere hatte, war das Orchester schon bald wegen der Tumulte im Théâtre des Champs-Élysée nicht mehr zu hören. Im musikalisch leicht verstörten Publikum zählte die Gendarmerie 27 Verletzte. Stuttgart ist trotz allem kein Paris, auch wenn der Dichter Ringelnatz der Stadt einst im Vergleich mit dem "Scheißmünchen" diese Qualität zugestanden hat.

Als ich mich vom Schicksalsbrunnen abwende, bleibt mein Blick am Hotel am Schlossgarten hängen. Verdammte Erinnerung. In dieser Herberge verbrachte eine Kapelle namens The Rolling Stones die Nacht zum 26. September 1970. Zuvor hatten die Musikanten, wie ein Fachmann der StN analysierte, in der "tropisch heißen Halle" auf dem Killesberg mit "einpeitschender und brutaler Rock'n'Roll-Musik" die Menge zum Wogen gebracht wie einen "See im Sturm". Die Opferliste laut Polizei: "8 Verletzte, 1 Rauschgift-Vergifteter, 1 Herzkollaps, 48 Ohnmächtige". Das Ganze wäre vermutlich noch giftiger ausgefallen, hätten sich die schwäbischen Wachtmeister nicht mit der Strahlkraft ihrer Feuerwehrschläuche wie gewohnt um Deeskalation bemüht.

Da es aber immer um mehr Liebe geht, sei erwähnt, dass der oberste Einpeitscher Mick Jagger die Nacht im Hotel am Schlossgarten fürsorglich mit der Münchner Revolten-Ikone Uschi Obermaier verbrachte, um mit ihr anderntags Schloss Neuschwanstein zu besuchen.

Ziemlich genau 40 Jahre später verzichtete die Polizei auf Feuerwehrschläuche und fuhr stattdessen bei einer Demonstration gegen Stuttgart 21 im Schlossgarten zeitgenössische Wasserwerfer auf. Ein bulliger CDU-Landeschef aus Pforzheim hatte die Knüppel- und Pfefferspray-Armee unserer Freunde und Helfer zur blutigen Friedensstiftung in Stellung gebracht. Diese Räumung des Parks schaffte es als einzigartiger Akt deutscher Staats- und Polizeigewalt in die Geschichtsbücher: Am 30. September wird der zehnte Jahrestag des "Schwarzen Donnerstags" begangen. Den staatlichen Kontrollverlust mit vielen Verletzten als Folge von Polizeigewalt für mehr Profit hat man oft genug entschuldigt und rechtfertigt.

Als ich das Baugruben-Chaos im Schlossgarten Richtung Osten verlasse, fällt mir ein, dass diese Gegend immer wieder habhafte Horrorszenen hervorgebracht hat: 2014 fand man dort zwei nackte Leichen in Koffern. Ein 48-jähriger hatte eine Frau und einen Mann aus dem, wie die Presse schrieb, "Obdachlosenmilieu" ermordet, ihre Körper übel zugerichtet und in Koffern beiseitegeschafft.

So läuft das im Leben des Spaziergängers: Leichen pflastern seinen Weg. Meine Stimmung hebt sich, als ich im Schlossgarten bei den Rossbändiger-Statuen aus dem 19. Jahrhundert ankomme. Auch ohne Hinweis erinnert mich dieser Ort an einen Überlebenden des Nazi-Terrors. Der 15 Jahre junge Schriftsetzer-Lehrling Hans Gasparitsch aus Stuttgarts "rotem Osten" pinselte 1933 mit jungen Genossen auf die Sockel der beiden Skulpturen die Parolen "Hitler = Krieg" und "Rot Front". Als er wenig später an den Tatort zurückkehrte, hatte er rote Farbkleckse an seiner Kleidung. Die Polizei war schon da und verhaftete ihn. Nach einer Hausdurchsuchung wurden auch seine Freunde eingekerkert. Obwohl Hans zunächst nur zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde, sperrten ihn die Nazis bis zum Kriegsende ins KZ, zuerst in Welzheim, dann in Dachau. Er überlebte und engagierte sich nach dem Krieg als antifaschistischer Aufklärer. 2002 ist er in Stuttgart gestorben. Heute trägt ein selbstverwaltetes Stadtteilzentrum in Ostheim seinen Namen.

Das waren Anekdoten, die der Park erzählt. Bis heute erinnert er auch an die vielen Rechtfertigungen, warum das brave Bürgertum die Gewalt akzeptierte, als schon 1930 Nazi-Horden im Schlossgarten Theatervorstellungen stürmten und beendeten.


Alle 14 Tage stürzt sich Joe Bauer für Kontext ins Straßenleben. Lustvoll folgt er dabei seinem Mantra als Fußreisender: lieber zu weit gehen als gar nicht.


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