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Regeln brechen

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"Was zählt, ist aufm Platz", hieß es früher. Dort ist der Profifußball inzwischen wieder angekommen – aber trotzdem sind heute andere Dinge im Sport wichtig. Dinge jenseits des Platzes. Etwa klare Signale gegen den Rassismus in unserer Gesellschaft.

Man sollte über Sport schreiben, über Fußball. Sich über seinen Verein aufregen oder zu den Themen Taktik und Transfers den Dr. Allwiss machen. In meinem Fall wohl eher ersteres, denn mein Verein beziehungsweise Club ist der VfB Stuttgart. Und über den rege ich mich mit kurzen Unterbrechungen schon seit über fünf Jahren wöchentlich in Wort und Schrift auf, davor mindestens nochmal so lang nichtöffentlich. Weil er einem das Fanleben durch unterirdische sportliche Leistungen, unsinnige Personalentscheidungen und stillose Winkelzüge hinter den Kulissen schwer macht und das eben schon seit vielen Jahren. Im Grunde ist es seit 2007, seit der letzten Meisterschaft, kontinuierlich den Bach immer weiter runtergegangen, bis heute, wo wir in der zweiten Liga kicken, herumstümpern eher, und die Spiele wegen Corona bis auf weiteres nicht mehr im Stadion miterleben dürfen, was angesichts der gezeigten Leistungen allerdings durchaus zu verschmerzen ist.

Der VfB also derzeit in den hinteren Reihen sitzend, genauso wie der gesamte Profifußball. Findet zwar statt, aber ohne Fans, ohne das gesamte Trallala drumherum auch, reduziert auf das Spiel. Das im Falle anderer Clubs, zum Beispiel zuletzt Borussia Dortmund gegen den FC Bayern München, dem bisweilen "Germanico" genannten Neo-Klassiker des deutschen Fußballs, immer noch sehr schön sein kann, zumal mit deutlich weniger Schwalben jetzt und ohne die gespielte Entrüstung aller Akteure bei jeder Entscheidung des Schiedsrichters. Das aber nicht mehr wie ein schwarzes Loch alle Schlagzeilen an sich zieht und vereinnahmt.

Und während wirklich überhaupt nichts gegen das komplette, Corona-bedingte Ausbleiben des Trallalas drumherum, des ganzen pseudoaufgeregten Theaters um die Herren Kicker mit den Kulturbeuteln am Handgelenk und den großen Kopfhörern zu sagen ist, so verhält sich das mit den Fans, die nicht mehr ins Stadion dürfen, schon etwas anders. Denn man kann es zwar durchaus gut finden, wie die deutsche Bundesliga als erste der großen europäischen Fußball-Ligen den Betrieb mit Geisterspielen wieder aufnahm, wie der deutsche Fußball quasi die Blaupause und Lokomotive macht für alle anderen, die sich ganz genau anschauen konnten, wie das hierzulande läuft mit dem Profifußball. Man kann es meinetwegen auch gut finden, dass die organisierten Fans jetzt etwas weniger häufig ihre Banner und Spruchbänder hochhalten, sich nicht mehr zu allen möglichen Fragen äußern und sich insgesamt nicht mehr so wichtig nehmen können. Dies ist ein freies Land, immerhin, da kann man ja quasi fast alles finden, was man mag. Aber was soll man sagen in Anbetracht der düsteren Prognose, dass auch in der kommenden Saison die Stadien eher leer bleiben werden müssen. Dass höchstens mit Abstand einige Sitzplätze belegt sein werden dürfen, auf den Stehplätzen gähnende Leere weiterhin?

Was soll man sagen dazu, dass die Bundesliga damit ihrer Stadionatmosphäre weiterhin beraubt sein wird, mit Zigtausenden Fans, Choreos, orchestrierten Gesängen – also der "Unique Selling Proposition" des deutschen Fußballs, deretwegen ja angeblich haufenweise Fans aus England und anderswo spieltäglich bei uns einfliegen, der tollen Atmosphäre in unseren Stadien wegen. Und weil zumindest bis zur Corona-Pause Flug, Hotel und Eintrittskarte im Paket bei uns immer noch billiger waren als ein ordentliches Premier League-Ticket.

So schnell sich mancher an die TV-Geisterspiele in steriler Atmosphäre kurzfristig gewöhnt haben mag – auf längere Sicht sollte auch dem rigorosesten Fan-Hasser bewusst sein, dass der Profifußball mit Stadionatmosphäre mehr Spaß macht, mehr Leute in seinen Bann zieht, und dass er ohne die Fans langfristig keine Zukunft hat. Zumindest keine erstrebenswerte. Denn wenn 50.000 im Stadion mitfiebern, dann sind das eben nun mal Emotionen, die, um es mit dem ehemals Fußball spielenden Botnanger Bäckerssohn Jürgen K. zu sagen, wo man nicht beschreiben kann.

Plötzlich füllen andere Themen die Titelseiten

Längst sind wir also weg vom Sport, was zählt, ist nicht mehr auf dem Platz. Auch im Fußball nicht. Da zählt die Zukunft des Profifußballs insgesamt. Und selbst das – zu anderen Zeiten Titelseiten füllend – ist unwichtig geworden angesichts der Tatsache, dass die außersportliche Welt auch jenseits von Corona und Wirtschaft allzu eklatant aus den Fugen gerät. Wo es um Rassismus geht. Wo einzelne Bundesligaspieler Gesten der Solidarität mit dem von US-Cops vor den Augen der Weltöffentlichkeit kaltblütig und fast schon genüsslich ermordeten George Floyd zeigen – und dann diese Gesten zunächst mal von Sport- und sonstigen Medien als "Politische Aktionen" bezeichnet werden, die zu ahnden oder nicht das DFB-Sportgericht zu entscheiden hätte. Als ob "#blacklivesmatter" nicht eine verdammte Selbstverständlichkeit wäre, sondern eine politische Botschaft.

Wobei: Der DFB hat seine Regeln, und in denen steht nun mal, dass die Ausrüstung "keine politischen, religiösen oder persönlichen Slogans, Botschaften oder Bilder aufweisen" darf (DFB Fußball-Regeln, Regel 04, Absatz 05). Ebenso verboten sind alle Slogans, Botschaften oder Bilder mit Bezug auf jegliche lebende oder verstorbene Person. Also Niederknien und "#Icantbreathe" auf dem Unterhemd sind eigentlich genauso unzulässig wie der Doppeladler des schweizerischen Nationalspielers Granit Xhaka, der im Spiel der Fußball-WM 2018 zwischen der Schweiz und Serbien für die Rechte des Kosovo im Konflikt mit Serbien demonstrieren wollte. Und wie alle anderen Gesten und Botschaften, die Spieler ab und an eben so machen. Denn Regeln sind dazu da, eingehalten zu werden.

Auf der anderen Seite fordern wir gerne mal den mündigen Sportler. Und regen uns dann doch wieder über den Spieler Daniel Didavi auf, der auf seinem privaten Instagram-Account verschwörungstheoretisch umherschwurbelt. Ob das der Arbeitgeber, also der VfB Stuttgart, seinem Angestellten nicht einfach verbieten solle, fragen wir uns. Und in der Tat ist es kompliziert, wo soll die Grenze liegen zwischen mündig und verboten?

Ich plädiere da für Toleranz im Rahmen unseres wunderbaren Grundgesetzes, welches dank des hanseatischen Hundertsassas Oliver Wurm übrigens auch im schicken Layout als Magazin gelesen werden kann, nicht nur als unattraktives Gesetzeswerk, kleinstgedruckt, Bleiwüste Hilfsbegriff. Fußball hält sich für systemrelevant, Fußball ist Volkssport, also sollten seine führenden Aktiven auch zu relevanten Themen außerhalb des Fußballs Haltung zeigen dürfen, auf und neben dem Platz. Wir sollten das sogar von ihnen erwarten, und zwar nicht nur von Dreien, sondern eher von Dreißig. Oder Dreihundert. Wahrscheinlich werden dann auch einige in unseren Augen eher idiotische Äußerungen passieren – aber das werden wenige sein, und diese wenigen müssen und werden wir dann aushalten. Und die Regeln des DFB entsprechend modifizieren.

Auf, neben, über dem Platz: Haltung zeigen

Es sollten aber auch die Vereine Haltung zeigen, die Landesverbände, der DFB, die DFL, die berichtenden Medien. Zum Haltung Zeigen gehören dann nicht nur die am Wochenende gezeigten knieenden Teams, sondern auch die Dinge beim Namen zu nennen. Nicht mehr, wie zum Beispiel die ARD Tagesschau vom 3. Juni 2020, davon zu reden, dass George Floyd bei einem Polizeieinsatz "ums Leben gekommen" sei. Sondern klipp und klar zu sagen, dass er ermordet wurde. Auch die in Sachen Menschenwürde durchaus geschätzte Frau Kanzlerin Merkel möge dann bitte nicht mehr sagen, dass es "so etwas wie Rassismus" auch hierzulande gäbe. Sondern das relativierende "so etwas wie" einfach weglassen. Landesweite Erregung im Quadrat dann bitte nicht mehr nur, wenn ein paar Fans Dietmar Hopp schmähen, sondern wenn Rassismus passiert. Es passiert übrigens recht häufig Rassismus. Auch hierzulande. Was macht eigentlich der DFB-Integrationsbeauftragte?

Warum zur Hölle sollte man also in aller Seelenruhe über Sport schreiben, über 3-4-3 und Ballyhoo, ob Mario Gomez noch ein Jahr dranhängen soll oder nicht, ob Jadon Sancho bestraft werden soll, weil er regelwidrig den Frisör kommen lässt, ob der VfB nach dem Offenbarungseid gegen Osnabrück von Amts wegen aufgelöst gehört, oder ist irgendwer in der Lage, mir zu erklären, wie es überhaupt zu so einer Leistung kommen kann?

Hoch müssen wir natürlich trotzdem. Also der VfB Stuttgart. Aufsteigen. Erste Liga, auf jeden Fall. Und dann oben bleiben. Das schaffen wir zwar nur mit einem komplett neuen Kader – aber man wird ja wohl noch hoffen dürfen. Und hoffentlich in der nächsten Saison nicht mehr sonntags schon um 13.30 Uhr saufen müssen. Denn die Kackspiele, die der VfB Stuttgart in der zweiten Liga abliefert, die könnte er genauso auch in der ersten Liga abliefern. Zu zivileren Anstoßzeiten. Gegen bessere Gegner.


Christian Prechtl ist Autor, Kommunikationsberater und Begründer der Aktionsreihe "Ballwall", die sich zuletzt insbesondere Geflüchteten und dem Thema Integration widmete. In seinem Blog "By the way" hat er viele Jahre über Sport und Gesellschaft geschrieben. Seine Tätigkeit als Kolumnist führt er unter dem Titel "Brot und Spiele" in Kontext fort.


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