KONTEXT:Wochenzeitung
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Kreuz und quer

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Bevor ich mich an diesen Text gesetzt habe, lief ich eine Stunde durch den Wald. Mit Spazierengehen hat das wenig zu tun, ist aber notwendig, um im Hirn Stadt und Restnatur zu verbinden. Ähnlich wichtig ist für mich als Herumstiefelknecht im Dienste meiner selbst das Zusammenspiel von Birne und Beinen. Nicht geklärt ist, wer wem sagt, was zu tun ist.

Seit der Seuche bin ich immer öfter in einer mir fremden Welt unterwegs. Ein Berliner Freund weist mich am Telefon etwas euphorisch darauf hin, was in einem heruntergefahrenen, entschleunigten Leben auf einmal alles möglich sei. Er erzählt mir, wie in der Ölkrise der Siebziger die Jungs sonntags auf dem Ku'damm Fußball spielten. In der heutigen Krise kennen wir Fußball als Konfliktstoff. Die Stars leiden nicht nur an verwaisten Stadien. Vollends an den Rand des Zusammenbruchs brachten sie die geschlossenen Autosalons und Tattoo-Studios.

Ich gehe in Breuningers Konsumquarantäne am Louis-Vuitton-Laden vorbei und zähle vor der Tür zwölf Wartende, die laut verordneter Distanzpflicht eine Schlange von 18 Metern bilden müssen. In Zeiten der Kurzarbeit ein beachtlicher Kundenandrang im Kampf um existenzrelevante Taschen und Koffer. Das Ganze wäre mir vielleicht gar nicht aufgefallen, hätten nicht zuvor auf dem benachbarten Karlsplatz ein paar Dutzend Menschen "Wir sind Urlaub" skandiert. In diesem Slogan fehlte nicht etwa, wie im Straßenslang üblich, eine Präposition ("Ich geh Lidl"). Vielmehr signalisierten Schilder mit der Louis-Vuitton-relevanten Aufschrift "Leere Koffer – leere Kassen" den drohenden Untergang der Reisebüros.

In solchen Momenten wünsche ich mir als systemirrelevanter Fußreisender einen Trip, wie ihn der Schriftsteller W. G. Sebald erlebte: "Nicht ein einziger Gedanke war in meinem Kopf", schrieb er in seinem Buch "Die Ringe des Saturn" über einen Spaziergang durch die karge Landschaft der britischen Ostküste. "Mit jedem Schritt wurde die Leere in mir und die Leere um mich herum größer und die Stille tiefer ... Ich wähnte mich unter den Überresten unserer eigenen, in einer zukünftigen Katastrophe zugrunde gegangenen Zivilisation."

Womöglich hat diese Zukunft schon begonnen, denke ich, als ein paar hundert Meter weiter einige Gewerkschafterinnen höhere Löhne im Einzelhandel fordern. Sie erinnern uns daran, dass Frauen und Männer an den Ladenkassen täglich dem Virus ins Auge sehen, ohne in unserer Zivilisation auch nur eine Handvoll Euro für ihre Tapferkeit zu bekommen. Ersatzweise klatschen abends ein paar aus meiner Nachbarschaft bei offenem Fenster in ihre frisch in Unschuld gewaschenen Hände.

Mitten in dieser keineswegs neuen menschlichen Katastrophe unserer neoliberalen Zivilisation machen sich Tage später Tausende auf, um auf dem größten Rummelplatz der Stadt für "Grundrechte" zu demonstrieren. Ihre Aktion nennt sich "Querdenken". Ein lustiges Motto für einen wie mich, der verzweifelt hofft, irgendwo an den Corona-Abgründen auf die Spuren eines Geradeausdenkens zu stoßen – bevor er zwischen lauter Kreuz- und Quergedanken mit dem Kopf gegen die Wand rennt, um vielleicht auf diese Weise Ruhe in einer Sebald'schen Leere zu finden.

Ich fahre hinaus zum Cannstatter Wasen, auf dem in diesem Jahr kein Volksfest stattfinden wird. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Rathaus hat mitgeteilt, die Absage der Dirndl- und Lederhosen-Operette treffe "das Lebensgefühl unserer Stadt". Schlimmer kann es nicht kommen.

In der Stadt herumzugehen bringt Gedanken in Fluss, besonders auf dem Wasen, der am Neckar liegt. An jenem Fluss, der für das Lebensgefühl der Stuttgarter Stadtpolitiker eine geringere Rolle spielt als jede Wasserrutsche auf dem Rummel. Ich lande auf dem Jahrmarkt der "Querdenker", einem Auftrieb von Demo-Touris aus nah und fern, die gegen die Schranken ihres Corona-Lebens aufbegehren.

Was ich alles sehe. Schildchen mit Grüßen an Jesus, Gandhi und Heinrich Himmler. Meditierende Jünglinge in Om-Trance. Männer mit Grundgesetzheftchen (nicht unterm Arm, sondern am Bändel um den Hals). Einschlägig bekannte Nazis, die sich von der wichtigsten heimischen Security-Faust ihres parlamentarischen Arms schützen lassen. Frauen, die mich rügen, weil ich einen Mund- und Nasenschutz trage: das Symbol des Diktaturknechts.

Was ich höre. Aufbrausender Beifall einer großen Menge von Überzeugung-Junkies aus der fanatischen Impfgegnerszene, die in unseren Breitengraden schon lange von rechts infiziert, aber auch grün beflügelt ist. Buhs und Pfiffe gegen eingespielte O-Töne der Kanzlerin: Pegida für Anfänger. Applaus für jede Durchsage der Polizei, die dem Treiben zusieht, obwohl sich auch ohne Zoll- und Schlagstock leicht feststellen lässt, dass die bei der Demo vorgeschriebenen Mindestabstände von asozialen Querschlägern ständig ignoriert werden.

Weil Privateindrücke auf Distanz nicht viel wert sind, verzichte ich auf eine Interpretation meiner Erlebnisse und fasse nur zusammen, was mir mein Lebensgefühl an diesem Ort sagt: Selten war ich beim Anblick einer Menschenmenge so ratlos. Vor allem, wenn es um die Frage geht, was man gegen die Gefahr der Instrumentalisierung eines massenhaften, von allerlei Ängsten und wirren Mutmaßungen befeuerten Aufbegehrens tun kann. Die bisherigen Methoden von links taugen da nur noch bedingt. Es müssen neue Wege der Aufklärung und des Gegendrucks gefunden werden: eine Antwort auf das verquere Wir-sind-das-Volktheater.

Die Birne sagt jetzt den Beinen: Vorwärts, raus aus diesem Gespensterwald. Bei staubigen Gegenwindböen verlasse ich den Wasen. Auf diesem ehemaligen Exerzierplatz haben sich einst, wie die sozialdemokratische Tageszeitung "Vorwärts" berichtete, 60.000 Menschen in "musterhafter Ordnung" versammelt. Das war im August 1907, beim legendären Internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart. Zu den Gästen gehörten auch Clara Zetkin und Rosa Luxemburg, die bei diesem Massenereignis in aufrüttelnden Reden um ein Grundrecht kämpften: das Wahlrecht für Frauen.

Die Bilder des traditionellen Rummelplatzes vor Augen, erinnere ich mich auf dem Heimweg an ein paar Zeilen des großen Künstlers und politischen Aktionisten Christoph Schlingensief, die ich neulich in mein Notizbuch gekritzelt habe: "Ein guter Gedanke ist wie ein Zelt. Er ist zerstörbar, aber er gibt mir Geborgenheit. Ein schlechter Gedanke ist nicht zerstörbar, der steht nur herum, und das nennt man heute Meinungen."

Es scheint, als stünde gerade verdammt viel Unzerstörbares herum.


Alle 14 Tage stürzt sich Joe Bauer für Kontext ins Straßenleben. Lustvoll folgt er dabei einem Mantra als Fußreisender: lieber zu weit gehen als gar nicht.


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